(K)eine Meinung in Europa

Öffentlichkeit als Voraussetzung zur Legitimierung des europäischen Einigungsprozesses


Diplomarbeit, 2006

101 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einführung
1.1 Das Problem: Die EU zwischen Legitimations- und Öffentlichkeitsdefizit
1.2 Die Vorgehensweise: Menschen, Medien und Öffentlichkeit in Europa
1.3 Der Forschungsstand: Die Empirie europapolitischer Kommunikation
1.3.1 Die Skeptiker
1.3.2 Die Liberalen
1.3.3 Die Optimisten
1.3.4 Zusammenfassung der Meinungen und Modelle
1.4 Definitionen zentraler Begriffe
1.4.1 Öffentlichkeit
1.4.2 Europäische Öffentlichkeit
1.4.3 Das Demokratiedefizit der Europäischen Union
1.4.4 Öffentliche Meinung
1.4.5 Legitimierung

2. Europäische Öffentlichkeit – Wunsch und Wirklichkeit
2.1 Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit
a) soziokulturelle Faktoren
b) ökonomische Faktoren
c) institutionelle Faktoren
d) medienspezifische Faktoren
2.2 Chancen für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit
2.3 Die Rolle der Medien bei der Entstehung von öffentlicher Meinung
2.3.1 Massenmedien als Vermittler europäischer Politik
2.3.2 Massenmedien als Publizist europäischer Politik
2.3.3 Massenmedien als Organisator der Selbstbeschreibung europäischer Gesellschaft
2.3.4 Massenmedien als Übersetzer und Aufklärer

3. Europäische Bürger – Ein gescheitertes Konzept
3.1 Konzepte bürgernaher Politik
3.2 Non, Nee und No – Absagen für Europa
3.2.1 Die Antwort war „Nein“, doch was war die Frage? – Gründe für das Scheitern
3.2.2 Reaktionen auf die Referenden und die Bedeutung der Bürgerentscheide
3.3. Die Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Union
3.3.1 Neue Kommunikationsstrategien der Europäischen Kommission
3.3.1.1 Der Aktionsplan zur Verbesserung der Kommissionsarbeit
3.3.1.2 Der Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion
3.3.1.3 Das Weißbuch zur Kommunikationspolitik
3.4 Die Bewertung der Pläne und ihre Bedeutung für das Europa der Bürger
3.5 Öffentlichkeit durch Internet?

4. Europäische Medien – Ökonomie versus Kultur
4.1 Europäische Medienpolitik
4.1.1 Fernsehen ohne Grenzen – Die EU-Fernsehrichtlinie
4.1.1.1 Die neue „Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste“
4.1.1.2 Regulierungen mithilfe des Wettbewerbsrechts
4.1.2 Inhalte ohne Grenzen? – Regelungen für das Internet
4.1.3 Subventionen ohne Grenzen – Für das kulturelle Überleben Europas
4.2 Europa TV, The European & Co. – Aufstieg und Fall transnationaler Medien
4.3 Risiken auf dem Medienmarkt und Chancen transnationaler Medien

5. Quo vadis, Europa? – Zusammenfassung und Ausblick

Anlagen
I) Sendungsskript „MONITOR“ vom 27.4.2006
II) Sendungsskript „PANORAMA“ vom 12.5.2005
III) Anteil der Werbeeinnahmen am Budget der europäischen öffentlich-rechtlichen Rundunksender im Jahr 2000

Literaturverzeichnis

1. Einführung

1.1 Das Problem: Die EU zwischen Legitimations- und Öffentlichkeitsdefizit

Als vor dem Irakkrieg im Jahr 2003 in allen Ländern Europas gegen George Bush und seine Politik demonstriert wurde, war für eine kurze Zeit zu erkennen, was gemeint sein könnte mit der vielzitierten und hinlänglich vermissten europäischen Öffentlichkeit. Über Ländergrenzen hinweg wurde mit- und übereinander diskutiert und sogar gleichzeitig demonstriert – gegen ein und dieselbe Sache, nämlich den Krieg im Irak.

Eine Gruppe Intellektueller nahm diese Massenproteste zum Anlass, um in den europäischen Qualitätszeitungen eine neugeborene gemeinsame Öffentlichkeit zu feiern. Auf Initiative von Jürgen Habermas diskutierten Adolf Muschg in der Neuen Zürcher Zeitung, Umberto Eco in La Repubblica, Gianni Vattimo in La Stampa, Fernando Savater in El País, Richard Rorty in der Süddeutschen Zeitung sowie Jacques Derrida und Jürgen Habermas sowohl in Libération als auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) über die Veränderung des geopolitischen Gleichgewichts nach dem Irakkrieg. Habermas und Derrida schrieben Ende Mai 2003 in der FAZ von einem historischen Moment, nämlich dem 15. Februar 2003, „als die demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und Paris auf diesen Handstreich reagierten1. Die Gleichzeitigkeit dieser überwältigenden Demonstrationen (...) könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen“.2

Dieser Versuch, eine grenzüberschreitende und vielsprachige Debatte über die Identität Europas und die Perspektiven der Europäischen Union (EU) anzustoßen, war verdienstvoll. Doch ähnlich wie die von Joschka Fischer mittels seiner „Quo Vadis“-Rede an der Berliner Humboldt Universität3 angezettelte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union, verdeutlicht er, dass Europa in einer Eliten-beziehungsweise Expertenöffentlichkeit verharrt. Das Ganze war eher eine Art Diskursfeuerwerk als die transnationale Debatte, die sich Habermas damals vorstellte. Eine europäische Öffentlichkeit der Massen ist dadurch nicht entstanden. Denn genau an Debatte und Anteilnahme mangelt es in den Mitgliedsländern. Das belegt unter anderem die überdurchschnittlich niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen im Juni 2004. 342 Millionen Bürger waren aufgerufen, das Europäische Parlament zusammenzustellen. Nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligte sich, in den zehn neuen Beitrittsländern war es gar nur knapp ein Drittel. Auch dem Verfassungskonvent gelang es nicht, das Interesse der nationalen Massenöffentlichkeiten zu gewinnen. Die regelmäßig von der EU durchgeführte Eurobarometer−Studie vom Frühjahr 2003 zeigte, dass nur 30 Prozent der europäischen Bürger überhaupt schon einmal von diesem Gremium gehört hatten.4

