Italien und der europäische Verfassungsprozess


Magisterarbeit, 2006

79 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

A) Einleitung: Fragestellung und Vorgehensweise

B) Italien und der europäische Verfassungsprozess
1. Europäische Verfassung als Prozess
1.1. Auf der Suche nach dem europäischen Verfassungsprozess
1.2. Die Verfassung in den Nationalstaaten
1.2.1. Theoretische Grundlagen
1.2.2. Konstitutionalismus und Konstitutionalisierung
1.3. Eine Verfassung für Europa
1.3.1. Gibt es bereits Elemente einer europäischen Verfassung?
1.3.2. Braucht die Europäische Union eine Verfassung?
1.3.3. Das Fehlen eines europäischen „demos“
1.4. Zwischenfazit
2. Italien in der Europäischen Union
2.1. Die Entscheidung für Europa
2.2. Merkmale italienischer Europapolitik seit dem II. Weltkrieg
2.3. Die problematischen neunziger Jahre
2.4. Die Europapolitik der Regierung Berlusconi
2.5. Zwischenfazit
3. Die Arbeit des Konvents aus italienischer Sicht
3.1. Das Mandat des Konvents
3.2. Die italienischen Konventsmitglieder
3.3. Die Konventsmethode
3.4. Zwischenfazit
4. Die einzelnen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs aus italienischer Sicht
4.1. Präambel, Definition und Ziele der Union
4.1.1. Die Präambel
4.1.2. Definition und Werte der Union
4.1.3. Die Ziele der Union
4.2. Die Beziehungen zwischen den Bürgern und der Union
4.2.1. Die Eingliederung der Charta der Grundrechte in die Verfassung
4.2.2. Die Unionsbürgerschaft
4.2.3. Das demokratische Leben der Union
4.3. Die Zuständigkeiten der Union
4.3.1. Allgemeine Bemerkungen
4.3.2. Die Neuregelung der Zuständigkeiten durch die Verfassung
4.3.3. Exkurs 1: Ein Vergleich mit dem Projekt Penelope von Romano Prodi
4.4. Die Neuordnung der Organe
4.4.1. Die Positionen der italienischen Konventsmitglieder
4.4.2. Die Neuordnung der Organe im Verfassungsentwurf
4.4.3. Exkurs 2: Die Institutionen im Projekt Penelope 50
4.5. Auswärtiges Handeln der Union
4.5.1. Die Bestimmung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik
4.5.2. Die Neuerungen im Verfassungsentwurf
4.5.3. Die Union und ihre Nachbarn
4.6. Zwischenfazit
5. Die Unterzeichnung des Verfassungsvertrags und der Ratifikationsprozess in Italien
5.1. Das Semester der italienischen Ratspräsidentschaft
5.1.1. Die Anti-Prodi-Kampagne
5.1.2. Die diplomatische Krise
5.1.3. Die Regierungskonferenz
5.2. Die Unterzeichnung des Verfassungsvertrags
5.3. Die Ratifikation in Italien
5.3.1. Ein europaweites Referendum?
5.3.2. Parlamentarische oder direktdemokratische Ratifikation?
5.3.3. Einfaches Gesetz oder Gesetz mit Verfassungsrang?
5.4. Zwischenfazit

C) Ergebnisse

D) Bibliographie

E) Abkürzungsverzeichnis

A) Einleitung: Fragestellung und Vorgehensweise

„Hinsichtlich der Europapolitik Italiens scheint mir, dass es eine Kontinuität der pro- europäischen Richtung gibt, die in großem Maße von den parlamentarischen Kräften geteilt wird, und zwar in der vergangenen wie in der jetzigen Legislaturperiode. Nicht zufällig war die italienische Position beim Europäischen Rat in Laeken in sich schlüssig und lag auf derselben Linie, auf der sich der italienische Europäismus schon immer befunden hat. Um diese italienische Position kümmere ich mich übrigens persönlich und stehe diesbezüglich in ständigem Kontakt mit der Regierung“1. Dieses schöne Zitat stammt aus der Rede des italienischen Staatspräsidenten, Carlo Azeglio Ciampi, anlässlich eines Treffens mit dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau im deutsch-italienischen Zentrum Villa Vigoni im April 2002. Ciampis persönlicher Einsatz legt die Vermutung nahe, dass sich die traditionelle proeuropäische Haltung der italienischen Regierungen gewandelt hat. Er lässt unterschwellig darauf schließen, dass der Europäismus der politischen Kräfte schwächer geworden ist.

In meiner Arbeit möchte ich herausfinden, ob dies einen Einfluss auf Italiens Position bei dem Verfassungsprozess der Europäischen Union hatte. Diese Arbeit soll einen Beitrag zur Erschließung neuer Aspekte hinsichtlich des Verfassungsprozesses leisten. Dazu schildere ich thesenartig Italiens Rolle bei dem Integrationsprozess der EU (Teil 2), um dann Vergleiche mit der Europapolitik der aktuellen Regierung machen zu können. Bei der Beurteilung der Arbeit des Konvents (Teil 3) wird die Rol]le der italienischen Konventsmitglieder berücksichtigt. Die Bewertung des Verfassungsentwurfs (Teil 4) spiegelt die Diskussion in der italienischen Politikwissenschaft wieder. Dabei werden einige zentrale Punkte (Präambel, Charta, Organe, etc.) heraus gegriffen. Die Darstellung des italienischen Semesters und der Ratifikation der Verfassung (Teil 5) soll die Dialektik zwischen Integrationspolitik und neuem Euroskeptizismus endgültig verdeutlichen. Im Mittelpunkt steht hier die Debatte über die Möglichkeit, ein Verfassungsreferendum abzuhalten. Beginnen möchte ich jedoch mit einigen theoretischen Grundlagen, um zu analysieren, inwiefern man überhaupt von einer europäischen Verfassung sprechen kann.

Meiner Arbeit liegt hauptsächlich die wissenschaftliche Literatur aus Italien der letzten Jahre zu Grunde. Zu Wort kommen aber auch italienische Konventsmitglieder und führende italienische Politiker. In Italien wird viel über Europa geschrieben, wobei die Qualität der meist umfangreichen Werke oft zu Wünschen übrig lässt. Besonders die Monographien über den Konvent und dessen Verfassungsentwurf sind meistens rein deskriptiv, ohne eine tiefere Analyse oder eine Bewertung vorzunehmen.2 In dem Teil über die italienische Ratspräsidentschaft und den Ratifikationsprozess habe ich auch zahlreiche Zeitungsartikel und Literatur aus dem Internet ausgewertet.

