Sprachursprungstheorien - Der Beitrag der Linguistik


Essay, 2007

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Woher hat der Mensch seine Sprache? Und warum hat nur er diese? Die zweite Frage ist leicht zu beantworten. Die menschliche Sprache ist nun einmal eine Lautsprache, und als solche setzt sie spezielle Fertigkeiten bei der Hervor-bringung wie bei der Wahrnehmung von Lauten voraus. Und genau diese notwen-digen Vorraussetzungen besitzen weder die engsten Verwandten des Menschen, die Schimpansen, noch irgendein anderes Lebewesen.

Nervenbahnen, die in uns in kompliziert strukturierter Form aufgrund von zahlrei-chen ineinandergreifenden und zeitlich präzise aufeinander abgestimmten geneti-schen Ereignissen angelegt worden sind, verleihen uns eine außergewöhnliche Gabe – die Fähigkeit, mit Komponenten wie Syntax, Morphologie, kombinato-rischen Systemen, einem umfangreichen Lexikon usw. und mit Hilfe der Modula-tion des ausströmenden Atems eine unendliche Zahl präzise strukturierter Gedanken von einem Kopf zum anderen zu übertragen.

Eine Antwort auf die erste Frage ist schwieriger. Spekulationen gibt es viele: Stumme Dinge der Natur seien zu Namen gekommen, weil bestimmte Eindrücke beim Menschen bestimmte Lautvorstellungen hervorriefen, Sprache sei aus stark gefühlsbetonten Ausrufen und Aufschreien hervorgegangen, am Anfang aller Sprache stünden die Ausrufe bei anstrengender gemeinsamer Körperarbeit, Spra-che sei aus Gesängen hervorgegangen, oder auch die Vermutung: Die erste Spra-che der Menschen müsse eine Gebärdensprache gewesen sein, die dann immer mehr Funktionen an die Lautsprache abtrat. Fest steht: die menschliche Sprache muss einen enormen Vorteil haben, wenn die Evolution dafür Nachteile beim Kauen, beim Atmen, beim Schlucken, also bei höchst lebenswichtigen Funktio-nen, zuweilen sogar lebensgefährliche Nachteile wie beim Verschlucken in Kauf genommen hat.

Die menschliche Sprache wurde also unter anderem durch die Umgestaltung des Stimmtraktes ermöglicht. Aber wie ging es nach der Ausbildung der physischen Voraussetzungen weiter? Viele unterschiedliche Wissenschaftszweige beteiligen sich an der Erforschung des Sprachursprungs. Die endgültige Wahrheit wurde da-bei nicht gefunden und nur auf der Grundlage von Indizien wird sie wohl auch nie gefunden werden.

Ich habe mich für die Beleuchtung der Forschungserkenntnisse aus linguistischer Sicht entschieden. Jedoch sind kurze Abweichungen vom Pfad der Linguistik un-umgänglich, da sie sich zum Teil kreuzen, bedingen, parallel verlaufen oder widersprechen.

Gründe, dass die Sprache sich überhaupt entwickelt hat, könnten zum Beispiel folgende sein: Es könnte so gewesen sein, dass, als die Arbeiten unserer Vorfahren immer anspruchsvoller wurden, die Demonstration und Anweisung zur Fertigung und dem Gebrauch verfeinerter Werkzeugtechniken mittels Sprache viel effizienter war als vielleicht mit Gebärden (wenn dies wirklich der Vorreiter der heutigen Lautsprache gewesen sein sollte). Eine Mutter versorgt ihr Kind, hütet es, spielt mit ihm, beruhigt und ermuntert es, und sie beginnt, ihm die Wirklichkeit zu „erklären“, indem sie auf interessante Sachen aufmerksam macht, vor Gefahren warnt und ihm beibringt, was genießbar ist, wo man es findet, wie man herankommt, wie man sich sichere Schlafstellen einrichtet, wie man Junge betreut usw. Aber Lautkommunikation zwischen Mutter und Kind hat es auch schon in vorsprachlicher Zeit gegeben; es gibt sie sogar bei den nicht sprechenden Schimpansen. Also könnte nur ein bereits genutzter „Kanal“ immer weiter ausge-baut worden sein.

