Weltanschauliche und wertbezogene Grundlagen Sozialer Sicherung


Hausarbeit, 2008

32 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Soziale Ideen im Liberalismus
2.1 Grundlagen und frühe Sozialliberale
2.2 Liberale Parteien und andere liberale Einflüsse im Kaiserreich
2.3 Friedrich Naumann und die weitere Entwicklung

3 Soziale Ideen im Sozialismus
3.1 Frühsozialismus
3.2 Der Marxismus
3.3 Einfluss der Sozialdemokratie auf die soziale Sicherung
3.4 Ausblick: Sozialpolitik im real existierenden Sozialismus

4 Exkurs: Nationalsozialismus und soziale Sicherung

5 Soziale Ideen im Katholizismus – Katholische Soziallehre
5.1 Frühe Entwicklung im 19. Jh
5.2 Wandel der katholischen sozialen Ideen im Kaiserreich
5.3 Ausblick: Katholische soziale Ideen nach dem Kaiserreich

6 Soziale Ideen im Protestantismus
6.1 Grundlagen und Frühe Entwicklung im 19. Jh
6.2 Wandel zur aktiven Sozialpolitik und neue Ansätze im Kaiserreich
6.3 Ausblick: Die Weitere Entwicklung nach der Kaiserzeit

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Idee der Freiheit von Furcht, Not und die Utopie eines Paradieses auf Erden lässt sich bereits lange vor dem 19 Jh. feststellen. Als Urvater einer solchen Literatur sei Thomas Morus genannt, der in seinem Werk Utopia eine quasi-kommunistische Gesellschaft porträtierte.[1] Im 19. Jh. wurden Utopien und pragmatische Ideen entworfen, gegeneinander aufgewogen und bekämpft als man daran ging, eine sich dramatisch verändernde Gesellschaft sozial zu stabilisieren. Die Beschäftigung mit der sozialen Frage im 19. Jh., die aufgrund der enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen im Übergang zu einer Industriellen Gesellschaft nötig wurde, korrelierte zu Beginn häufig mit eigenem sozialem Engagement. Ein Beispiel hierfür ist der Denker Lorenz Stein und sein Werk.[2] Die Behandlung sozialpolitischer Fragen wurde wissenschaftlich ab dem Ende des 19. Jh. durch Vertreter der Nationalökonomie vorangetrieben. Diese beschäftigten sich in der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, den kommunistischen und sozialistischen Bewegungen vor allem mit der sozialen Frage.[3] Max Weber bemühte sich um einen universalhistorischen Zugang zur Geschichte der westlichen Gesellschaft und stellte Analyse- und Ordnungskriterien, die Methode des Vergleichs und eine Typenbildung zur Verfügung, die die Forschung in der BRD stark beeinflusste.[4] Zur Geschichte der sozialen Sicherung findet man in der Forschung unter dem Oberbegriff „Sozialpolitik“ den besten Zugang. Dieser Begriff selber ist Gegenstand einer langen Diskussion.[5] An dieser Stelle wird auf die viel verwendete Definition der Sozialpolitik von Heinz Lampert verwiesen, dessen Handbuch wichtige Grundlage zum Einstieg in die Materie war.[6] Zur Sozialgeschichte der Sozialpolitik ist im Rahmen der VSWG viel geforscht worden und es sind zahlreiche Aufsätze in der Zeitschrift VSWG erscheinen.[7] Zur Entstehung der Sozialen Sicherung liegt eine umfangreiche Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialgeschichte vor.[8] Ein von Hans Pohl 1991 herausgegebenes Beiheft der VSWG bietet einen guten und umfassenden ersten Überblick über die Geschichte der Sozialpolitik und der sozialen Sicherungssysteme vom Mittelalter bis ins 20. Jh.[9] Für eine bibliographische Gesamtübersicht sowie eine Einführung zur Geschichte der Sozialpolitik wird an dieser Stelle auf den einführenden Band der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 verwiesen.[10] Es mangelt leider an Arbeiten die einen Zusammenhang zwischen Ideologien und Denkmodellen als theoretische Voraussetzungen sozialstaatlicher Handlungen näher untersuchen.[11] Wie Lothar Machtan 1986 feststellte kann aber besonders in der Sozialpolitik des 19. Jh., wie kaum sonst in der Wissenschaft, „[…]die Rezeption (aber auch die Nicht-Rezeption) von Ideen und deren Umsetzung verfolgt werden“.