B) Italien und der europäische Verfassungsprozess

1. Europäische Verfassung als Prozess

1.1. Auf der Suche nach dem Europäischen Verfassungsprozess

Die Idee einer europäischen Verfassung ist keineswegs neu. Nach der grundsätzlichen Entscheidung für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1952 drängte Italien darauf, dem Europäischen Heer ein politisches Abstimmungs- und Kontrollorgan überzuordnen. Auf Grund dessen beauftragten die Außenminister die Beratende Versammlung der Montanunion, eine Satzung für eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) auszuarbeiten. Die Beratende Versammlung konstituierte sich als Ad-hoc-Versammlung der EVG und konzipierte die EPG als Mischform zwischen Staatenbund und Bundesstaat. Als Institutionen waren ein Zweikammern-Parlament, ein Exekutivrat, ein intergouvernementaler Ministerrat, ein Gerichtshof und ein Wirtschafts- und Sozialrat vorgesehen.3

Weitere wichtige Stationen auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung waren die beiden Vorschläge aus dem institutionellen Ausschuss des Europäischen Parlaments von 1984 (Spinelli-Entwurf) und 1994 (Hermann-Entwurf). Diese Verfassungsinitiativen kamen nicht beliebig auf, sondern waren entweder bedingt durch eine Krisensituation der Gemeinschaft oder eine neue Phase der europäischen Integration. So war der Spinelli-Entwuf eine Reaktion auf die sogenannte Eurosklerose der 70er Jahre und der Herman-Entwurf eine Antwort auf die 1995 bevorstehende Erweiterung und den Maastrichter Vertrag.4

In jüngster Zeit kam es jedoch zu einer Beschleunigung der Ereignisse: Im Mai 2000 hielt der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer an der Berliner Humboldt- Universität einen Vortrag über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Union, mit dem er die Diskussion um den europäischen Verfassungsprozess neu entfachte.5 „Una proposta globale a carattere federale come quella presentata da Fischer non poteva che essere elaborata da un esponente politico tedesco“6. Bereits im Juni 1999 hatte der Europäische Rat in Köln einen Konvent einberufen, der eine Charta der Grundrechte der Union ausarbeiten sollte. Im darauffolgenden Jahr wurde diese von der Regierungskonferenz in Nizza feierlich proklamiert. Die beschlossene Erweiterung der Union und die Charta hatten der Debatte um eine Verfassung Nahrung gegeben; für manche bildete die Charta gar den Kern einer derartigen Verfassung. Bald darauf sprachen sich mehrere Staatsoberhäupter und Regierungschefs für die Annahme eines europäischen Verfassungstextes aus.7 Mit der Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union im Jahr 2001, die sich auf die Erklärung von Nizza bezog, trat der europäische Verfassungsprozess in eine neue Phase ein. Der Europäische Rat von Laeken setzte einen Konvent ein, der die „Kernbestandteile“ einer Verfassung für die Union ausarbeiten sollte.8 Mittlerweile beendeten der Konvent und die Regierungskonferenz ihre Arbeit und übergaben den Verfassungsentwurf den Regierungen zur Ratifikation, weshalb nun allgemein von einem wahren Europäischen Verfassungsprozess die Rede ist. Aufgrund dessen stellen sich heute neue Fragen, vor allem technischer Art. Insbesondere fragt man sich, ob die Strecke zwischen einem Vertrag und einer Verfassung zurückgelegt werden konnte.9

Zu Beginn müssen jedoch einige grundsätzliche Dinge geklärt werden. Dabei gab es zwei sich gegenüberstehende Standpunkte. Unterstützer der Europäischen Union betrachteten die Verfassung als einen Weg, das europäische Experiment zu legitimieren.

Kritiker sahen in der Diskussion um die Konstitutionalisierung einen weiteren Beweis für ihre Befürchtung, dass ein europäischer Superstaat geschaffen werden sollte.

1.2. Die Verfassung in den Nationalstaaten

1.2.1. Theoretische Grundlagen

Was sind Verfassungen und welche Funktionen erfüllen sie in den Nationalstaaten? Man kann zwei Bedeutungen des Verfassungsbegriffs unterscheiden. In einem engeren Sinn bezieht sich der Begriff nur auf das Recht der wichtigsten Regeln und Regierungsorgane, ihre Struktur und ihre Kompetenzen aufzustellen. Dies ist aber eine schwache Definition, da jedes Rechtssystem solche Regeln besitzt.10 Eine weitere Auslegung des Verfassungsbegriffs scheint deshalb vonnöten zu sein. In diesem Zusammenhang sind sieben Merkmale von Bedeutung. Das erste Charakteristikum ist die etwas tautologische Feststellung, die wir bereits kennen, dass die Verfassung konstitutiv sein muss im Sinne der Definition der wichtigsten Institutionen und ihrer Zuständigkeiten. In föderal organisierten Nationalstaaten betreffen diese Bestimmungen auch die Zuständigkeiten der Bundesregierung und der regionalen Regierungen. Das zweite Element ist die notwendige Stabilität einer Verfassung. Sie muss selbstverständlich geändert werden können, jedoch als fester Bezugsrahmen für die politischen und rechtlichen Institutionen des Landes dienen. Drittens sind Verfassungen normalerweise in einem Dokument oder in einer kleinen Serie von schriftlichen Dokumenten enthalten. Das vierte Attribut einer Verfassung ist, dass sie ein übergeordnetes Recht darstellt, so dass einfaches Recht, das mit der Verfassung in Konflikt kommt, gesetzwidrig ist und nicht angewandt werden kann. Fünftens müssen rechtliche Verfahren vorgesehen sein, mit denen die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Verfassung überprüft werden kann. Die sechste Eigenschaft von Verfassungen ist, dass sie geschützt sind: Eine Verfassung kann nur durch spezielle Verfahren geändert werden, die sich von der normalen Gesetzgebung unterscheiden. Auch wenn die Art dieser Norm in den verschiedenen Rechtsordnungen variiert, steht eine Frage, die die Verfassung betrifft, immer über der alltäglichen politischen Agenda. (Dass dies jedoch nicht immer der Fall ist, zeigen die Ereignisse in Deutschland vom Sommer 2005.) Die Normen, die in einer Verfassung enthalten sind, sollten nicht der Laune der herrschenden Parteien unterworfen sein. Dies bedeutet nicht, dass die Verfassungsnormen nicht modifiziert werden können, sondern dass sie nicht durch einfache Gesetzgebung geändert werden können. Schließlich drücken Verfassungen eine gemeinsame Gesinnung aus. Sie enthalten Bestimmungen über Demokratie, Föderalismus, Bürgerrechte, etc., die den allgemeinen Glauben der Bevölkerung wiedergeben über die Art und Weise, wie die eigene Gesellschaft regiert werden soll.11 Die einzelnen Verfassungen können diese Merkmale in verschiedenem Maß enthalten; manche sind sehr detailliert, andere beschränken sich auf relativ abstrakte Bestimmungen. Daraus folgt, dass nicht alle Verfassungen notwendigerweise alle Merkmale enthalten, zumal einige Merkmale (sind) auch normativ anfechtbar sind.