All dies lässt sich, wie gesagt, sprachlich sehr viel leichter und genauer weiter-geben. Alle allmählich komplexer gewordenen Kulturleistungen sind allenfalls auch ohne Sprache denkbar, oder mit einer nur sehr geringen Sprachfähigkeit. Das alles muss also nicht heißen, dass deshalb die Sprache entstand. Dazu brauchte es irgendwelche positiven Hinweise, und die gibt es nicht. So vorteilhaft der Besitz der Sprache für die altsteinzeitlichen Kulturformen mit Sicherheit auch gewesen wäre, er lässt sich aus ihnen nicht mit Sicherheit entnehmen. Alle diese Indizien helfen nicht weiter.

Ich werde versuchen, der Sache auf die Spur zu kommen, indem ich aus verschie-denen linguistischen Bereichen Argumente aufzeigen will, die für mich eine über-zeugende Rolle in der Frage des Sprachursprungs zu spielen scheinen. Sie betref-fen den Spracherwerb (liegt eine angeborene Grammatik zugrunde?), die Gebär-densprache, Pidgin- bzw. Kreolsprachen, aber auch, ob es eine Ursprache gegeben haben könnte. Auch wenn der „Untersuchungsgegenstand Gehirn“ zu großen Tei-len in andere Wissenschaften gehört, ist er ja nicht unerheblich für die Neuro- bzw. Psycholinguistik. Somit widme ich auch ihm die gebührende Aufmerk-samkeit.

Eines der hervorstechendsten Merkmale der menschlichen Sprache ist es, dass sie ständig Aussagen bildet, die noch nie jemand hervorgebracht hat. Wie kann das sein? Die phylogenetischen Vorläufer der heutigen menschlichen Sprache sind zwar quasi verschollen, aber vielleicht hatte jener ägyptischer König Psammetich doch Recht, als er meinte, die Menschen könnten eine Sprache auch spontan, aus sich heraus und ohne Nachhilfe der Außenwelt entwickeln, und dies sei die Grundsprache der Menschheit. Dafür spricht, dass Kinder bereits in sehr frühen Stadien des Spracherwerbs sagen, was sie noch nie gehört haben. Somit sind sich die meisten Fachleute einig: es muss etwas geben, das von innen kommt. In der Theorie ist es ganz einfach. Wenn in völliger Isolation aufwachsende Kinder un-abhängig voneinander sich jedes eine Syntax erfinden sollte, und alle diese Syn-taxen wären einander ähnlich – dann wäre eindeutig, dass sich in ihnen ein gene-tisches Programm ausdrückte, und man könnte endlich genauer bestimmen, worin der genetische Anteil an den Grammatiken natürlicher menschlicher Sprachen bestünde. Einige Indizien lassen sich aber auch ohne solche heute nicht mehr zu rechtfertigende Experimente erschöpfen. Dazu später mehr.