Die Europäer sind nicht nur schlecht informiert über die Institutionen der EU, sie fühlen sich vor allem machtlos gegenüber den Regierenden im fernen Brüssel. Die Entscheidungsmechanismen der EU erscheinen ihnen als „eine recht undurchsichtige Gemengelage, die von verwinkelten Schachzügen zwischen den drei Machtzentren [Kommission, Parlament, Rat] geprägt ist – die sich gegenseitig kontrollieren sollen und die sich überdies blockieren können.“5 Joschka Fischer formulierte das Legitimitäts- und Öffentlichkeitsdefizit in seiner Rede an der Humboldt Universität noch drastischer: Die EU gelte „als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen Eurokratie in Brüssel und bestenfalls als langweilig, schlimmstenfalls aber als gefährlich.“6

Zwar hat sich bei den Bürgern dank europäischer Erscheinungen wie dem Schengener Abkommen, der Einführung des Euro, dem europäischen Pass oder zahlreicher Schüler- und Studentenaustauschprogramme ein Bewusstsein für Europa und den europäischen Einigungsprozess gebildet; die Relevanz der EU im täglichen Leben ist jedoch noch nicht in den Köpfen angekommen. So resümiert Leonard Novy:

„Ihre Relevanz im Alltag wird nicht erfasst; ihre Entscheidungen scheinen geradewegs aus dem Nichts zu kommen; was über sie bekannt ist, geht an den Bedürfnissen der Bürger vorbei und ruft nicht selten Protest hervor. Insgesamt wird die EU als eine vorwiegend die Binnenmarktintegration betreffende Angelegenheit zwischen Staaten verstanden, aber nicht selbst als Gemeinwesen, das die Möglichkeit und Notwendigkeit der Teilhabe und Identifikation mit sich bringt.“7

Betrachtet man all diese Kommentare, mag es kaum noch verwundern, dass die Referenden über den europäischen Verfassungsvertrag im vergangenen Jahr in zwei Ländern gescheitert sind. Und das nicht etwa in zwei osteuropäischen, jungen Beitrittsstaaten, wo die Skepsis gegenüber einer Machtabgabe an Brüssel erfahrungsgemäß höher ist als andernorts. Mit dem „Non“ aus Frankreich und dem ‚Nee’ aus den Niederlanden entschieden sich zwei Gründungsmitglieder der EU gegen eine gemeinsame Verfassung und versetzten dem Jahrzehnte andauernden Einigungsprozess vorzeitig ein abruptes Ende. Das Verfassungsprojekt ist seit dem zwar nicht zu den Akten, zumindest aber vorerst auf Eis gelegt. Die EU hatte sich auf eine Denkpause geeinigt, die klären sollte, wie nach der Ablehnung des Verfassungsvertrags weiter vorgegangen werden sollte. Gut ein Jahr nach der Ablehnung, am 27. Mai 2006, trafen sich die EU-Außenminister im Stift Klosterneuburg bei Wien und verkündeten, dass es gelungen sei, „wieder Schwung in die Zukunftsdebatte der EU zu bringen, die Redehemmung ist vorbei“8. Konkret bedeutet dies aber, dass bis zum Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentenschaft im ersten Halbjahr 2007 nicht am Verfassungsprojekt gearbeitet wird und ein Inkrafttreten damit nicht vor 2009 möglich ist. Bis dahin gelte es, die EU-Bürger zu mobilisieren und für das Vorhaben zu begeistern.9

1.2 Die Vorgehensweise: Menschen, Medien und Öffentlichkeit in Europa

Es kommt nicht überraschend, dass sich die Politik nach den gescheiterten Referenden nun auf die Bürger konzentriert. Denn dass es der EU an Öffentlichkeit mangelt, wissen die Entscheider in Brüssel nicht erst seit den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Bereits 1996 bekräftigte die EU den Wunsch nach einer stärkeren Integration der Bürger und berücksichtigte in ihrem Jahresprogramm den „Aufbau eines Europas der Bürger unter besonderer Betonung bürgernaher Politiken, die dazu beitragen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft zu stärken“10. Was seitdem auf EU-Ebene unternommen wurde und welcher Voraussetzungen es bedarf, um den europäischen Einigungsprozess fortzusetzen beziehungsweise neu zu legitimieren, ist das Thema dieser Arbeit.

Nachdem noch in der Einführung der aktuelle Forschungsstand um die Debatte eines europäischen Öffentlichkeitsdefizits zusammengefasst wird, folgt unter Punkt zwei ein intensiverer Einblick in die europäische Öffentlichkeit. Es soll geklärt werden, welche Rolle die Massenmedien bei ihrer Herausbildung spielen und an welchen Schwierigkeiten diese bisher gescheitert ist. Dabei wird auf Probleme technischer, ökonomischer, soziokultureller und vor allem medienspezifischer Art eingegangen. Im Folgenden werden zwei Bestandteile einer europäischen Gesamtöffentlichkeit eingehender betrachtet: europäische Bürger (3.) und europäische Medien (4.). Unter Punkt drei werden die Gründe für das Scheitern der Verfassungsreferenden beleuchtet und die verschiedenen Bemühungen der EU, ein besseres Verhältnis zu ihren Bürgern aufzubauen, erläutert und bewertet. Namentlich sind das die Kampagnen um den Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion sowie verschiedene internetbasierte Öffentlichkeitsinitiativen.

Anschließend wird die Lage auf dem europäischen Medienmarkt untersucht. Hierfür wird die aktuelle Medienpolitik beschrieben, insbesondere die Entwicklung der Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ und die der Filmförderprogramme MEDIA. Anschließend folgt der Blick auf transnationale Medien, wie sie entstanden sind und weshalb die meisten von ihnen scheiterten. Das Kapitel wird beendet durch eine Bewertung der Chancen und Risiken aktueller Trends auf dem Medienmarkt.

Der letzte Punkt der Arbeit wagt einen Ausblick unter dem Namen „Europa, quo vadis.“ Hier wird noch einmal zusammengefasst, warum die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit für den Einigungsprozess unabdingbar ist und wie die Chancen auf Verwirklichung nach Betrachtung aller zuvor aufgeführten Punkte tatsächlich stehen. Es soll aufgezeigt werden, welche Schritte notwendig sind, um das europäische Projekt fortzuführen und weshalb es sich lohnt den Verfassungsprozess weiter voranzutreiben.

Ziel der Arbeit ist es herauszustellen, dass der europäische Einigungsprozess erst dann fortgesetzt beziehungsweise neu legitimiert werden kann, wenn die Herausbildung einer europäischen Massenöffentlichkeit gelingt.

