Günter Wallraffs "13 unerwünschte Reportagen"

Im Kontext der 68er und des "Kursbuch 15"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt:

1. Vorwort

2. Der Tod der Literatur
2.1 Der ,Tod der Literatur’ im Krrsbrch 15
2.2 Zwischenfazit

3. Günter Wallraff
3.1 Person und Werk
3.2 Wallraffs Werk in Bezug auf die vier Funktionen der Literatur
3.3 Wallraff und der Diskurs zum Tod der Literatur

4. Die Themen der 68er in 13 rnerwünschte Reportagen
4.1 Studentische Proteste und Notstandsgesetze
4.2 Vergangenheitsbewältigung und Antisemitismus
4.3 Militarismus und Wiederbewaffnung
4.4 Weitere Themen in 13 rnerwünschte Reportagen

5. Journalistischer und Literarischer Stil

6. Politische und gesellschaftliche Relevanz und Wirkung
6.1 Wallraffs Leserschaft
6.2 Wirkung und Beitrag zur politischen Alphabetisierung
6.3 Nachhaltigkeit

7. Fazit

8. Literatur
8.1 Internetquellen

1. Vorwort:

1968 und seine Folgejahre stellen in der Geschichte eine Phase revolutionärer Umbrüche in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft dar.1 In den USA entstand aus der Anti-Vietnam-Bewegung die Hippiekultur als alternative Lebensweise mit Rockmusik, sexueller Befreiung, dem Konsum von Marihuana und dem neu entdeckten LSD2. In Deutschland waren es vor allem die Studenten, die durch Besetzungen von Universitäten und Demonstrationen eine Reform der Staats- und Bildungspolitik forderten. Andere Strömungen wie die Abrüstungsbewegung und die seit 1959 existierende Opposition gegen die Notstandsgesetze trugen zur Gründung der außerparlamentarischen Opposition (APO) als Gegengewicht zur ,Großen Koalition’ bei.3 In Deutschland kam es jedoch nicht zu einer vollständigen Solidarisierung von Studenten und Arbeitern, wie es im Mai 1968 während des Generalstreiks in Frankreich der Fall war. Die Pluralisierung der Gesellschaft durch neue Lebensentwürfe war auch mit der Forderung nach einer Politisierung in vielen Bereichen verbunden, die sich in innovativen Aktionsformen wie einer neuen Flugblattkultur, Sit- und Teach-Ins und dem Agitprop-Theater manifestierte. 1968 kritisierten die Herausgeber der Literaturzeitschrift Krrsbrch jedoch die gesellschaftliche Wirkungs- und Kritiklosigkeit der gegenwärtigen Literatur.

Ziel dieser Arbeit ist es, die Forderungen aus dem Diskurs um den ,Tod der Literatur‘ als Untersuchungskriterien auf Günter Wallraffs Sozial- und Industriereportagen anzuwenden. Dazu werden im ersten Teil die wichtigsten Kritikpunkte und Forderungen aus dem Krrsbrch 15 herausgearbeitet und zusammengefasst. Im Hauptteil der Arbeit wird Wallraffs Auseinandersetzung mit den zentralen Themen der 68er Bewegung analysiert. Danach werden in den Kapiteln 5 und 6 das Gesamtwerk Günter Wallraffs im Hinblick auf seine literarische und journalistische Methode und den Beitrag zur ,politischen Alphabetisierung‘ nach Enzensberger betrachtet. Die Ergebnisse der Analyse werden im Fazit geordnet und zusammengefasst.

2. Der Tod der Literatur

2.1 Der ,Tod der Literatur’ im Kursbuch 15

Hans-Magnus Enzensberger4 war von 1965 bis 1975 Herausgeber der Literatur- und Kulturzeitschrift Krrsbrch. In dem ungefähr vierteljährlich erscheinenden Magazin wurden kritische, linksgerichtete Essays zu dem Themenschwerpunkt der jeweiligen Ausgabe veröffentlicht5. Gegenstand der Ausgabe Nr. 15 war der ,Tod der Literatur‘. Im Band enthalten sind Aufsätze, Gedichte und Essays zum Thema Literatur und Revolution, unter anderen auch von Mao-Tse Tung und Friedrich Christian Delius.