1.2.2. Konstitutionalismus und Konstitutionalisierung

Der Begriff Konstitutionalismus wird im Zusammenhang mit den philosophischen Fragen, die um eine Verfassung herum entstehen, verwendet. Wird er in diesem Kontext gebraucht, kann er beispielsweise folgende Fragen betreffen: Wann ist eine Verfassung legitim? Warum ist sie mit Machtbefugnis ausgestattet und wie sollte sie interpretiert werden? Ein ähnlicher Gebrauch schließt die tiefere Vernunft der spezifischen Verfassungsnormen mit ein. Manche Autoren benutzen die Termini ethos und telos um einzelne Normen in einer Verfassung zu rechtfertigen.12

In einer zweiten Bedeutung hat der Begriff Konstitutionalismus eher deskriptiven Charakter, z.B. wenn man bestimmen will, in welchem Maß ein bestimmtes Rechtssystem die oben beschriebenen Merkmale erfüllt. Aus dieser Sicht drückt Konstitutionalisierung den Prozess aus, der darauf gerichtet ist, diese Eigenschaften zu erreichen. Eine dritte Bedeutung vonKonstitutionalismus wird verwendet, um den Wandel der in vielen rechtlichen Ordnungen nach 1945 stattgefunden hat, zu beschreiben. Hier enthält der Begriff folgende Merkmale eines politischen Systems: die staatlichen Institutionen werden eingesetzt und ihre Autorität leitet sich aus einer geschriebenen Verfassung ab; die Verfassung verleiht dem Volk mittels Wahlen die letzte Entscheidungsmacht; die Machtausübung ist nur legitim, wenn sie der Verfassung getreu ist und wird durch ein spezielles Verfassungsgericht überwacht.

Ein vierter Gebrauch von Konstitutionalismus ist im Bereich des öffentlichen Rechts geläufig. Hierunter wird eher das Maß verstanden, in dem eine Rechtsordnung die angestrebten Gebote erfüllt, die über die einer Verfassung hinausgehen. Im weiteren Sinn beinhalten diese Gebote die Verantwortung für getroffene Maßnahmen, eine gute Verwaltung und den Schutz der Menschenrechte (= good government). Der Terminus Konstitutionalisierung kann außerdem den Umfang beschreiben, in dem eine allgemein für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat angewandte Verfassungsnorm auf das Verhältnis zwischen zwei privaten Rechtsträgern angewandt werden muss. Beispiele hierfür für sind die Konstitutionalisierung des Privatrechts und die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention.13

Aus der Sicht des modernen Konstitutionalismus sind die zwei entscheidenden Voraussetzungen einer Verfassung eine verfassungsgebende Gewalt und ein Volk, das diese Gewalt inne hat.14 Die verfassungsgebende Gewalt ist der ursprünglichste, höchste und unwiederholbare Ausdruck der Souveränität und führt zu einer neuen politischen Ordnung, dem Staat. Verfassung und Staat bedingen sich gegenseitig - die Existenz des einen bringt die des anderen mit sich. Diese Beziehung wird treffend von der negativen Aussage „keine Verfassung ohne Staat“ ausgedrückt. Das Fehlen des Staats würde die Daseinsberechtigung der Verfassung selbst aufheben.15

Die Begriffe Konstitutionalismus und Konstitutionalisierung haben aber auch einen bestimmten Bedeutungsumfang im Gemeinschaftsrecht. Sie beziehen sich auf den Wandel der Gemeinschaft von einer internationalen Rechtsordnung zu einer konstitutionellen. Die rechtlichen Konsequenzen dieses Übergangs werden von vielen kritisiert.16

1.3. Eine Verfassung für Europa

1.3.1. Gibt es bereits Elemente einer europäischen Verfassung?

Nach der Transformationsthese hat sich die Gemeinschaft von einer rechtlichen Beziehung zwischen Staaten zu einem vollständigen Rechtssystem gewandelt, das Rechte und Pflichten auf private Rechtsinhaber überträgt und in dem die Kontrollen der Ausübung der öffentlichen Gewalt denen der Nationalstaaten entsprechen. Dieses Rechtssystem basiert auf den bestehenden Verträgen der EG/EU und auf der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs.17

Die aktuellen Verträge beinhalten einige Verfassungsmerkmale, wie sie im Vorangegangenen dargestellt wurden. Es handelt sich dabei um Verfassungsbestimmungen im engeren Sinn des Begriffs. In den Verträgen sind die Aufgaben der entsprechenden Institutionen und die Art der Ausführung der Gesetzgebung formuliert. Die Verträge haben auch Charakteristika von Verfassungen im weiteren Sinn. Der Europäische Gerichthof (EuGH) beispielsweise hat die Aufgabe die Verletzung der Verträge seitens der Mitgliedsstaaten zu verurteilen, was die europäischen Verträge von anderen internationalen Verträgen abhebt. Die Verträge beinhalten auch Bestimmungen, die sich in vielen nationalen Verfassungen wiederfinden lassen, wie z.B. die (Unions)bürgerschaft.

Es war jedoch die Rechtssprechung des EuGH, die am meisten dazu beitrug, von der EU als einer verfassungsrechtlichen Ordnung zu sprechen. Die Rechtslehre des EuGH der so genannten Suprematie, pre-emption und Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts trug wesentlich zu diesem Wandel bei. Es gab eine Art Kreislauf in der Argumentation des Gerichts: Zwar wurden die Direktwirkung und die Suprematie vom EuGH ursprünglich festgelegt, weil die Verträge der Gemeinschaft sich von anderen völkerrechtlichen Verträgen unterschieden. Heute wird das Gemeinschaftsrecht oft als unterschiedlich dargestellt, weil es über diese Eigenschaften verfügt. Dies waren jedoch nicht die einzig relevanten Faktoren. Die Interpretation des Artikels 177 VEU hatte einen starken Effekt auf die Beziehung zwischen Gerichtshof und nationalen Richtern, die dadurch zu Richtern der Gemeinschaft wurden: „Wird eine (...) Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen“18. Ferner war es auch der Gerichtshof, der die Prinzipien der guten Regierung in den Verträgen identifizierte und die Rechtssprechung über die Grundrechte entwickelte.19

Die Transformationsthese drückt sich v.a. auch in der Begrifflichkeit aus, die der EuGH verwendet. Im van Gend -Urteil stellte das Gericht fest, dass die „EWG eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar[stellt], zu deren Gunsten die Staaten, (...) ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben“20. In darauffolgenden Urteilen modifizierte das Gericht seine Sprache leicht.21 Die Terminologie änderte sich dann erst wieder im berühmten Urteil Les Verts, in dem der EuGH den EWG-Vertrag als „Verfassungsurkunde“ der Gemeinschaft bezeichnete.22.