1.3 Der Forschungsstand: Die Empirie europapolitischer Kommunikation

Die Annahme, dass die EU unter einem „Öffentlichkeitsdefizit“ leidet, ist im akademischen wie publizistischen Diskurs weit verbreitet. Man spricht von einem europäischen Einigungsprozess, der sich in zwei Geschwindigkeiten realisiere: Während die politischen, ökonomischen und juristischen Sphären zusehends konvergierten, blieben die Kommunikationsstrukturen national verhaftet.11 Doch die Meinungen darüber, wie gravierend das vielzitierte Öffentlichkeitsdefizit der EU ist und ob es überhaupt behoben werden kann, gehen recht weit auseinander, was nicht zuletzt auf unterschiedliche normative Prämissen zurückzuführen ist.

1.3.1 Die Skeptiker

Lange Zeit dominierten die Skeptiker. Sebastian Esser bezeichnet sie gar als Pessimisten12. Wissenschaftler wie Peter Graf Kielmansegg und Dieter Grimm gehen vom Ideal eines paneuropäischen Kommunikationsraums aus. Sie argumentieren, dass eine „wirkliche“ europäische Öffentlichkeit sowohl ein einheitliches, alle Mitgliedsstaaten umfassendes Mediensystem als auch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsam erfahrene Geschichte voraussetzt. Da diese Bedingungen allein angesichts der sprachlichen Heterogenität in der EU nicht erfüllt sind und von einem Demos im klassischen, staatszentrierten Sinne schon gar keine Rede sein könne, sei es um die Aussichten für Öffentlichkeit, Identität und Demokratie in der Union schlecht bestellt. Von Austausch, gegenseitiger Verständigung und gemeinsamer Identität sei keine Spur. Kielmansegg vertritt folgende Meinung:

„Es sind Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kollektive Identität sich herausbildet, sich stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa, ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft. Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, weil Europa ein vielsprachiger Kontinent ist − das banalste Faktum ist zugleich das elementarste.“13

Da es „auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen Diskurs geben wird“14, sieht auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Grimm das Projekt einer Demokratisierung Europas zum Scheitern verurteilt. Europäische Entscheidungsprozesse stünden nicht in derselben Weise unter Publikumsbeobachtung wie nationale.15 „In ihrem Kern“, resümieren die beiden Journalisten Andreas Oldag und Hans−Martin Tillack angesichts des Mangels an Information und Diskurs, „ist die EU ein vordemokratisches Gebilde geblieben − die Bürger bleiben außen vor“.16

Die Skeptiker betrachten den Nationalstaat als die Norm, mit der sich eine europäische Öffentlichkeit messen lassen muss. Sollte es eine übernationale Öffentlichkeit geben, würde sie aussehen wie eine nationale Öffentlichkeit. Dies ist ein unerfüllbares Ideal, denn in einer Staatengemeinschaft mit 25 Mitgliedern kann es nicht das eine, kulturell und vor allem sprachlich homogene Publikum geben. Novy ist daher der Meinung: „Es gibt (...) keine europaweite Öffentlichkeit, sondern allenfalls eine Experten−Öffentlichkeit der Berufseuropäer aus Wirtschaft und Politik, die sich über europaweit verbreitete Elitemedien wie Financial Times, Economist oder Euronews informieren.“17 Von oben herab, mittels Verordnungen und finanzschwerer Programme herstellbar sei eine solche von Estland bis Gibraltar, von Schottland bis Zypern reichende Öffentlichkeit schon gar nicht. Genauso sei klar, dass sich nationalstaatliche Identitäten nicht durch Hymne, Flagge und Feiertag zu einer europäischen Identität verschmelzen lassen, so dass die EU auf absehbare Zeit eine aus nationalen Öffentlichkeiten zusammengesetzte sein werde.18

1.3.2 Die Liberalen

Verstanden im Sinne eines liberal-politikwissenschaftlichen Ansatzes haben vier Autoren versucht, das Öffentlichkeitsdefizit der EU empirisch zu überprüfen: Jürgen Gerhards (2000, 2001), Christoph O. Meyer (1999, 2000) sowie Ruud Koopmans und Jessica Erbe (2003). Esser bezeichnet diese Vertreter als liberal, weil ihr Modell keine hohen Ansprüche an eine europäische Öffentlichkeit stellt: Es genüge, wenn die europäische Politik transparent gemacht wird, wenn also durch die Abbildung des politischen Geschehens demokratische Kontrolle prinzipiell ermöglicht wird.

Gerhards kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass sich die über Jahrzehnte ständig zunehmende Bedeutung und die Zuwächse der Entscheidungskompetenzen der EU nicht in einem gleichzeitigen Zuwachs der öffentlichen Berichterstattung widerspiegeln. Das Öffentlichkeitsdefizit besteht deshalb darin, dass wichtige Entscheidungen zwar von der EU gefällt werden, die Massenmedien sich aber weiterhin auf nationalen Institutionen konzentrieren.19 Gerhards selbst gesteht aber an anderer Stelle zu, dass die von ihm benutzten Daten eine recht schwache Operationalisierung des theoretischen Konstrukts darstellen und hält fest: „Es fehlen schlichtweg ländervergleichende Zeitreihenanalysen, die eine fundierte Antwort ermöglichen können.“20 Die Studien seines Kollegen Christoph O. Meyer kritisiert Gerhards, weil dieser anhand eines sehr speziellen Fallbeispiels (Meyer untersuchte den Rücktritt der Santer-Kommission) beweisen will, dass sich nationale Öffentlichkeiten gegenseitig beeinflussen und übernationale Wirkung haben können. Es handle sich nicht um Zeitreihenuntersuchungen, die geeignet seien die These des sich auflösenden Öffentlichkeitsdefizits zu stützen. Bei der Berichterstattung über den Rücktritt der Santer-Kommission handle es sich um „Skandalkommunikation“, nicht um den Normalfall der alltäglichen EU-Nachrichten.21 Nichtsdestotrotz ist diese Untersuchung ein Nachweis für übernationale Kommunikation und die gegenseitige Beeinflussung nationaler Öffentlichkeiten. Ruud Koopmans und Jessica Erbe stellten mittels einer politischen Claim-Analyse in sieben Politikfeldern für das Jahr 2000 fest, in welchem Umfang verschiedene Formen von Europäisierung in der deutschen Presse tatsächlich vorhanden sind. Ihre Ergebnisse stellen zumindest teilweise die These des Öffentlichkeitsdefizits in der Europäischen Union in Frage: „Die Europäisierung der politischen Kommunikation variiert erheblich je nach Politikfeld, und in Bereichen mit klarer Kompetenzübertragung zur supranationalen Ebene scheint der öffentliche Diskurs in den Massenmedien durchaus nachzuziehen.“22