Pinker, Chomsky, Bickerton..., sie alle zeigen Hinweise zur Existenz eines ange-borenen, linguistischen Programms auf, von denen einige auch mich überzeugen. Jedoch hinsichtlich des Ausmaßes der Beschaffenheit unterscheiden sich ihre An-sichten sehr. Bickerton geht weniger als Chomsky davon aus, dass diese geneti-sche Grammatik komplett alle Prinzipien und Regeln enthält, die in sämtlichen menschlichen Sprachen auftreten können und im Laufe seiner Sprachakquisition jeder Mensch dann nur noch das Wissen erwirbt, welche dieser Regeln in seiner Muttersprache gelten sollen. Laut Chomsky wählt der zukünftige Sprecher also aus der Kerngrammatik sozusagen eine, seine eigene Grammatik aus. Das Sprach-programm der Gene müsste in diesem Fall jedoch sehr viel Detailinformationen enthalten. Was Bickerton an Chomskys Kerngrammatik stört, ist nicht so sehr die schiere Menge an Informationen, die sie enthalten müsste, sondern deren Widersprüchlichkeiten. Sie müsste zum Beispiel irgendeine Regel enthalten, nach der das Adjektiv, wie im Deutschen, immer vor dem Substantiv zu stehen hat, aber ebenso eine, derzufolge sein Platz hinter dem Substantiv ist, um die reguläre französische Form hervorzubringen. Sie gäbe nicht nur viele, sondern oft entge-gengesetzte Anweisungen. Darum glaubt Bickerton, das Bioprogramm stelle nur eine sehr einfache, kleine Grundgrammatik zur Verfügung, die dann von den ein-zelnen Sprachen erweitert, ausgebaut, abgeändert wird. Angeboren wäre sozu-sagen eine Grammatik für Notfälle, die in Aktion tritt, wenn dem Kind keine Grammatik oder nur ein grammatisches Chaos angeboten wird. Das sei der Fall des Kreol. Dieser Sichtweise würde auch ich eher etwas abgewinnen können. Aber die Hypothese von Bickerton stößt auf Skepsis. Ihre Schwachstelle ist die, dass das letzte Kreol zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts entstand und man darum heute leider nirgendwo mehr die Anfänge ihrer Entwicklung beobachten kann - im Unterschied zur Sprache der gehörlosen Kinder, die man untersuchen kann, noch während sie entsteht.

Die Gebärdensprache ist häufig als eine Art Zwischenstufe der Sprachentstehung betrachtet worden, doch das war noch bevor Wissenschaftler entdeckten, dass sie in allen Bereichen ebenso komplex ist wie die gesprochene Sprache. Darüber hinaus scheint die Kommunikation über Gebärden vom Broca- und vom Werni-cke-Zentrum abhängig zu sein, wie auch bei der Lautsprache. Auf solche Beobachtungen komme ich später zurück.

Zunächst gehe ich etwas näher auf die Herausbildung des Gehirns und dessen Bedeutung für die Sprache ein.