Die Debatte um diese Frage ist sehr komplex. Kritiker merken an, es gebe keinen Grund anzunehmen, dass die Verfasser der Verträge der Gemeinschaft beabsichtigten, eine neue Rechtsordnung zu schaffen - auch wenn diese Verträge der neue Besonderheiten hervorbringen.23 So kritisiert Pace, dass dies ein rein deskriptives Verständnis von Verfassungen wiedergäbe.24

1.3.2. Braucht die Europäische Union eine Verfassung?

Wir haben gesehen, dass die EU einige Charakteristika einer Verfassung aufweist. Sie verfügt jedoch nicht über ein einheitliches Dokument, das diese Bestimmungen enthält und sie von den vielen anderen Normen der Verträge unterscheidet. Aus Sicht der Befürworter sprechen viele Gründe für die Einführung einer solchen Verfassung. Das Schaffen einer Verfassung würde das Durcheinander der existierenden Verträge verringern. Ein ähnlicher Effekt konnte bei der Charta der Grundrechte beobachtet werden, die in einem Dokument alle Rechte der Verträge und der Rechtssprechung des EuGH zusammenfügte. Die Argumentation zugunsten einer gesonderten europäischen Verfassung, in der die Charta nur ein Teil wäre, ist von ähnlichen Erwartungen der Klarheit und Ordnung motiviert. Es ist deswegen nicht überraschend, dass einige die Charta als vollständig mit dem größeren Unterfangen der Verfassung verbunden sehen.25

Andere verfolgen ein spezifischeres politisches Ziel und halten eine starke Föderation für den Endzweck der EU, der durch eine Verfassung besser ausgedrückt würde. Dies ist die Idee Joschka Fischers als er behauptete die Union müsste vom Staatenbund zu einer starken Föderation werden und somit seine Gedanken über die Finalität der EU erkennen ließ. Eine europäische Verfassung würde diesem Ideal Ausdruck verleihen und unter anderem die Zuständigkeiten der Union und der Mitgliedsstaaten sichtbar machen.26 Jedoch teilen nicht alle diese Vision von Europa. Selbst unter den Befürwortern einer Verfassung, herrscht Uneinigkeit über diese zweckgerichtete Perspektive der Union.

Es gibt aber keinen Grund, eine europäische Verfassung als Fundament für einen Superstaat zu sehen. Die Aussagen der Laekener Erklärung waren diesbezüglich sehr klar. Sie schlossen die Möglichkeit des Entstehens eines „europäischen Superstaats“27, durch den die Mitgliedsstaaten ihre internationale Souveränität verlieren könnten, aus. Anstatt sich davon zu trennen oder ihre Souveränität alleine auszuüben, bevorzugten sie die Entwicklung gemeinsamer Modelle der Zusammenarbeit in supranationalen Institutionen.28 Der Auftrag von Laeken reduzierte die Staaten nicht zu Teilen eines Ganzen, sondern ließ ihnen ihre Selbstbestimmung. Der Transfer von Souveränität ist nur partiell und gleichzeitig zu ihrem eigenen Vorteil, nicht in ihrer Eigenständigkeit, aber als Bestandteil des Europäischen Rats oder Ministerrats. Um dies zu bekräftigen, lässt sich feststellen, dass das Ziel der Erklärung von Laeken hauptsächlich die Neuordnung der Kompetenzen zwischen Mitgliedsstaaten und Union war sowie die Verbesserung des Entscheidungsprozesses der Organe und die Vereinfachung der Instrumente.29

Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass eine europäische Verfassung diejenige eines Nationalstaats kopieren müsste. Der Umstand, dass die EU kein Nationalstaat ist, bringt mit sich, dass jegliche Ausgestaltung einer Verfassung die Aufmerksamkeit auf die besonderen Charakteristika der Union legen muss.30

1.3.3. Das Fehlen eines europäischen „ demos “

Es ist wichtig einen Einwand zu berücksichtigen, der später von Habermas aufgenommen wurde. Die Skepsis gegenüber einer europäischen Verfassung resultiert aus der These, dass es, solange es keinen europäischen demos gibt, auch keine Verfassung geben (kann)könne. Diese Vorstellung wird vor allem von Dieter Grimm vertreten.31 Dieser erkennt zwar an, dass die Vertrage in Verbindung mit der Rechtsprechung des EuGH einige Ansprüche des modernen Konstitutionalismus befriedigen. Grimm bestreitet aber, dass eine europäische Verfassung auf eine direkte oder eine indirekte Handlung des Volkes zurückgeführt werden kann. In der europäischen Union blieben die Staaten die „Herren der Verträge“. Die verfassungsgebende Gewalt entspringe nicht dem Volk, sondern werde durch die Staaten vermittelt. Grimm behauptet außerdem, dass es gegenwärtig keine kollektive Identität der Völker gibt, die die Europäische Union bilden, gemäß einer europäischen Öffentlichkeit (europäische Medien, europäische Zivilgesellschaft und Parteisystem). Dieses Demokratiedefizit Europas bringe mit sich, dass die Realisierung einer Verfassung auf den Nationalstaat bezogen bleibe. Das Fehlen einer kollektiven Identität impliziere, dass es keine Voraussetzung für eine europäische Verfassung gebe, die sich auf das Volk gründe. Ließe sich die verfassungsgebende Gewalt direkt vom Volk ableiten, wären die Mitgliedsstaaten nicht mehr die Herren der Verträge und die Union würde sich zu einem Staat wandeln.32