In seinem Vorwort „ Gemeinplätze, bie nereste Literatrr betreffenb “ proklamiert der Herausgeber den ,Tod’ der Literatur: Die Literatur werde als Spektakel konsumiert und habe sich dem „Imperativ des Marktes“6 unterworfen. Laut Enzensberger wurden im Nachkriegsdeutschland „[Der Literatur] Ersatz- und Entlastungsfunktionen aufgeladen, denen sie nicht mehr gewachsen war“7. Sie sollte eintreten „für das, was in der Bundesrepublik nicht vorhanden war, ein genuin politisches Leben“8, was die Literatur zu einem „Alibi im Überbau“9 mache. Er bewertet die gegenwärtige Literatur als machtlos und gesellschaftskritisch irrelevant, als ein Mittel, mit dem die „Opposition [...] sich auf die Feuilletonseiten abdrängen“10 ließe. Die Orientierung an der merkantilen Verwertbarkeit der ,Literaturprodukte’ am ,Markt’ führe in wechselseitiger Wirkung mit dem (anstatt ,Rezipienten‘ hier buchstäblichen) ,Konsumenten’ und der Rolle der Kritiker bei der Literaturbewertung zu einer kommerzialisierten, unkritischen Literatur. Dies begründete er damit, dass die relevante Literatur ausschließlich innerhalb der intellektuellen Kreise kursiere und die Büger, insbesondere die Arbeiter nicht erreiche, da „sie nie bis an den Kiosk gedrungen ist“11. Der „Gesellschaft, in der das politische Analphabetentum Triumphe feiert“12 wirft er mangelnde politische Partizipation vor. Die „Politische Alphabetisierung“13, also die politische Willensbildung sollte hier mit einer „Alphabetisierung der Alphabetisierer“14, der Autoren beginnen und auf einer wechselseitigen Beziehung von Produzenten und Rezipienten basieren. Als positive Beispiele nennt er vor allem Ulrike Meinhofs Reportagen in Konkret und Günter Wallraffs Industriereportagen.15 In einem Gespräch mit dem deutschen Schriftsteller, Herausgeber und Rundfunkredakteur betont er, dass „der ,Tod der Literatur’ selber eine literarische Metapher von ehrwürdigem Alter ist“16, die auch missverstanden worden sei.

Friedrich Christian Delius bezieht auf die Thesen Enzensbergers in seiner Rede Wie scheintot war bie Literatrr wirklich? Krrsbrch 15 rnb seine Folgen im Februar 1999 retrospektiv Stellung. Zuerst spricht er sich gegen die Verallgemeinerungen der 68er aus, die sich in einem zeitlichen Abstand von ca. 30 Jahren im kulturellen Gedächtnis unter dem „Chiffre 68“17 verankert haben. Er hebt den aus den 68ern hervorgegangen Pluralismus an Meinungen, Methoden und Manifestationen hervor, bei dem es auch „zu jeder These [...] eine Gegenthese“18 gab. Schon die „große Pluralität an literarischen Formen und nationalen Färbungen in einem einzigen Heft“19 widerlege die wörtliche Deklarierung des Todes der Literatur. Unter diesem Gesichtspunkt versteht er die Intentionen der Autoren Karl Markus Michel, Walter Boehlich und Hans Markus Enzensberger in ihrer appellativen Funktion. Boehlichs Aufsatz deutet er als Forderung nach „[einer] Kritik, [...] die endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische als eine beiläufige versteht.“20 In Enzensbergers Gemeinplätzen sieht er die Aufforderung zur politischen Alphabetisierung der Gesellschaft durch eine wechselseitige Beziehung von Autor und Rezipient.

2.2 Zwischenfazit:

Aus dem Diskurs über den Tod der Literatur 1968 ergibt sich also die Forderung nach einer kritischen Literatur, deren Autor engagiert zu politischen und gesellschaftlichen Themen Stellung bezieht und deren formale, thematische und inhaltliche Ausrichtung an weite Kreise der Gesellschaft gerichtet ist. Vor der sprachlich-ästhetischen Gestaltung liegt ihr Schwerpunkt in der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Inhalte und ihrem Beitrag zur politischen Willensbildung der Bevölkerung.

3. Günter Wallraff

Im Hauptteil der Arbeit wird anhand dieser Thesen und Forderungen das Werk von Günter Wallraff untersucht. Neben seiner frühen Arbeit im Kontext der 68er werden sowohl seine journalistische und literarische Methodik und Stilistik als auch die politische und gesellschaftliche Relevanz und ,Nachhaltigkeit’ im Hinblick auf die Forderungen im Krrsbrch 15 analysiert.