1.3.3 Die Optimisten

Darauf aufbauend vertreten vor allem Klaus Eder und seine Mitarbeiter in Berlin den Standpunkt, dass es bereits in relevantem Ausmaß kollektive Meinungsbildungsprozesse in Europa gibt – ein Öffentlichkeitsdefizit bestehe nicht.23 Esser bezeichnet die Wissenschaftler als post-habermasianische Schule, weil sie den Begriff „Öffentlichkeit“, wie ihn Habermas definiert hat, modifizieren. Habermas sprach von Öffentlichkeit, wenn ein anonymes Massenpublikum „zur gleichen Zeit die gleichen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten“24 diskutiert. Anders als dieser hält es die Berliner Schule jedoch nicht für entscheidend, ob die gleichen Meinungen vertreten werden oder ob ein Konsens erzielt wurde:

„Wenn unterschiedliche Akteure unterschiedliche Meinungen und Einstellungen äußern, heißt das noch nicht, dass sie nicht Kommunikationsteilnehmer in einem gemeinsam geteilten öffentlichen Raum sind. (...) Wenn keine Kommunikation stattfindet, kann kein Dissens auftreten. Dissens ist aber gerade ein Indikator für Kommunikationsprozesse.“25

Eine EU-weite Öffentlichkeit entsteht also schon dann, wenn Themen als gemeinsame Themen akzeptiert werden und darüber unter gleichen Relevanzgesichtspunkten diskutiert wird. Auch wenn sie ein Thema nur über die Berichterstattung ihrer nationalen Zeitungen und Fernsehsender verfolgen, teilen die Unionsbürger demnach durchaus transnational ein gewisses Maß an wechselseitiger Informiertheit. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass sich Öffentlichkeit in Europa als Prozess der Europäisierung bestehender nationaler Kommunikationsräume ergibt. Die Mehrsprachigkeit der EU stelle keinen prinzipiellen Hinderungsgrund für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit dar.

Kritiker werfen der Berliner Schule vor, dass allein die Themenkonvergenz nicht ausreiche, damit von Öffentlichkeit die Rede sein kann. Leonard Novy spricht von zusätzlichen Kriterien „wie der Bewertung der europaweit diskutierten Themen unter einer europäischen Perspektive, wechselseitiger Beobachtung der nationalen Arenen und gegenseitiger Bezugnahme in der Berichterstattung“26, die erfüllt werden müssten, um von Öffentlichkeit zu sprechen. Auch Sebastian Esser hält die Definition für kritisierbar:

„Wenn die gleichzeitige Diskussion von Themen ausreicht, um von Öffentlichkeit zu sprechen, gibt es unzählige übernationale Öffentlichkeiten. Dann gäbe es auch eine deutsch-amerikanische Öffentlichkeit (Golfkrieg), eine deutsch-russische Öffentlichkeit (Beutekunst) und eine deutsch-tibetanische Öffentlichkeit (Menschenrechte).“27

All diese Diskussionen, so Esser, würden aber nicht zur Entwicklung einer kollektiven Identität führen. Es sei fraglich, ob eine themenbasierte Diskussion als Grundlage einer identitätsstiftenden Öffentlichkeit ausreiche.28

1.3.4 Zusammenfassung der Meinungen und Modelle

Die hier beschriebenen Theorieschulen sind sich prinzipiell einig darüber, dass Kommunikation die Voraussetzung für demokratische Entscheidungsfindung und Machtausübung ist. Uneinigkeit herrscht über die Bedeutung des Begriffs „Öffentlichkeit“ und die Funktionen, die Öffentlichkeit erfüllen sollte.

Während liberale Ansätze Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft verstehen, welches politische Ereignisse möglichst genau widerspiegelt29 und so demokratische Kontrolle ermöglicht, sehen traditionelle Ansätze Öffentlichkeit als Instrument einer Gemeinschaft, die durch öffentliche Kommunikation ihre kollektive Identität stärkt und so demokratische Machtausübung legitimiert. Hingegen gehen deliberative Ansätze, wie die der Berliner Schule, davon aus, dass diskursive Debatten dem Erreichen eines demokratisch rationalen Konsenses nach dem habermasianischen Diskursideal dienen.

Das Demokratiedefizit der EU entstand laut den Anhängern des liberalen Widerspiegelungsmodells dadurch, dass die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit nicht mit dem Tempo des stetigen Machtzuwachses der EU mithalten kann. Für die pessimistische Schule ist ein Demos Voraussetzung für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit. Die Entwicklung einer gemeinsamen Identität hält sie jedoch für so unwahrscheinlich, dass eine europäische Öffentlichkeit für unmöglich gehalten wird. Ganz anders die Post-Habermasianer: Sie gehen davon aus, dass schon längst ein europäischer Diskurs existiert.

1.4 Definition zentraler Begriffe

1.4.1 Öffentlichkeit

In der aktuellen Debatte über die Zukunft der Europäischen Union ist oft von „Öffentlichkeit“ die Rede. Auch in der vorliegenden Arbeit nimmt dieser Begriff eine zentrale Rolle ein. Öffentlichkeit soll hier im Sinne von Habermas verstanden werden. Sie bezeichnet demnach die Gesamtheit der möglicherweise an einem Ereignis oder Geschehen teilnehmenden Personen ohne jede Begrenzung in der Anzahl oder sonstige Einschränkungen. In „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ bezeichnet Habermas Öffentlichkeit als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“30. Sie sei ein normatives, basisdemokratisch orientiertes Idealmodell und stelle den Bereich dar, in dem alle Bürger Themen mit öffentlicher Relevanz diskutieren. Öffentlichkeit bildet also ein „Netz für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (...), das sich nach der Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität und Reichweite nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (...) bis zur abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit.“31

