Der Gefährte der Erinnerung

Das Vergessen als Element der Nationenbildung


Trabajo Escrito, 2007

21 Páginas, Calificación: 2,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vergessen als Mittel der Nationenbildung
2.1 Vergessen und Erinnern bei der Etablierung des Staates Israel
2.2 Das Vergessens bei der Nationenbildung in Südafrika

3. Der TRC-Bericht als Ort des Vergessens
3.1 Die Schaffung eines Zeitrahmens
3.2 Die juristische Veranlagung und die Sprache der TRC
3.3 Das master narrative eine Fiktion

4. Das vergessene Trauma im master narrative
4.1 Das Trauma als Privatsache
4.2 Das Schweigen als temporäres Phänomen

5. Vergessen konstituiert Gedächtnis und Geschichte

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wahrheitskommissionen sind ein verbreitetes Mittel bei der nationalen Erneuerung und zur Unterstützung von Versöhnung nach einer Phase von Unterdrückung und Gewalt. Dabei werde, laut Humphrey, die Konfrontation der Menschen mit der Vergangenheit als Schlüsselstrategie angewendet, um zukünftige Gewalt zu vermeiden und ein Zusammenleben ehemals Verfeindeter zu ermöglichen. Versöhnung und Gerechtigkeit wären zwei verschiedene Formen, Wahrheit zu finden und zu vermitteln. Dadurch würde ein offizielles Narrativ (master narrative) geschaffen, in das persönliche Narrative einfließen. Um mit diesem Narrativ eine national teilbare Moral und Geschichte zu erschaffen, würde die radikale Subjektivität der persönlichen Berichte durch das überspannende master narrative aufgehoben und vereinheitlicht (vgl. Humphrey 2002: 105-108).

Ein Beispiel solch einer Wahrheitskommission gab es in Südafrika, mit dem sich ein weiter Teil der Arbeit beschäftigen wird. Unterstützt wird die Argumentation durch das Beispiel Holocaust. Dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur über Wahrheitskommissionen nationale Narrative und somit auch Geschichte erzeugt wird, sondern dass die Schaffung eines offiziellen Narrativs ein gebräuchliches Mittel bei der Nationenbildung ist.

Die oben schon erwähnten verschiedenen Formen von Wahrheit deuten an, dass die Erzeugung von Narrativen zweckgebunden ist und diese sich deshalb aus den Vorgaben und Vorbedingungen konstituieren. Die Frage, die mich nun in dieser Arbeit beschäftigt, ist die des Vergessens. Welche Rolle spielt das Vergessen bei kollektiven und persönlichen Narrativen? Wie wirken Zweckgebundenheit und traumatische Erfahrungen auf das Vergessen? Ist das Vergessen dauerhaft? Welche Auswirkungen hat Vergessen somit auf die nationale Geschichtsschreibung. Mein Argument ist, dass Vergessen und Erinnerung als Gefährten Hand in Hand gehen, wandelbar und meist zielgerichtet sind.

2. Vergessen als Mittel der Nationenbildung

„ [E]s ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben […], es ist aber ganz und gar unmöglich ohne Vergessen zu leben“, schreibt Nietzsche. (Nietzsche 1990: 131) So sei es auch, argumentiert Renan, bei der Konstitution von Nationen. Man müsse bestimmte Kapitel der Vergangenheit vergessen können, um eine neue Nation zu begründen (vgl. Renan 1990: 11). Es handele sich dabei um besonders traumatische Ereignisse der Vergangenheit, die vergessen werden müssten, damit die Erinnerung nicht zur Bürde für die neue Nation würde. Die Beispiele Israel und Südafrika zeigen allerdings, dass das Mittel Vergessen auf unterschiedliche Weise genutzt und das Vergessen auch wieder aufgehoben werden kann.