Wenn die Verfassung den zentralen Autoritäten analoge Befugnisse wie in den Nationalstaaten verliehe und falls die Verfassung Normen zu ihrer Änderung vorsähe und diese in den Händen der Machthaber beließe, hätten die Nationalstaaten nur noch geringfügige Macht und die Union würde sich in einen Superstaat verwandeln. Dies sagt aber noch nichts darüber aus, ob echte Verfassungen auf Akte des Volks zurückgehen müssen. Auch in der Empirie ist dies nicht immer so gewesen, selbst wenn es auf viele moderne Verfassungen zutrifft. Auch in den Fällen, in denen ein solcher Akt nicht deutlich wurde, handelten die staatlichen Organe notwendigerweise im Namen ihrer Völker. Es ist ebenfalls nicht klar, inwiefern dies eine notwendige normative Voraussetzung von supranationalen Verfassungen sein muss - außer im Sinne der Legitimität oder aus Vernunftgründen.33

Eine vom Volk ausgehende Handlung verleiht der Verfassung Legitimität. Der Zusammenhang zwischen einem vom Volk ausgehenden Akt, der Legitimität und der verfassungsgebenden Gewalt setzt jedoch das Einverständnis für die Übertragung von Regierungsverantwortung als selbstverständlich voraus. Es wird auch nicht erklärt, warum die Legitimität von echten Verfassungen andauert. Es scheint deshalb wahrscheinlich, dass die alten Verfassungen ihre Legitimität aus einer anderen Quelle beziehen.

Wenden wir uns nun dem a priori -Motiv zu. Wir haben festgestellt, dass Verfassungen Regelungen bezüglich ihrer Änderung enthalten. Man kann daher behaupten, dass diese Bestimmungen von jeder anderen Rechtsordnung unabhängig sein müssen. Die aktuellen Normen für die Revision der Verträge bedürfen allerdings der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten da sie auf internationalem Recht basieren. Nach dieser Logik kann eine Verfassung nicht Teil einer anderen Gesetzesordnung sein, was wiederum rechtliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Trotzdem wird allgemein akzeptiert, dass Staaten, die Teil eines Staatenverbunds sind, eine Verfassung haben. Die Gültigkeit dieser Verfassungen hängt partiell von den Normen der Verfassungen des Staatenverbunds ab. Die Normen zur Änderung der Verfassungen der Nationalstaaten sind deshalb nicht völlig unabhängig. Außerdem sagt die Existenz eines Volkes mit verfassungsgebender Gewalt nichts über die Revisionsbestimmungen aus, die in ein Verfassungsdokument einfließen. Das Volk könnte auch entscheiden, dass konstitutionelle Modifikationen in einem supranationalen Kontext teilweise vom Konsens der Staaten abhängen sollten.34

Was sind die Konsequenzen für eine europäischen Verfassung, die durch das Volk legitimiert wurde? Es gibt keinen Grund, weshalb eine solche Verfassung unvermeidbar zu einem europäischen Superstaat führen sollte. Es wäre einer Verfassung durchaus möglich, der Union präzise Zuständigkeiten zu gewähren und gleichzeitig die Rechte der Staaten zu schützen. Es wäre ebenfalls denkbar, Normen zu definieren, die im Fall eines Konflikts zwischen Gemeinschafts- und nationalem Recht zur Anwendung kämen. Es könnten Regeln vereinbart werden, die es den zentralen Institutionen erschweren würden, die wesentlichen Merkmale der Europäischen Union zu verändern. Somit gibt es eine Reihe von Optionen bezüglich des wesentlichen Inhalts einer Verfassung, auch wenn die Staaten die Herren der Verträge sind.35

Die Behauptung, es gebe keine kollektive europäische Identität, ist ebenfalls strittig. Es gibt einen Anhaltspunkt, wie sie sich entwickeln könnte. Gemäß Habermas gibt es keine Rechtfertigung, weshalb diese Identität unabhängig und vor dem demokratischen Prozess auf europäischer Ebene entstehen solle. Es ist gerader dieser, durch die Unfähigkeit der Nationalstaaten ihre Probleme zu lösen notwendig gewordene Prozess, der helfen wird, die erhoffte kollektive Identität entstehen zu lassen.36

1.4. Zwischenfazit

Eine Erläuterung der Eigenschaften von Verfassungen und der verschiedenen Bedeutungen von Konstitutionalismus bildet eine gute Basis für die Analyse in diesem Bereich. Es wurde behauptet, dass sich die europäische Gemeinschaft von einer internationalen Ordnung zu einer internationalen Rechtsordnung wandelte und dass die Gegenargumente nicht überzeugend seien. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass die Union eine Verfassung haben muss, die alle Verfassungsnormen, die in den Verträgen und der Rechtstheorie des Europäischen Gerichtshofs enthalten sind, zu einem Dokument vereint. Eine so gedachte Verfassung muss nicht derjenigen eines Nationalstaats entsprechen und sie ist trotz der Feststellung, dass es keinen europäischen demos gibt, verwirklichbar. Eine europäische Verfassung würde die Union auch nicht in einen Superstaat verwandeln. Trotzdem muss man sich der Schwierigkeiten bei der Schaffung einer europäischen Verfassung bewusst sein: Eine solche Verfassung müsste den Zweck der Union erkennen lassen. Eine ihrer Hauptaufgaben müsste die Ordnung und Vereinfachung der Verträge sein sowie die Aufteilung der Aufgaben zwischen den gemeinschaftlichen Organen und der Definition der Zuständigkeiten. Im Folgenden werden wir sehen, ob dem Konvent diese Aufgabe aus italienischer Sicht gelungen ist. Zunächst soll jedoch untersucht werden, ob sich die generelle Haltung der politischen Eliten Italiens in Bezug auf Europa geändert hat.

2. Italien in der Europäischen Union

2.1. Die Entscheidung für Europa

Die politische und ökonomische Entwicklung der italienischen Republik nach Überwindung des Faschismus muss im engen Zusammenhang mit der Einbettung Italiens in die europäische Gemeinschaft gesehen werden.37 Die Verfassung vom 1. Januar 1948 wurde noch unter der Annahme einer dauerhaften Kooperation der Alliierten ausgearbeitet und stellt einen Kompromiss dar zwischen den drei großen politischen Strömungen in Italien während der Nachkriegszeit: Liberale, Christdemokraten und Kommunisten.38 Kurz darauf kam es zum Ausbruch des Kalten Krieges und die antagonistische Konfrontation der Weltmächte USA und UdSSR hielt Einzug in die italienische Innenpolitik, wo (sich) eine von der Democrazia Cristiana