3.1 Person und Werk

Hans-Günter Wallraff21 schrieb bereits zu Gymnasialzeiten während der Ära Adenauer Gedichte. Schon damals nannte er den ,Eulenspiegel’ als sein Vorbild. Da sein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkannt wurde, leistete er gegen seinen Willen seinen Grundwehrdienst. Als überzeugter Pazifist verweigerte er den Dienst an der Waffe und wurde nach zahllosen Disziplinarverfahren aufgrund „abnorme[r] Persönlichkeit [als] verwendungs- unfähig auf Dauer für Frieden und Krieg“22 erklärt. Als Heinrich Böll, mit dessen Neffen Gilbert er befreundet war, ihn zur Veröffentlichung seiner Tagebücher aus seiner Zeit bei der Bundeswehr ermutigte, begann seine Tätigkeit als Journalist und Schriftsteller. 1963-65 war er als Arbeiter in der Industrie bei verschiedenen Großkonzernen, unter anderen bei Siemens und in der Sinteranlage eines Stahlwerks von Thyssen tätig. Seine Erfahrungen als Arbeiter der niedrigsten Lohnklasse veröffentlichte er erstmals 1965 in der Gewerkschaftszeitung Metall und 1966 in Inbrstriereportagen. 1965 schloss er sich der Dortmunder Gruppe 61, einem literarischen Arbeitskreis für künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt, an und arbeitete als Journalist bei der Hamburger Morgenpost, dem Satiremagazin parbon und konkret.23 1969 erschienen mit 13 rnerwünschte Reportagen die Ergebnisse Wallraffs – erstmals auch verdeckten – Recherchen zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen wie dem Vietnam-Krieg, den Notstandsgesetzen und der Vergangenheitsbewältigung im Nachkriegs- deutschland, die zum Teil auch Bestandteil der Kritik der 68er Bewegung waren.

Wallraff engagierte sich nicht nur als Autor und Journalist, sondern machte auch durch direkte Aktionen auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam. So kettete er sich am 10. Mai 1974 auf dem Platz der Freiheit in Athen an einen Laternenmast und verteilte Flugblätter, um gegen die Diktatur der griechischen Militärjunta zu demonstrieren. Daraufhin wurde er von Geheimpolizisten verhaftet und gefoltert.24 Des Weiteren deckte er getarnt als deutscher Waffenhändler sowohl die Putschpläne des portugiesischen Generals Spinola als auch direkte Verbindungen zum damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß auf. 1977 arbeitete Wallraff unter dem Decknamen Hans Esser bei der BILD in Hannover. In Der Arfmacher – Der Mann, ber bei ber ,Bilb' Hans Esser war25 schildert er die schweren journalistischen Fehler und Verfälschungen, die er während seiner Tätigkeit als Redakteur erlebt hatte.

Auch heute widmet Wallraff sich in seinen Reportagen den Problemen der modernen Arbeitswelt. So verkaufte er 2007 als Telefonist beim Callcenter CallOn Systemlottoscheine26 und recherchierte 2008 verdeckt bei einer Bäckerei, die unter unmenschlichen Arbeits- und Hygienebedingungen Aufbackbrötchen für den Discounter Lidl produziert. Wallraff veröffentlicht seine Werke seit 1969 beim Verlag Kiepenheuer & Witsch.27

3.2 Wallraffs Werk in Bezug auf die vier Funktionen der Literatur

Durch ihre non-fiktiven Inhalte sind Wallraffs Reportagen dem „expositorischen Text“28 zuzuordnen. Die Schilderung seiner Erfahrungen während der Recherche aus der Perspektive von deutschen und ausländischen Arbeitern in der Sozial- und Arbeitswelt erfüllen die expressive Funktion von Literatur. Das Hauptaugenmerk seiner Arbeit liegt aber definitiv in der appellativen Funktion der Literatur, die darin liegt, „dass ein Autor engagiert Stellung bezieht zu politischen oder moralischen Fragen und versucht, auf möglichst suggestive Weise dem Leser seine Argumentation nahe zu legen, um damit die größtmöglichste Wirkrng zu entfalten.“29

In seiner Rolle als Enthüllungsjournalist weist Günter Wallraff auf soziale Missstände hin. Da er in seinen Reportagen seine persönlichen Eindrücke im konkreten Einzelfall schildert, sie jedoch nicht mit impliziten Forderungen verknüpft, ermöglicht er es dem Leser, diese Missstände aus der Sicht eines Betroffenen nachzuvollziehen und suggeriert ihm, sich eine eigene Meinung zur jeweiligen Lage zu bilden. Dies geschieht im Sinne der ,politischen Alphabetisierung’ Enzensbergers. Auf der ästhetischen Ebene wirken vor allem die journalistische Methode und die immer neuen Rollenspiele, in denen Wallraff sich nicht nur neue Identitäten konstruiert, sondern diese auch mit höchster Konsequenz und Selbstaufgabe seines eigenen ,Ichs’ während seiner Recherche ,lebt’.