2.1 Vergessen und Erinnern bei der Etablierung des Staates Israel

Für den sich 1948 gründenden Staat und die sich bildende Nation Israel war das jüngste und sehr schwer wiegende traumatische Ereignis der Holocaust. In den ersten Jahren der Existenz des Staates Israel, etwa bis 1960, wurde die Erinnerung an die Schrecken des dritten Reiches ausgeblendet und im öffentlichen Kontext darüber geschwiegen. Stattdessen wurde das kollektive Gedächtnis bei der Formierung der Nation auf die glorreichen Ereignisse der jüdischen Vergangenheit wie dem Auszug aus Ägypten, der Versammlung am Berg Sinai, wo Moses die Tafeln mit den zehn Geboten von Gott erhalten haben soll und zuletzt die Gründung des Staates Israel, gelenkt. Zwischen den ersten beiden und dem letzten Ereignis liegen cirka 2000 Jahre. Die Zeit dazwischen, die das Volk Israel ohne eigenen Staat in der Diaspora verbrachte und große Opfer zu beklagen hatte, wurde bei der öffentlichen Geschichtsbetrachtung fast völlig ausgeblendet. Die Konstituierung der Nation war die Zeit, sich an die heldenhafte Geschichte der frühen Israeliten zu erinnern und nicht an die Opfer der Jahre in der Diaspora. Das jüdische Volk baute den Staat Israel in dem Glauben auf, von Feinden umgeben zu sein und in der Welt, auf Grund der Jahrhunderte dauernde Verfolgung von Juden, als das ewige Opfer zu gelten. Um diese Rolle ein für alle Mal abzugeben, hätten die politischen Führer des jungen Israel Stärke demonstrieren müssen. In den Anfangsjahren musste diese Stärke erst einmal nach innen vermittelt werden. Dafür waren die Taten der weit zurückliegenden mythischen Vergangenheit besser geeignet als die Erinnerung an die Opfer des Holocausts. Das kollektive Gedächtnis zu jener Zeit in Israel wurde bestimmt vom Vergessen ausgewählter Zeiträume (vgl. Zertal 2000: 99-101). Diese Zeiträume waren die 2000 Jahre der Diaspora und in dieser Zeit vor allem die Zeit des Holocausts.

Hier findet sich ein Phänomen das Vasina bei der mündlichen Überlieferung der schriftlosen Geschichtserinnerung bemerkte und das Jan Assmann als the floating gap[1] bezeichnet. Abgesehen davon, dass in Israel die Überlieferung vorrangig schriftlich erfolgt, scheint mir der Unterschied in diesem Fall zu dem von Assmann beschriebenen darin zu liegen, dass hier bewusst ein kulturelles Gedächtnis[2] von institutioneller Seite kreiert wurde[3], welches die Geschichte des Ursprungs der israelischen Nation in Ägypten mythisiert und das sich die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit auf den ganz kurzen Zeitraum der Gründung Israels und der damaligen Gegenwart bezieht. Die cirka 2000 Jahre dazwischen wurden bewusst ausgespart. Der Mythos wird mit dem kommunikativen Gedächtnis über die Gründung des Staates Israel verbunden, wobei eine bruchlose Tradition der jüdischen Nation entsteht. Diese Tradition blendet die Zeit der Diaspora, in der es de facto keine jüdische Nation gab, aus und vermeidet die Erinnerung an die jüdischen Opfer der nahen Vergangenheit. Die Erinnerung an den Holocaust wurde mit der Betonung der mythischen Helden Israels und der Konzentration auf die Erinnerung an die Errichtung des eigenen Staates im öffentlichen Raum unterdrückt, verschwiegen und zumindest zeitweise vergessen. Den Opfern der Diaspora und des Holocausts wurde über den Umweg Amalek[4] gedacht. Amalek war das Sinnbild des Bösen und der Verweis auf die Opfer. Die Erinnerung an den Holocaust habe es so in den ersten Jahren der Existenz des Staates Israel nur im privaten Rahmen gegeben (vgl. Zertal 2000: 103).