Zur Abhandlung eines solchen Themas, das sich komplett auf Hypothesen stützen muss, also ohne beweisbare Erkenntnisse, muss man zunächst einen für sich über-zeugenden Ausgangspunkt festlegen. Ich setze ihn am vor 1,5 Mio. Jahren ein-setzenden rapiden Gehirnwachstum an, als die kognitiven Voraussetzungen für die Sprache bereits ausgebildet waren. Die Zunahme des Hirnvolumens auf seine heutigen 1400 Kubikzentimeter steht mit Sicherheit in Beziehung zur Zunahme seiner Intelligenz. Es ist also plausibel, auch eine der markantesten Leistungen dieser Intelligenz, die Sprache, mit dem Wachstum des Großhirns in Verbindung zu bringen. Das Hirnvolumen hat während der gesamten menschlichen Evolution zugenommen, aber nicht gleichmäßig. Am stärksten ist das Gehirn auf dem Weg von Homo habilis über Homo erectus zu Homo sapiens gewachsen. Während dieser Zeit, oder danach, müsste es also gewesen sein, dass die Sprache entstanden ist. Vermutlich entwickelte sie sich zusammen mit anderen kognitiven Leistungen sehr langsam über die ganze Zeit der Ausbildung des neuronalen Substrats hinweg, oder auch erst im Anschluss daran. Denn ohne all die anderen Intelligenzleistungen wäre das neu erschaffene Kommunikationswerkzeug „Spra-che“ wohl relativ nutzlos gewesen. Die eigentliche menschliche Lautsprache wird sich aber wohl erst vor zwischen 250 000 und 35 000 Jahren entwickelt haben. Davor den Sprachursprung zu vermuten, macht kaum Sinn, denn erst wenn der Mensch weiß, dass ein Ding ein Ding ist und auch dann bleibt, wenn es zufällig nicht sichtbar ist, wenn also der Mensch das Prinzip der Distanzkonstanz erwor-ben hat, kann es beginnen, an die Dinge Wörter zu heften. Zu den Begriffen für Dinge der realen Welt kommen auch Begriffe für gedachte Beziehungen. Belege dafür, dass das Denken vor der Sprache entstanden sein müsste, sind folgende. Es gibt schließlich ein Denken ohne Sprache, Sprechen ohne Denken hingegen ist schwer vorstellbar. Trotzdem ist für viele zunächst nur ihr inneres Sprechen, also ihr lautloser Sprachstrom das Denken. Diese Ansicht hatte und hat auch promin-ente Anhänger, so z. B. den amerikanischen Psychologen James B. Watson, den Begründer des Behaviorismus und zum Teil auch Wilhelm von Humboldt. Andere, vor allem Schriftsteller und ganz besonders Übersetzer, verstehen ander-erseits gar nicht, wie jemand Denken und Sprechen je für dasselbe halten kann. Wenn sie dasselbe wären – wie könnte man dann immer wieder lange nach dem richtigen sprachlichen Ausdruck für einen Gedanken suchen müssen? Das über-zeugendste Argument liefern aber Experimente mit Schimpansen, unseren engsten Verwandten. Sie zeigten, dass sie auch ohne Sprache zu intelligentem, einsichti-gem Handeln imstande sind, z. B. nutzen sie geeignete Hilfsmittel, um an uner-reichbare Bananen zu gelangen. Ein weiteres Argument ist, dass Menschen, die durch die Beschädigung bestimmter Hirnregionen ihre Sprache verlieren, nicht notwendig auch alle Denkfähigkeit einbüßen. Sie ist allerdings häufig beeinträch-tigt, nur ist kaum zu unterscheiden, ob als Folge des Sprachverlusts – die kogni-tive Beeinträchtigung könnte ebenso auf die Verletzung selbst zurückgehen, die auch die Aphasie bewirkte. Die Broca-Aphasie und die Dysphasie sind Beispiele für Sprachstörungen bei ansonsten mehr oder weniger normal entwickelter Intelli-genz. Strenggenommen heißt das aber noch nicht, dass die Sprache von der Intelligenz zu trennen ist. Noch aufschlussreicher ist darum der Fall der Gehör-losen. Wenn sie taub geboren werden, hören sie nie Sprache. Trotzdem bleiben sie hinsichtlich ihrer Intelligenz kaum hinter hörenden und sprechenden Alters-genossen zurück. Aus all diesen Belegen ergibt sich die einzig mögliche Schlussfolgerung: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass durch eine Beeinträch-tigung der Sprachfertigkeiten auch die grundlegenden Organisationsfähigkeiten beeinträchtigt werden. In unserem Denken spielt darum die menschliche Sprache vermutlich eine geringere Rolle. Denn schließlich ist auch jeder Satz Teil eines Zusammenhangs, der mitgedacht wird, aber sprachlich niemals vorhanden ist. Weitere Hinweise auf die Existenz, die Allgegenwart, die Leistungsfähigkeit und Unentbehrlichkeit sprachfreien Denkens hat die Hirnforschung gefunden. Dies würde allerdings zu sehr vom linguistischen Schwerpunkt abweichen.

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Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Sprachursprungstheorien - Der Beitrag der Linguistik
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Deutsche Sprache und Lingustik)
Veranstaltung
Sprachursprungstheorien
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
15
Katalognummer
V138832
ISBN (eBook)
9783640483198
ISBN (Buch)
9783640483396
Dateigröße
411 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprache, Entstehung, Entwicklung, Psycholinguistik, Spracherwerb, Genetik, Chomsky, Kommunikation, Artikulation
Arbeit zitieren
Magistra Artium Daniela Nagorka (Autor:in), 2007, Sprachursprungstheorien - Der Beitrag der Linguistik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138832

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