1.4.2 Europäische Öffentlichkeit

Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist der derzeit vielzitierte Begriff der „europäischen Öffentlichkeit“. In Kapitel 1.3 wurden bereits die drei vorherrschenden Modelle europäischer Öffentlichkeit und des daran gekoppelten Öffentlichkeitsdefizit vorgestellt und analysiert. In dieser Arbeit soll der Öffentlichkeits-Begriff um das Präfix „Massen“ ergänzt werden. Damit soll eine Abgrenzung zur „Berliner Schule“32 erfolgen, die bereits von einer europäischen Öffentlichkeit in Teilen bzw. Experten- und Elitenforen ausgeht. An dieser Stelle sei die Herausbildung einer europäischen Massenöffentlichkeit als Voraussetzung zur Legitimation des europäischen Einigungsprozesses betont. Sie schließt alle Bürger Europas ein und ist stark mit der Entstehung einer gemeinsamen Identität verbunden.33 Eine europäische Massenöffentlichkeit wird gekennzeichnet durch ein europäisches Publikum, das von einem einheitlichen europäischen Mediensystem mit Informationen versorgt wird – selbst wenn dies in jeweils unterschiedlichen Sprachen geschieht, muss die Medienlandschaft die selben Nachrichten melden und diskutieren. Dieses Publikum besteht aus Bürgern, die neben ihrer Nationalität auch ihre Zugehörigkeit zu Europa anerkennen; sie achten die transnationalen Institutionen und fühlen sich einer europäischen Wertegemeinschaft zugehörig. Europäische Massenöffentlichkeit wird also als Bewusstsein für europäische Belange und die Existenz von politischen Diskursen aus einer europäischen Perspektive heraus definiert.

1.4.3 Demokratiedefizit der Europäischen Union

Eng verbunden mit dem Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit ist das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Die in Brüssel akkreditierten Journalisten Andreas Oldag und Hans-Martin Tillack zitieren EU-Kommissar Günther Verheugen mit den Worten: „Würde sich die EU bei uns um Beitritt bewerben, müssten wir sagen: demokratisch ungenügend.“34 Dieser Mangel an Demokratie ergibt sich daraus, dass ein Organ, das zugleich Legislativ- und Exekutivbefugnisse innehat (der Ministerrat), und ein Organ, dem eine echte demokratische Legitimität fehlt (die Europäische Kommission), die dominierende Rolle in der EU spielen. Es fehlt zudem an Kernmerkmalen innerstaatlicher Demokratien wie beispielsweise dem Dauerstreit zwischen Regierung und Opposition. Erschwerend hinzu kommen die undurchsichtigen institutionellen Verästelungen und Verflechtungen sowie die für den Bürger schwer durchschaubaren Entscheidungsstrukturen und die fehlende Verbindung der Wahlen zur Besetzung der europäischen Exekutive, also der Europäischen Kommission.

1.4.4 Öffentliche Meinung

Vom Demokratiedefizit sowie dem Fehlen einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit ist auch die Herausbildung einer öffentlichen Meinung betroffen. Ergebnis der in Punkt 1.4.1 beschriebenen Debatten der Öffentlichkeit ist laut Habermas die vernünftige öffentliche Meinung, welche die Grundlage politischer Entscheidungen bildet: „Das Selbstverständnis der Funktion bürgerlicher Öffentlichkeit hat sich im Topos der `öffentlichen Meinung′ kristallisiert.“35 Laut Noelle-Neumann entspringt die öffentliche Meinung dem Streben der in einer Gemeinschaft lebenden Menschen, gemeinsame Grundlagen zu finden, um handeln und entscheiden zu können. Regierung und Bürger müssen die öffentliche Meinung respektieren. Der Regierung droht andernfalls der Machtentzug; dem Einzelnen die Isolation, der Ausschluss aus der Gesellschaft. Daraus erwachsen zwangsweise Integration und Konsens.36 Die Sphäre der politischen Öffentlichkeit dient also der wechselseitigen Beobachtung und Kommunikation zwischen Bürgern, den Akteuren des politischen Systems, sowie der Gesellschaft allgemein. Daraus erhalten alle Gruppen Orientierung für ihr Handeln. Finden jedoch, wie von Habermas verlangt, keine transnationalen Debatten statt und streben die europäischen Bürger, wie von Noelle-Neumann vermutet, nicht nach einer gemeinsamen Grundlage, so kann es nicht zur Herausbildung einer öffentlichen Meinung kommen. Diese ist aber vonnöten, um den europäischen Einigungsprozess fortzusetzen und neu zu legitimieren.

1.4.5 Legitimierung

Allgemein meint „Legitimierung“ die Rechtfertigung von Autoritäts- und Rechtsvorstellungen sowie von Macht- und Herrschaftsstrukturen mit Hilfe von Argumentationsmustern, die von den Adressaten einer Verhaltensanforderung akzeptiert werden. Im Zusammenhang mit dem europäischen Einigungsprozess meint der Begriff die Rechtfertigung der Vertreter der europäischen Institutionen gegenüber den Bürgern der EU, das europäische Projekt und damit auch die europäische Integration (durch die Aufnahme neuer Kandidaten) weiter voranzutreiben.

2. Europäische Öffentlichkeit – Wunsch und Wirklichkeit

Gibt es eine europäische Öffentlichkeit? Kann es sie überhaupt geben? Diese Fragen beschäftigen neben Wissenschaftlern auch die Bürokraten in Brüssel, und das nicht erst seit gestern. Die verschiedenen Meinungen und Ansätze zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit wurden bereits weiter oben ausgeführt. Hinzu kommen institutionelle Bemühungen seitens der Europäischen Union, auf die im dritten Abschnitt näher eingegangen werden soll. Doch sowohl die Entstehung einer einheitlichen europäischen Öffentlichkeit als auch die (vermeintlich eher zu realisierende) Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten werden durch zahlreiche Faktoren erschwert und behindert.