Diese Strategie der Nationenbildung in Israel änderte sich Ende der 1950er Jahre, was seinen Ausdruck im Eichmann[5] -Prozess 1960 fand. Der erste Ministerpräsident und Verteidigungsminister Israels Ben Gurion habe seine Politik Anfang der 1950er Jahre auf den Aufbau des Staates, der Armee und der Infrastruktur Israels konzentriert. 1957 jedoch, so Zertal, sei die Konsolidierungsphase abgeschlossen gewesen und es wäre die Zeit gekommen, eine neue nationale Einheit durch die Erinnerung an den Holocaust zu schaffen. Der Eichmann-Prozess sei dafür der Ausgangspunkt gewesen. Der Prozess wurde nach Gurions Entwurf zu einem Schauprozess stilisiert. Er sollte dem jüdischen Volk eine heilige Erfahrung vermitteln: Die jungen Leute Israels sollten erfahren, dass Juden sich nicht wie Schafe wehrlos zur Schlachtbank führen lassen. Das Todesurteil an Eichmann zeigte der Welt und den Menschen Israels, dass die Verbrechen an den Juden im dritten Reich von der souveränen israelischen Nation bestraft würden und führte ihnen symbolisch die Stärke Israels vor Augen. Der Prozess als Symbol für die Gefahren, die der jüdischen Nation drohen und als Symbol der Stärke des jüdischen Volkes, wurde zur Legitimation für den mächtigen Verteidigungsapparat Israels. Auf diesem Weg wurde ein neues Geschichtsnarrativ entwickelt, dass einen Mythos vom wehrhaften Volk Israel begründete. Die Erinnerung an die Opfer der Diaspora und des Holocausts wurde nun zum Symbol dafür, dass die Nation nie wieder wehrlos sein würde. (vgl. Zertal 2000: 102-105). The floating gap wurde somit wieder geschlossen.

In diesem neuen Mythos war nun die Verpflichtung enthalten, sich immer an den Holocaust zu erinnern und ihn nie zu vergessen. Die Erinnerung an Amalek als Symbol für alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Bedrohungen der Existenz des israelischen Volkes hält der Nation immer wieder die Notwendigkeit eines wehrhaften Staates Israel im Gedächtnis und legitimiert diesen (vgl. Zertal 2000: 102-105).

In Israel wurden Vergessen und Erinnerung im Dienste der Nation und der Politik von staatlicher Seite eingesetzt. Vergessen war in den Jahren des Aufbaus Israels das Mittel, Lähmung und Trauma durch die erlebte und präsente Erinnerung an den Holocaust auszublenden. Die Konzentration auf einen weit in der Vorzeit angesiedelten Ursprungsmythos vermittelte Stärke in einer Zeit, in der reale (militärische) Stärke im Staat noch nicht vorhanden war. Die Erinnerung an den Mythos sollte die Nation beim Aufbau des Landes vereinen. Als nach Jahren der Entwicklung das Land real Stärke zeigen konnte, wurde das Vergessen von Diaspora und Holocaust in die stetige Erinnerung an diese gewandelt und zum Beispiel durch die Etablierung eines Holocaust-Gedenktages in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Dies sollte die Nation auf Grund von gefühlten und tatsächlichen Bedrohungen des Staates hinter der Verteidigungspolitik der Regierung einen. Es wurde deutlich, dass der kontrollierte Einsatz der Mittel Vergessen und Erinnern ein sich wandelndes kulturelles Gedächtnis schuf, das bezüglich der Nationenbildung an die jeweilige Situation des Staates gebunden war.

2.2 Das Vergessens bei der Nationenbildung in Südafrika

Wurde in Israel zum Zwecke der Konstituierung der Nation zuerst die nähere Vergangenheit im öffentlichen Kontext vergessen, um sich dann nach einigen Jahren der Konsolidierung mit Macht an sie zu erinnern, so verlief der Prozess in Südafrika in umgekehrter Richtung.