(DC) geführte Regierung einer Opposition aus dem Partito Comunista Italiano (PCI) gegenüberstand.39 In dieser Lage einer „blockierten Demokratie“ wurde die europäische Integration für die demokratischen Kräfte des Landes als ein Mittel betrachtet, die eigene nationalstaatliche Entwicklung voranzutreiben. Der vorbehaltlose Beitritt in die NATO und in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war zugleich der Versuch der DC, die noch junge Demokratie Italiens zu konsolidieren und jegliche Regierungsbeteiligung des PCI zu verhindern. Es zeigte sich auch bald, dass der Übergang Italiens von einem Agrarstaat zu einer Industriegesellschaft ohne die Einbindung in die Strukturen der EWG nur schwer zu verwirklichen gewesen wäre.40

2.2. Merkmale italienischer Europapolitik seit dem II. Weltkrieg

Die italienische Republik hat also aus drei Gründen von der europäischen Integration profitiert: Erstens wurde Italien, wie Deutschland, bei der Stabilisierung seiner Demokratie geholfen; zweitens konnte das Land durch die aktive Mitarbeit an der europäischen Politik einen Teil seines internationalen Prestiges zurückgewinnen, das es durch den Faschismus verloren hatte; drittens wäre das wirtschaftliche Wachstum Italiens in den letzten 50 Jahren undenkbar gewesen ohne die Strukturbeihilfen und den gemeinsamen Markt als Absatzgebiet für italienische Exporte.41

Trotz des vorbehaltlosen EWG-Beitritts sind italienische Diplomaten und Politiker in den zentralen Institutionen der EG nicht auffallend aktiv geworden. Italien blieb im Windschatten der großen Bündnispartner, v.a. Frankreich und Deutschland, die man als Motoren der europäischen Integration ausgemacht zu haben glaubte. Italiens Politiker wurden in der Regel aktiv, wenn es um außen- und wirtschaftspolitische Entscheidungen ging, die zentrale Interessen des Landes berührten. Analytiker führen die außenpolitische Passivität Italiens auf historische, strukturelle und geopolitische Faktoren zurück. Danach konnte Italien als Mittelmacht, die Probleme hatte, ihre nationalen Interessen deutlich darzulegen und die hohen Staatsschulden abzubauen, als schwächste der großen europäischen Mächte nur eine zweitrangige Rolle auf der internationalen Bühne spielen. Trotzdem unterstützten die DC geführten Regierungen den Ausbau der EG-Institutionen fast immer an vorderster Front. Rom war in diesen Jahrzehnten zu einer weitgehenden nationalen Souveränitätsabgabe bereit.42 Folgende Merkmale zeichneten die italienische Europapolitik seit dem zweiten Weltkrieg aus:

1. Es bestand das Interesse, die ökonomische Integration mit Maßnahmen zu flankieren, die auf die politische Einigung zielten. Die wichtigsten Etappen dabei waren:

- die Absichtserklärung der Widerstandskämpfer Alberto Rossi und Altiero Spinelli, nach dem Krieg eine Union der europäischen Staaten herbeizuführen. Rossi und Spinelli, der bis zu seinem Tod einer der aktivsten Befürworter eines europäischen Bundesstaats blieb, verfassten als politische Häftlinge auf der faschistischen Gefängnisinsel Ventotene 1941/42 ein Manifest, in dem sie forderten, die nationalstaatliche Aufteilung Europas zu beenden und durch eine föderative Ordnung zu ersetzen.43
- die Unterstützung der EVG, die 1954 an der französischen Nationalversammlung scheiterte, und der an diese gekoppelte und in Vergessenheit geratene Plan einer Europäischen Politischen Gemeinschaft mit gemeinsamer Verfassung und Regierung. Der Vorschlag, eine bundesstaatliche Verfassung auszuarbeiten, ging auf den damaligen italienischen Ministerpräsidenten de Gasperi zurück und wurde in den EVG-Vertrag aufgenommen, von einer Ad hoc-Kommission ausgearbeitet und später angenommen.44
- die Reforminitiativen der Außenminister Genscher und Colombo in der ersten Hälfte der 80er Jahre, die auf die Errichtung einer europäischen Union bzw. eines europäischen Bundesstaates zielten45 ;

- der Spinelli-Entwurf des Europäischen Parlaments (s.o.), der vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen wurde; die Annahme der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) war für Spinelli letztlich eine Niederlage46 ;
- das Verbinden der Europawahlen von 1989 mit einem Referendum darüber, ob dem Europaparlament verfassungsgebende Befugnisse zu übertragen seien, mit einem klaren Sieg der Befürworter. Die Frage lautete: „Ritenete voi che si debba procedere alla trasformazione delle Comunità europee in una effettiva Unione, dotata di un Governo responsabile di fronte al Parlamento, affidando allo stesso Parlamento europeo il mandato di redigere un progetto di Costituzione europea da sottoporre direttamente alla ratifica degli organi competenti degli Stati membri della Comunità?”47 ;
- die erfolgreichen italienischen Ratspräsidentschaften im Falle der Einigung über die Einheitliche Europäische Akte (Mailänder Gipfel 1985) und die Konferenzen über die politische Union sowie die Wirtschafts- und Währungsunion in Rom im Oktober 199048 ;

2. Erweiterungsvorhaben wurden unterstützt, wie die Süderweiterung durch Griechenland, Spanien und Portugal, trotz unbestreitbarer Nachteile für die italienischen Agrarexporte. Die Öffnung gegenüber neuen Mitgliedsstaaten wurde ebenfalls begrüßt wie im Falle des Beitritts Österreichs, auch im Sinne der Verbesserung des Zusammenlebens der italienischen und deutschen Sprachgemeinschaften.49

3. Es wurde Wert gelegt auf die Ausgewogenheit zwischen Europäismus und Atlantismus auf wirtschafts- sowie sicherheitspolitischer Ebene. Die besondere Beziehung Italiens zu den USA basierte auf der Niederlage im II. Weltkrieg und der Notwendigkeit des Schutzes durch die NATO während des Kalten Krieges. Wirtschaftlich drückte sich die Treue zu den USA vor allem in der Währungspolitik aus, bei der die italienische Lira stark an den US-Dollar gekoppelt war.50

2.3. Die problematischen neunziger Jahre

Italien hatte in der Währungspolitik, im Gegensatz zu den anderen Mitgliedsstaaten, immer den Hang zur Währungsabwertung (im Verhältnis zur D-Mark und den weiteren Währungen), eine Tendenz, die im Laufe des Integrationsprozesses einige Schwierigkeiten bereitete; so zögerte Italien z.B. 1978, als es um die Einrichtung eines Europäischen Währungssystems ging. Diese Währungspolitik, die v.a. seit der ersten Ölkrise 1973/74 betrieben wurde, war bedingt durch die starke Exportorientierung der italienischen Wirtschaft, also einerseits durch das Gewicht des Dollars bei den italienischen Importen und andererseits durch die Wichtigkeit der Exporte nach Deutschland.51