2.1 Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit

Die hier aufgeführten Faktoren sind nicht immer eindeutig zuzuordnen, ihre Bedeutungen überschneiden sich und bedingen einander. Dennoch bietet sich die Unterteilung in vier Bereiche – soziokulturelle, ökonomische, institutionelle und medienspezifische Faktoren – an:

a) Soziokulturelle Faktoren

Seit ihrer bisher größten Erweiterung im Jahr 2004 werden in der Europäischen Union 20 Amtssprachen gesprochen. Mit den bereits beschlossenen Beitritten von Bulgarien und Rumänien im kommenden Jahr sowie der geplanten Aufnahme von Kroatien, der Türkei und Mazedonien, werden weitere Sprachen hinzu kommen. Diese Sprachenvielfalt gilt vielerorts als „Kommunikationsbarriere“, von einem „babylonischen Sprachengewirr“37 ist die Rede. Vor allem Kielmansegg und Grimm sind der Meinung, dass ohne eine gemeinsame Sprache keine Kommunikationsgemeinschaft entstehen könnte.38 Eine gemeinsame Nutzung von Medien wäre so nicht möglich. Zwar könnten europäische Themen und übersetzte Beiträge von Sprechern anderer Nationalität in den nationalen Medien präsentiert und oberflächlich verstanden werden, „ein wechselseitiges Begründen der durch nationale Interessen und Identitäten geprägten Meinungen zu kontroversen Themen sei jedoch unwahrscheinlich, weil eine gemeinsame Perspektive nicht hergestellt werden könne“39. Unterstützt wird diese These von Machill, der fünf verschiedene Nachrichtenbeiträge des europäischen Fernsehkanals Euronews miteinander verglichen hat und zu dem Ergebnis kommt, dass es in den einzelnen Sprachen „zum Teil erhebliche Unterschiede bei der Gestaltung der Nachricht“ gegeben hat.40 Ergänzend dazu meint Greven:

„Dort wo die politische Kommunikation grenzüberschreitend verschiedene Räume zu verbinden oder gar zu integrieren versucht, entstehen Übersetzungsprobleme, weil die wörtliche Übersetzung nicht unbedingt die Sinn- und die Bedeutungszuschreibung angemessen wiedergibt. In der Politikwissenschaft sind solche Probleme hinlänglich bekannt und die wissenschaftliche Kommunikation verfügt über Methoden und Wege, diese Übersetzungsleistungen einigermaßen sinnadäquat aus einem politischen Raum in den anderen zu vollziehen. Für die Veralltäglichung politischer Kommunikation ganzer Gemeinschaften im politischen Prozess bestehen aber ganz andere Probleme (...) als unter Experten. Zentrale politische Begriffe, Institutionen und Ämter haben im jeweiligen politischen Raum eine gewisse Bedeutung und Valenz bekommen, die zwar nicht umwandelbar, aber doch zunächst einmal spezifisch ist.“41

Die Meinung einiger Europaverfechter, dass die Europäer doch Englisch als second first language in der politischen Kommunikation benutzten könnten42, hätte allerdings elitäre Konsequenzen: Wenn die Bürger nicht in ihrer Muttersprache passiv an der politischen Kommunikation teilhaben können, tun es nur noch diejenigen mit ausgereiften Sprachkenntnissen und noch weniger wären in der Lage, aktiv am öffentlichen Diskurs teilzunehmen.43 Dies würde die Diskriminierung breiter Bevölkerungsteile bedeuten und wäre weit von dem entfernt, was europäische Massenöffentlichkeit bedeutet.

Trotz dieser Erkenntnisse nimmt die EU-Forschung Abstand davon, Sprache als wichtigste Bedingung für Öffentlichkeit zu sehen. Andreas Beierwaltes zum Beispiel ist der Meinung, die These könne im Vergleich mit multilingualen Staaten nicht standhalten.44 Mit Verweis auf Länder wie die Schweiz oder Indien ist er der Meinung, „dass die Errichtung einer Demokratie und einer sie stützenden Identität auch dann möglich ist, wenn die Sprache als bindendes Mittel auszuscheiden scheint.“45 Sicher können Kanada, Belgien oder die Schweiz als Beispiele eines gelungenen Nebeneinanders mehrerer Sprachen gesehen werden, doch spielen in der EU weit größere Dimensionen eine Rolle. In den genannten Staaten werden zwei oder drei Sprachen parallel genutzt, ein Übertragen der dort angewandten Methoden auf die 20 in Europa gesprochenen Sprachen ist unmöglich. Diese mehrsprachigen Demokratien sind „in keinem Fall [mit] der europäischen Vielsprachigkeit vergleichbar, auch im Indischen nicht, in dem die Kolonialsprache Englisch die Sprachenvielfalt jedenfalls für praktische Zwecke – noch – einigermaßen überbrückt.“46

Weitere „Trägheitsmomente“ bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit sieht Gerhards im limitierten Zugang zu europäischen Medien sowie in der mangelnden Erzeugung von Betroffenheit, in den unzureichenden Personalisierungsmöglichkeiten einer als überkomplex wahrgenommenen europäischen Politik und in den fehlenden Einflussmöglichkeiten auf die europäische Politik.47 Das letztgenannte Kriterium ergibt sich aus verschiedenen institutionellen Faktoren, auf die später noch genauer eingegangen wird. Dennoch sei bereits darauf hingewiesen, dass sich die Kommission der EU seit einiger Zeit um mehr Beteiligung der Bürger bemüht. Diese künstlich geschaffenen Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Beteiligung am Grünbuch für mehr Transparenz auf der Internetseite der Kommission48, sind einerseits lobenswert, werden andererseits aber nicht ausreichend bekannt gemacht. Hier zeigt sich die oftmals mangelhafte Öffentlichkeitsarbeit der EU. Zwar hat sich, wie Christoph O. Meyer feststellt, der Etat für diesen Arbeitsbereich in der Zeit von 1992 bis 1998 von 34,9 Millionen auf 102,5 Millionen DM verdreifacht, die Strukturdefizite der Öffentlichkeitsarbeit wurden dadurch aber nicht behoben.49 Auch darauf soll an anderer Stelle noch genauer eingegangen werden.

Die mangelnde Bereitschaft der Bürger, sich am Integrationsprozess zu beteiligen, ist also zum einen der schlechten Kommunikation der EU-Institutionen mit ihren Einwohnern geschuldet. Ein weiterer Grund, der sich zum Teil aus dem zuvor Genannten ergibt, ist das große Informationsdefizit der Bürger. Vielen Menschen sind die Bedeutung, welche die EU mittlerweile einnimmt, sowie deren Institutionen und Vertreter unbekannt. Nur zögerlich findet das Thema „Europa“ Eingang in die Lehrpläne der Schulen: oft sind es Wahlfächer oder fakultative Projekte, die sich damit auseinander setzen. Die Wissenslücken bei den älteren Generationen zu schließen, muss Aufgabe der Politik und der Medien sein (siehe Punkt 2.2).