Nach dem Ende der Apartheidpolitik in Südafrika wurde eine Wahrheitskommission zum Zwecke der Versöhnung der durch diese Politik getrennten Bevölkerungsgruppen installiert. Die Truth and Reconciliation Commission (TRC), wie sie genannt wurde, sollte politisch motivierte schwere Menschenrechtsverletzungen während der Zeit von 1960-1994 aufklären. Das Ziel war die Versöhnung von Opfern und Tätern, um dann mit den versöhnten Menschen gemeinsam eine neue demokratische Nation zu errichten. In den Jahren 1996 und 1997 gab es öffentliche Anhörungen von Opfern und Tätern. Opfer konnten ihre Leidensgeschichte vorbringen und dafür öffentliche Anerkennung als Opfer erhalten. Auch wurde ihnen Entschädigung versprochen, die aber aus Geldmangel nicht allumfassend und nur in geringer Auszahlungsmenge geleistet wurde. Den Tätern, die sich den Anhörungen stellten, wurde Amnestie gewährt. Das geschah allerdings nur, wenn die Kommission die begangenen Menschenrechtsverletzungen als politisch motiviert ansah. Taten, die nicht in diese Kategorie geordnet wurden, konnten strafrechtlich verfolgt werden (vgl. Wilson 2000, 2001; Foster, Haupt, de Beer 2005; Humphrey 2002).

[...]


[1] Assmann meint, dass es bei der mündlichen Überlieferung für die jüngste Vergangenheit, die er auf einen Zeitraum von cirka achtzig Jahre bestimmt, eine Fülle von Informationen gäbe. Für frühere Perioden stoße man allerdings auf wenige Informationen aus der Vergangenheit. Erst für weit zurückliegende Perioden, die mit Überlieferungen des Ursprungs zu tun hätten, finde man wieder eine Vielzahl von Erinnerungen. Auf diese Weise arbeite das historische Bewusstsein nur auf zwei ebenen: der Ursprungszeit und der jüngsten Vergangenheit. Die Zeit dazwischen bezeichnet er als the floating gap,. Diese Lücke sei den Menschen einer betreffenden Gemeinschaft allerdings meist nicht bewusst (vgl. Assmann 1992: 48).

[2] Laut Assmann bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf eine mythische Vorzeit, besitzt fest Objektivationen und hat einen hohen Grad an Geformtheit und zeremoniellen Charakter und wird von Festen und ähnlichem repräsentiert. Das kommunikative Gedächtnis im Sinne von Assmann bezieht sich auf die Erinnerungen der eigenen Biographie und Erfahrungswelt. (Assmann 1992, S. 48-54)

[3] Als Beispiel kann das Pessach-Fest angeführt werden, das an den Exodus erinnert.

[4] Amalek war das Haupt der Amalekiter, den Feinden Israels aus der Vorzeit.

[5] Karl Adolf Eichmann war unter anderem für die Deportation von cirka drei Millionen Juden in deutsche Vernichtungslager verantwortlich. Er konnte nach dem Krieg nach Argentinien auswandern und wurde dort vom israelischen Geheimdienst unter dem Namen Ricardo Klement aufgespürt, nach Israel entführt und dort vor Gericht gestellt, wo er 1961 zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde 1962 vollstreckt. (Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2004)

Final del extracto de 21 páginas

Detalles

Título
Der Gefährte der Erinnerung
Subtítulo
Das Vergessen als Element der Nationenbildung
Universidad
Martin Luther University  (Seminar für Ethnologie)
Curso
Einführung in die Theorie von Gedächtnis und Erinnerung
Calificación
2,0
Autor
Año
2007
Páginas
21
No. de catálogo
V138575
ISBN (Ebook)
9783640474523
ISBN (Libro)
9783640474417
Tamaño de fichero
497 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Gefährte, Erinnerung, Vergessen, Element, Nationenbildung
Citar trabajo
Heiko Moschner (Autor), 2007, Der Gefährte der Erinnerung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138575

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