Im Jahre 1979 trat Italien dem Europäischen Währungssystem (EWS) bei. 1992 musste das Land wegen der schweren Staatsverschuldung, beträchtlicher Inflationsraten und der in den achtziger Jahren erfolglosen Fiskalpolitik wieder aus dem EWS ausscheiden. Nach zähen Verhandlungen wurde Italien unter harten Bedingungen im November 1996 schließlich wieder in das EWS aufgenommen. Die Wiederaufnahme war indes noch keine Vorentscheidung für den Eintritt Italiens in die Europäische Währungsunion (EWU) am 1. Januar 1999. Es gab starke Stimmen gegen Italiens Teilnahme an der EWU. Italien galt als System, das keine Stabilitätsstruktur aufwies. Das staatliche Gesamtdefizit und noch mehr die vom Maastrichter Vertrag vorgeschriebenen Kriterien für die zulässige Neuverschuldung waren Hindernisse, die Italien scheinbar nicht überwinden konnte.52

Die Phase der Vertiefung der europäischen Integration, die Maastrichter Verträge und die EWU, die sich letztlich als erheblicher Souveränitätsverlust erwiesen, fiel nun zeitlich ausgerechnet mit der Krise des politischen Systems Italiens zusammen, die eine Revolution der politischen Eliten bewirkte.53 Mit der Entstehung der „zweiten Republik“, die eine Folge des Endes des Ost-West-Konflikts war, entfiel für Italien die Funktion der europäischen Integration als externer nation-builder.54 Es gab Versuche, sich für weniger harte Kriterien für die Zulassung zur EWU einzusetzen. Im Raum standen auch eine flexiblere Anwendung der Kriterien nach Annahme des Maastrichter Vertrags oder eine Verlängerung bei ihrer Implementierung zu erreichen. Diese Versuche scheiterten, weil die Verhandlungsposition von Frankreich und Deutschland dominiert wurde; Italiens Position war zweifellos eine erheblich schwächere.55

Paradoxerweise war es die politische Krise mit der Entkräftung des Parlaments und dem Abtreten der alten Parteien, die es den so genannten „technischen Regierungen“ (Amato, Ciampi und Dini) gestattete, scharfe und schmerzliche, aber zugleich couragierte und letzten Endes zwingend notwendige Schritte durchzuführen. 1992 wurden verschiedene dauerhafte Maßnahmen ergriffen, unter anderem die Aufgabe des Mechanismus der Lohngleitklausel im Sinne des automatischen Inflationsausgleichs. Nach dem Scheitern der ersten Regierung Berlusconi und der Übergansregierung Dini, gelangte 1996 die Mitte-Links Koalition des Olivenbaums an die Macht. Diese war sich der schwierigen Lage Italiens, was den gewünschten Beitritt zur EWU betraf, in hohem Maße bewusst. Die Prüfung der EU über die Teilnahme der Länder an der EWU war für den Frühling 1998 vorgesehen. Unter dem harten Kurs des Finanzministers Ciampi, der entschiedenen Führung Romano Prodis als Regierungschef und der unbeschränkten Unterstützung aller Partner der parlamentarischen Mehrheit wurden die notwendigen Maßnahmen ergriffen, die Italien letztlich den Beitritt zur EWU erlaubten. Der Preis dafür - Steuererhöhungen, eine „europäische Sondersteuer“, das Einfrieren der Gehälter und Einschnitte im öffentlichen Haushalt - wurde von den Italienern, im Namen Europas, beinahe klaglos akzeptiert.56

[...]


1 Die Europäische Union aus deutscher und italienischer Sicht. Gesprächsrunde mit Johannes Rau und Carlo Azeglio Ciampi, in: Villa Vigoni, Mitteilungen VI,2 (2002), S. 63 f.

2 z.B. die Darstellung von Antonio Tizzano (Hrsg.), Una Costituzione per l’Europa. Testi e documenti relativi alla Convenzione europea, Mailand 2004. Tizzano sammelt in seinem fast 500 Seiten starken Buch zwar fleißig alle relevanten Informationen und Dokumente. Die Informationen über die Arbeitsgruppen und -kreise beispielsweise könnte man sich aber wenn notwendig auch im Internet zusammensuchen.

3 Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Bonn 2004, S. 95 f.

4 Heinz Kleger (Hrsg.), Der Konvent als Labor. Texte und Dokumente zum europäischen Verfassungsprozess, Münster 2004, S. 22 f.

5 Ebd., S. 23.

6 Bino Olivi & Roberto Santaniello, Storia dell’integrazione europea. Dalla guerra fredda alla Costituzione dell’Unione, Bologna 2005, S. 278. Ein umfassender Vorschlag mit föderalem Charakter wie derjenige Fischers, konnte nur von einem deutschen Politiker ausgearbeitet worden sein.

7 Gianni Ferrara, Verso la Costituzione europea?, in: Dir. Pubbl 1 (2002), S. 180.

Johannes Rau, Carlo Azeglio Ciampi und Lionel Jospin. Jacques Delors sprach sich in einem Interview gegen eine Verfassung aus. Vgl. Olivi & Santaniello, Storia dell’integrazione europea, S. 280

8 Maurizio Fioravanti, Il processo costituente europeo, in: Quaderni Fiorentini 31,1 (2002), S. 273.

9 Derselbe, Un ibrido fra “Trattato e “Costituzione”, in: Elena Paciotti (Hrsg.), La Costituzione europea. Luci e ombre, Rom 2003, S. 17.

10 Paul Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, in: Rivista Italiana di Diritto Pubblico Comunitario 1/3 (2002), S. 358 f.
Vgl. auch Heinz Kleger & Ireneusz Pawel Karolewski & Matthias Munke, Europäische Verfassung. Zum Stand der europäischen Demokratie im Zuge der Osterweiterung, 2. Aufl., Münster u.a. 2002, S. 7. Auch Verbände oder Vereine verfügen über rechtliche Grundordnungen.

11 Ebd., S. 359.

12 Ebd., S. 360 f.

13 Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, S. 361

14 Ferrara, Verso la Costituzione europea?, S. 161.

15 Giovanna De Minico, Reflections on the European constituent process, in: European Review of Public Law 2 (2003), S. 749.