b) Ökonomische Faktoren

Schlesinger und Kevin sind der Ansicht, dass weniger die direkten politischen Interventionen, mit denen die EU das Ziel verfolgt, einen europäischen Medienraum zu schaffen oder die Öffentlichkeit über europäische Themen zu informieren, wichtig für die Entwicklung transnationaler Eliten-Publika und Leserschaft seien, als vielmehr der Medienmarkt selbst.50 Medien und dabei vor allem Printmedien finanzieren sich aber durch Verkauf und durch Werbung, wobei die Werbeeinnahmen wiederum von den Verkaufs- bzw. Zuschauerzahlen abhängen. Deshalb weisen Schlesinger und Kevin darauf hin, dass ein solcher europäischer Medienmarkt nicht ohne institutionelle Rahmen-Regulierungen der EU funktionieren könne: „To the extent that pan-European media have begun to emerge in the press and in the television (...) their market-seeking behaviour has been the driving force rather than the search for the new public imagined in normative theorie.“51 Ulrike Liebert stellt fest, dass Schlesinger und Kevin sich mit dieser Aussage von den soziokulturellen Prämissen lösen. Die beiden Wissenschaftler würden stattdessen ökonomische Argumente zur Erklärung der Chancen und Hinderungsgründe für europäische massenmedial vermittelte Öffentlichkeit betonen. Sie setzten auf ökonomische Marktmechanismen, allerdings unter Einbeziehung politisch-institutioneller Rahmenbedingungen.52

c) Institutionelle Faktoren

Die größten Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit liefert die EU selbst, beziehungsweise ihre Institutionen. Vor allem die Verfahren zur Vorbereitung, Findung und Kontrolle von Entscheidungen bleiben für den Normalbürger undurchsichtig und kompliziert. Erschwerend hinzu kommt, dass sich diese Entscheidungsprozesse nicht nur zwischen den drei Säulen der EU53 unterscheiden, sie variieren sogar beinahe von Politikfeld zu Politikfeld. Sie sind nicht nur für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Selbst Journalisten haben oft Schwierigkeiten derartige Projekte in ihrer Gesamtheit zu verfolgen und sie vollständig und dennoch verständlich darzulegen. Das liegt zum einen an der hohen Anzahl beteiligter Institutionen und Vertreter, die den Prozess vom Vorschlag zum verabschiedeten Gesetzt sehr langwierig macht. Der Definitions-, Normierungs- und Regelungsbedarf der EU ist naturgemäß viel höher als der auf nationaler Ebene, denn „ein Hauptschulabschluss oder der Überrollbügel eines Traktors mag in Portugal etwas anderes sein, als in Frankreich oder in den Niederlanden.“54 Diese wichtigen verwaltungstechnischen Regelungen lassen alle wichtigen Nachrichtenfaktoren wie Konflikte, Dramatik und Nähe vermissen und sind deshalb für die Medien nur langweilige Information. Zum anderen werden die meisten Entscheidungen in Brüssel noch immer hinter verschlossenen Türen getroffen. Journalisten können Konflikte deshalb kaum sichtbar machen, was den Nachrichtenwert eines Themas aber stark erhöhen würde. Am Ende werden die Ergebnisse dann von der Behörde als ganzer gemäß ihres Kollegialprinzips vertreten. Dadurch tritt niemand hervor und die Konflikte der Kommissare untereinander werden nur selten öffentlich. Gerade die sind aber für Journalisten interessant. Auch der Ministerrat tagt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch er präsentiert seine Beschlüsse einvernehmlich, ohne dass Kontroversen und Stimmverhalten öffentlich werden. Dass das Kollegialprinzip öffentliche Vermittlung blockiert, bestätigt ein durch Jürgen Gerhards befragter Korrespondent: „Brüsseler Politik bedeutet Menschen, meist Männer in grauen Anzügen, sitzen um einen Tisch herum und nach diversen Diskussionen kommt jemand und teilt der Presse die Beschlüsse mit“.55

Auch für die Bürger ergeben sich Restriktionen, die verhindern, das Geschehen in Brüssel mit Interesse zu verfolgen. Wie schon bei den Journalisten ist die Intransparenz der Entscheidungsprozesse dem Verständnis der Bürger gegenüber den Institutionen der EU abträglich. Hinzu kommt, dass die Legitimationskette vom Bürger zum politischen Entscheidungsträger extrem lang beziehungsweise die von der Kommission zum Bürger nicht einmal lückenlos konstruierbar ist.56 Die EU-Bürger sind in zunehmendem Maße von den Entscheidungen in Brüssel betroffen, das Zustandekommen der Gesetze und Regelungen nach denen es zu leben gilt, können sie jedoch in den meisten Fällen nicht nachvollziehen. Weil die Kommissare unabhängig von der Zustimmung der Bürger handeln und entscheiden können, sind sie nicht in der Öffentlichkeit präsent. Diese Abstinenz bewirkt ein unpersonalisiertes Vorgehen, was erneut der Medien- und Publikumsresonanz nicht entgegenkommt. Zuschauer wollen Ereignisse und Entscheidungen an Gesichter knüpfen oder sie zumindest mit bestimmten Parteien und Gruppierungen in Zusammenhang bringen. Auch diese Bedingung bleibt unerfüllt: Es findet keine medienwirksame Diskussion zwischen Regierung und Opposition statt, wie sie die Europäer aus ihren eigenen Ländern kennen. Es gibt keine machtvolle institutionalisierte Opposition und kaum außerparlamentarische Gegenöffentlichkeiten. „Neue soziale Bewegungen (...) fehlen in Brüssel fast gänzlich. Brüssel ist der Ort geräuschloser Lobbies, und nicht der lärmenden Protestakteure.“57 Eine Opposition wäre wichtig, um Beschlüsse und Beschlussabsichten aus dem Machtzentrum in die öffentliche Diskussion zu führen. Eine solche Opposition kann nur im Europäischen Parlament entstehen, welches auf Grund seiner Machtlosigkeit58 allerdings meist mit Nichtbeachtung durch die Medien bestraft wird. Zwar wurde das Europäische Parlament in den letzten 25 Jahren immer wieder gestärkt, doch dieser Bedeutungszuwachs hat sich weder in erhöhter Aufmerksamkeit noch in einer größeren Wahlbeteiligung widergespiegelt. Außerparlamentarische Opposition findet deshalb kaum statt, weil es keine sozialen Bewegungen mit einer eindeutigen Position zum Integrationsprozess gibt. Gerhards spricht in diesem Zusammenhang von „ideologischer Ambivalenz“, man könnte es aber auch als Meinungslosigkeit bezeichnen. Europa wird – wenn es denn thematisiert wird – oft immer noch als rundum positive Wundertüte präsentiert: die zunehmende Bedeutung der EU und ihrer Kompetenzen, die Unumkehrbarkeit des ganzen Projekts werden nicht wahrgenommen, Kontroversen und Kritik finden aufgrund der oben aufgeführten Bedingungen kaum oder nur im intellektuellen Bereich statt. Eine kritische Gegenöffentlichkeit kann sich so nicht bilden. Peréz-Diaz stellt fest, dass eine solche Opposition dringend notwendig wäre: „A European civil society needs a public sphere, namely, a critical mass of concerned citizens who discuss European issues and will (eventually) be ready to support European policy, as a precondition for a responsible European public authority.“59 Hinzu kommt das „strukturell angelegte Dilemma“60, dass basisnahe Organisationsformen kaum in der Lage sind, politische Entscheidungszentren zu erreichen, die weit weg von der Basis platziert sind, wie dies in Brüssel der Fall ist.