[...]


1 In dem Katalog zur Ausstellung Die 68er. Krr zer Sommer – lange Wirkrng werden die Zusammenhänge und Auswirkungen der 68er anhand einer ausführlichen Sammlung von Originaldokumenten aus dieser Zeit veranschaulicht. Vgl. Gerchow. 2008.

2 Vgl. Gilcher-Holtey. 2008. S. 4.

3 Vgl. Ebd. S. 5.

4 Der deutsche Schriftsteller und Herausgeber H.M. Enzensberger (geb. 1929) ist Träger des deutschen Kritikerpreises (1962 und 1978) und des Georg-Büchner-Preises (1963). Vgl. Suhrkamp Verlag im Internet: Portrait Hans Magnus Enzensberger URL: http://www.suhrkamp.de/autoren/autor.cfm?id=1134 (Stand: 22.09.2008) Für eine ausführliche Darstellung seines Lebens und seiner Werke vgl. Lau. 1999.

5 1968 wurden gesellschaftliche Themen in konkretem Zeitbezug behandelt. Zum Beispiel „Der nicht erklärte Notstand“ (Nr. 11) zu den geplanten Notstandsgesetzen, „Avantgarde der Studenten im internationalen Klassenkampf“ (Nr. 13) und „Kritik der Zukunft“ (Nr. 14).

6 Enzensberger. 1968. S. 188.

7 Ebd. S. 190.

8 Ebd. S. 190.

9 Ebd. S. 189.

10 Ebd. S. 190.

11 Enzensberger. 1968. S. 188.

12 Ebd. S. 196.

13 Ebd. S. 197.

14 Enzensberger. 1968. S. 197.

15 Vgl. Enzensberger. 1968. S. 196.

16 Andersch. 1979. S. 92.

17 Delius. 1999.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Vgl. Delius. 1999.

21 Die Mutter von Hans- Günter Wallraff (geb. am 1. Oktober 1942) stammt aus einer reichen französischen Familie, sein Vater arbeitete in einem Werk bei Ford am Fließband. Er verließ das Gymnasium ohne Abitur und schloss 1962 eine Ausbildung zum Buchhändler ab. 1968 erhielt er für Inbrstriereportagen den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfahlen, 1984 wurde er von der internationalen Liga für Menschenrechte mit der Carl-von-Ossietzky-Medallie ausgezeichnet. In Frankreich erhielt Wallraff 1985 den Literaturpreis für Menschenrechte und 1987 den französischen Medienpreis für den Film zu Ganz Unten. Heute lebt und arbeitet er in Köln. Vgl. Braun. 2007. S. 11-54.

22 Wallraff. 2002a. S. 24.

23 Vgl. Braun. 2007. S. 23.

24 Vgl. Wallraff. 2002a. S. 137-153.

25 Vgl. Wallraff. 2002a. S. 185-192.

26 Vgl. Wallraff. 2007. S. 17-21.

27 Neben kritischen Sachromanen erscheinen literarische Werke von bekannten und jungen Autoren im Programm des Kölner Verlags. Vgl. Kiepenheuer & Witsch im Internet: www.kiwi- verlag.de.

28 Jeßing/Köhnen. 2003. S. 3.

29 Ebd. S. 3.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Günter Wallraffs "13 unerwünschte Reportagen"
Untertitel
Im Kontext der 68er und des "Kursbuch 15"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Neuere Deutsche Literatur)
Veranstaltung
1968 und die Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
26
Katalognummer
V139310
ISBN (eBook)
9783640491223
ISBN (Buch)
9783640491469
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Günter, Wallraffs, Reportagen, Kontext, Kursbuch
Arbeit zitieren
Marcel Neumann (Autor:in), 2008, Günter Wallraffs "13 unerwünschte Reportagen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139310

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