16 Ebd., S. 362.

17 Alessandro Pace, La Dichiarazione di Laeken e il processo costituente europeo, in: Rivista trimestrale di diritto pubblico 3 (2002), S. 613 f. Seiner Meinung nach nur eine partielle Rechtsordnung, weil der Gemeinschaft die Gewalt über das Territorium fehlt.

18 Vertrag über die Europäische Union; http://europa.eu.int/eur-lex/de/treaties/dat/EU_treaty.html#0001000001, vom 21.1.2006.

19 Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, S. 364.

20 26/62, Judgment of 05/02/1963 , Van Gend en Loos / Administratie der Belastingen; http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61962J0026:DE:HTML,

21 z.B. 6/64 Order of 03/06/1964, Costa / E.N.E.L. http://europa.eu.int/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexplus!prod!CELEXnumdoc&lg=en&numdoc=619 64O0006,

22 294/83, Judgment of 23/04/1986 , Les Verts / Parliament http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61983J0294:DE:HTML.

23 Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, S. 366.

24 Pace, La Dichiarazione di Laeken, S. 625.

25 Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, S. 372 f.

26 Joschka Fischer, Vom Staatenbund zur Föderation - Gedanken zur Finalität der europäischen Integration, Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin; http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/reden/2000/r000512a.pdf, 21.1.06.

27 Erklärung von Laeken, S. 3.

28 Ferrara, Verso la Costituzione europea?, S. 178 f.

29 De Minicio, Reflections on the European constituent process, S. 750.

30 Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, S. 374.

31 Sergio Dellavalle, Un ‚popolo’ per l’Europa? Elementi di un’idea nel Trattato costituzionale, in: Corrado Malandrino (Hrsg.) Un popolo per l’Europa unita. Fra dibattito storico e nuove prospettive teoriche e politiche, Florenz 2004, S. 43, 47, 50.

32 Craig, Costituzioni, Costituzionalismo e l’Unione europea, S. 374 f. Vgl. Kleger u.a., Europäische Verfassung, S. 68-72.

33 Ebd., S. 375 f.

34 Ebd., S. 376-378.

35 Ebd., S. 378.

36 Ebd., S. 378 f.

37 Carlo Masala, Italien, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch Band II. Die Staatenwelt Europas, 3. Aufl., Gütersloh 2004, S. 192.

38 Günter Trautmann, Das politische System Italiens, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 2. Aufl., Opladen 1999, S. 520.

39 Masala, Italien, S. 193 f. In diesem System wurden sogar gegnerische Parteien von der DC in die Regierung eingebunden. Zuerst der sozialistische Partito Socialista Italiano (PSI) und für zwei Jahre sogar der PCI (1976-1978). Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom arco cosituzionale, dem Verfassungsbogen.

40 Ebd., S. 192 f.

41 Mario Telò, L’Italia nel processo di costruzione europea, in: Francesco Barbagallo (Hrsg.), L’Italia nella crisi mondiale. L’ultimo ventennio (Storia dell’Italia repubblicana, Bd. 3/1), Turin 1996, S. 240 f.

42 Trautmann, Das politische System Italiens, S. 554.

43 Altiero Spinelli, Il Manifesto di Ventotene, Bologna 1991, S. 31-36.

44 Siegfried Schwarz, Über französischen Eigenwillen in der europäischen Politik, in: Heinz Kleger/ Lutz Kleinwächter/ Raimund Krämer (Hrsg.), Nachdenken über Europa (WeltTrends-Lehrtexte 1), Potsdam 2005, S. 140.

45 Brunn, Die Europäische Einigung, S. 229, 237.
Genscher und Colombo plädierten für eine Führungsrolle des Europäischen Rats, den Ausbau der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, die Abschaffung des Vetorechts der Einzelstaaten im Ministerrat, eine engere Zusammenarbeit in der Kultur- und Rechtspolitik und die Weiterentwicklung des Europäischen Währungssystems.

46 Nicola Matteucci & Ezio Raimondi, La vita come utopia, in: Altiero Spinelli, Diario europeo I. 1948- 1969, hrsg. von Edmondo Paolini, Bologna 1989, S. 9.

47 Camera dei Deputati, Disegno di legge no. 5388-A, 29.10.2004, S. 9. http://www.senato.it/documenti/repository/leggi_e_documenti/raccoltenormative/18%20- %20Costituzione%20europea/1-camera/DDL/5388-A.pdf vom 12.12.2005. Sind Sie der Ansicht, dass die Wandlung der Europäischen Gemeinschaft in eine wirkliche Union in Angriff genommen werden muss, ausgestattet mit einer Regierung, die dem Palament verpflichtet ist, und die dem Europäischen Parlament den Auftrag anvertraut, einen Entwurf f ü r eine Europäische Verfassung aufzusetzen, die den zuständigen Organen der Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft direkt zur Ratifikation unterbreitet werden muss?

48 Mario Telò, Italien und Europa, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris/ Günter Trautmann/ Hartmut Ullrich, Italien auf dem Weg zur “zweiten Republik”? Die politische Entwicklung Italiens seit 1992, Frankfurt a.M. 1995, S. 406.

49 Ebd., S. 406.

50 Ebd., S. 406.

51 Ebd., S. 407.

52 Mario Caciagli, Italien und Europa. Fortdauer eines Verhältnisses von Zwang und Ansporn, in APuZ 35/36 (2004), S. 26 f.

53 Maurizio Cotta, Élite, politiche nazionali e costruzione della polity europea. Il caso italiano in prospettiva comparata, in: Derselbe & Pierangelo Isernia & Luca Verzichelli, L’Europa in Italia. Élite, opinione pubblica e decisioni,Bologna 2005, S. 46.

54 Federico Romero, L’Europa come strumento di nation-building: storia e storici dell’Italia repubblicana, in: Passato e Presente 36 (1995), S. 24.

55 Cotta, Élite, politiche nazionali e costruzione della polity europea, S. 47.

56 Caciagli, Italien und Europa. Fortdauer eines Verhältnisses von Zwang und Ansporn, S. 27.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Italien und der europäische Verfassungsprozess
Hochschule
Universität Potsdam  (Lehrstuhl für Politische Theorie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
79
Katalognummer
V139235
ISBN (eBook)
9783640471416
ISBN (Buch)
9783640471072
Dateigröße
718 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Europäischer Verfassungsprozess, Länderstudie, EU, Politische Theorie und Ideengeschichte
Schlagworte
Italien, Verfassungsprozess
Arbeit zitieren
M.A. Romano Sposito (Autor:in), 2006, Italien und der europäische Verfassungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139235

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