d) Medienspezifische Faktoren

Auch die Berichterstattung über europäische Themen in den Massenmedien wird durch einige Faktoren behindert. Einer der herausragendsten ist die weiter oben bereits angesprochene Nichterfüllung der Nachrichtenkriterien. Weil Europapolitik meist frei von Sensation, Nähe und Personalisierung ist, wird noch immer zu wenig über die EU berichtet. Auch Faktoren wie Einfachheit und Konflikt werden selten erfüllt.

[...]


1 Anm.: Gemeint sind die Loyalitätsbekundungen einiger europäische Regierungen gegenüber Bushs Kriegserklärung an den Irak.

2 Derrida, Jaques und Habermas, Jürgen (2003): Unsere Erneuerung. In: FAZ vom 31.05.2003.

3 Anm.: Joschka Fischer hielt am 12. Mai 2000 an der Berliner Humboldt Universität eine vielbeachtete Rede mit dem Titel „Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“. Nachzulesen unter: http://www.joschka.de/reden.772.0.html?&expand=1447&cHash=898820a74e [Abruf: 10.06.2006].

4 Eurobarometer 59, Ausgabe Juli 2003.

5 Sattler, Karl-Otto (2004): Magische Kräfte im Europäischen Haus.

6 siehe Fußnote 3.

7 Novy, Leonard (2004: 6).

8 Zitat der österreichischen Außenministerin Ursula Plassnik in: Frankfurter Rundschau vom 28.05.2006.

9 Vgl.ebd.

10 Vgl. Bulletin EU 1/2-1996 [1.10.10.], http://europa.eu.int/abc/doc/off/bull/de/9601/p110010.htm.

11 Vgl. Novy (2004: 3).

12 Vgl. Esser (2005) : 23.

13 Peter Graf Kielmansegg (1996): 55.

14 Dieter Grimm (1995): 583.

15 ebd.: 584.

16 Oldag, Andreas und Tillack, Hans−Martin (2003): 402.

17 Novy (2004: 4).

18 ebd.

19 Gerhards (2001: 143f).

20 Vgl. ebd.

21 Gerhards (2001: 143f).

22 Vgl. Koopmanns und Erbe (2003: 3).

23 Vgl. Eder 1999, Eder und Kantner 1999, Eder et al. 1998 und Trenz 2000.

24 Habermas (1996: 190).

25 Eder und Kantner (2000: 308).

26 Novy (2004: 4).

27 Esser (2005: 30).

28 ebd.

29 Anm.: Man spricht deshalb auch vom liberalen Widerspiegelungsmodell.

30 Habermas (1990: 142).

31 ebd.: 157.

32 Vgl. Gliederungspunkt 1.3.3.

33 Anm.: Es sei darauf hingewiesen, dass die Existenz eines Gemeinschaftsgefühls bzw. einer gemeinsam geteilten Identität nicht vorausgesetzt werden kann. Identität lässt sich nicht durch ein Gesetzt beschließen. Doch gilt es, den (meist zufällig, z.B. durch Austauschprogramme oder die gemeinsame Währung) in Gang gesetzten Prozess der Identitätsstiftung weiter voranzutreiben.

34 Oldag, Andreas und Tillack, Hans−Martin (2003).

35 Habermas (1990: 161).

36 Vgl. Noelle-Neumann (1996: 367 u. 371).

37 Vgl. Kantner (2004: 91f).

38 Vgl. Peter Graf Kielmansegg (1996: 55f.) und Dieter Grimm (1995: 585).

39 Kantner (2004: 91).

40 Vgl. Machill (1997: 188f).

41 Greven (1998: 262-263).

42 Vgl. zum Beispiel bei Habermas (2001).

43 Vgl. Kraus (1998).

44 Vgl. Beierwaltes (1999: 236f).

45 ebd.

46 Kielmansegg (1996: 56).

47 Vgl. Gerhards (2001: 151f).

48 Vgl. www.ec.europa.eu/yourvoice/index_de.htm.

49 Meyer (1999b: 617-639).

50 Schlesinger/Kevin (2000: 206-207).

51 Ebd.: 229.

52 Liebert (2001a: 81).

53 Mit den drei Säulen sind die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die europäischen Gemeinschaften (EG und Euratom) sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit gemeint.

54 Gerhards (1993: 103).

55 Zitiert nach Gerhards (1993: 103).

56 Anm.: Die Kommissare werden von den nationalen Regierungen ernannte, nicht von den Bürgern gewählt. Umstritten ist, ob dabei die Präferenzen der jeweiligen Mehrheit oder ein „repräsentativer“ Querschnitt der gesellschaftlichen Kräfte eines Mitgliedstaates ausschlaggebend sein sollte (Vgl. Kantner 2004: 64).

57 Gerhards (1993: 104).

58 Anm.: Das europäische Parlament besitzt keines der zentralen Rechte eines nationalen demokratischen Parlaments (Budgetrecht, Gesetzgebungsrecht, Bildung und Kontrolle der Regierung) in Alleinverantwortung.

59 Peréz-Diaz (1998: 233).

60 Gerhards (1993: 105).

Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
(K)eine Meinung in Europa
Untertitel
Öffentlichkeit als Voraussetzung zur Legitimierung des europäischen Einigungsprozesses
Hochschule
Hochschule Bremen
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
101
Katalognummer
V138471
ISBN (eBook)
9783640465422
ISBN (Buch)
9783640462483
Dateigröße
1188 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Meinung, Europa, Voraussetzung, Legitimierung, Einigungsprozesses
Arbeit zitieren
Susanne Worch (Autor:in), 2006, (K)eine Meinung in Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138471

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