[12] Gerhard Ritter hat bereits 1986 in einem Aufsatz versucht ideengeschichtliche Einflüsse auf Bismarcks Gesetzgebung anhand von Quellen konkret nachzuweisen und sich dabei mit dem einflussreichen Denker Lorenz von Stein beschäftigt. Dieser Aufsatz bietet ebenfalls einen Ansatz zu einem Überblick über Geschichte der deutschen Sozialpolitik.[13] Diese Arbeit war ein Vorbild für die Ausarbeitung der vorliegenden Untersuchung. Angelehnt an eine solche Quellenkritische Untersuchung will die vorzulegende Arbeit die Frage klären welche Ideen für die Ausprägung der sozialen Sicherung im 19. und 20 Jh. relevant waren. Die Ideen, die im 19. Jh. in Auseinandersetzung mit der sozialen Frage entstanden, sind von ihrer Genese her fast immer politischen oder religiösen Strömungen zuzuordnen. Dabei fühlten sich die Kirchen aufgrund einer langen Tradition der Armenfürsorge und den Prinzipien der christlichen Lehre von jeher her für die Behandlung sozialer Probleme zuständig, während der Sozialismus als direkte Reaktion auf die soziale Frage, und der Liberalismus mit seiner Wirtschaftslehre als Mitverursacher derselben, zu verstehen ist. Die vorzulegende Arbeit will die Grundprinzipien und Entwicklung innerhalb von vier zentralen politischen bzw. religiös/ ethischen Ideengebäuden untersuchen. Alle haben im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung verschiedene Ansätze entworfen, die im Kontext umfassender Vorstellungen von der Ausgestaltung der Gesellschaft stehen. Dies sind die katholische Soziallehre, die protestantische Sozialethik, der Sozialismus und der Liberalismus. Zu diesen Denkgebäuden liegen einzelne Untersuchungen und Quellen in großer Zahl vor. Eine umfassende Darstellung mit bibliographischer Übersicht bietet die Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland[14], ein sehr aktueller und umfassender Titel zum Thema. Die in dieser Arbeit verwendeten Quellen und die weitere Sekundärliteratur können im Einzelnen dem Literaturverzeichnis entnommen werden. Eine umfassende Gesamtdarstellung der Zusammenhänge zwischen Ideengeschichte und sozialer Sicherung kann mit dieser Arbeit sicher nicht vorweggenommen werden aber zentrale Grundsätze und Entwicklungen sollen deutlich werden. Dabei sollen aus Platzgründen soziale Denker und politische Bewegungen im Vordergrund stehen, während z.B. auf die Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung kaum eingegangen werden kann. Eine zeitliche Konzentration auf das 19. Jh. ist unvermeidlich, da die meisten vorgestellten Ideen dort als Antwort auf die soziale Frage/ Arbeiterfrage entstanden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Bismarckschen Sozialversicherung im deutschen Kaiserreich kristallisieren sich die verschiedenen Positionen auch besonders deutlich heraus. Ausblicke auf die weitere Entwicklung der Ideen und deren Auswirkungen im 20. Jh. sollen aber eingefügt werden. Auf Kontinuitäten soll besonders geachtet werden. Die Arbeit wird jede der genannten Ideenschulen in einem eigenen Kapitel behandeln, das sich jeweils aus weiteren chronologisch/thematischen Anschnitten zusammensetzt. In einem Exkurs wird in Kapitel III die Verknüpfung von sozialer Sicherung und Ideologie im Nationalsozialismus als Beispiel für den Missbrauch sozialer Sicherung in totalitären Systemen untersucht. Abschließend werden in einem Fazit die Ergebnisse zusammengefasst und bewertet.

2 Soziale Ideen im Liberalismus

2.1 Grundlagen und frühe Sozialliberale

Der Liberalismus kann noch weniger als die anderen hier vorzustellenden Ideengebäude als homogenes Konstrukt gelten. Der Liberalismus lässt sich aber vereinfachend auf einige zentrale Forderungen eingrenzen, die den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jh. entspringen. Dies sind die Grund- und Menschenrechte, eine repräsentative Regierung mit Verfassung, Gewaltenteilung und Rechtsstaat sowie eine freie kapitalistische Wirtschaftsordnung. Zentrale Aufgabe für den Staat ist aus liberaler Sicht, die freie Entfaltung des Individuums zu unterstützen und ihn und sein Eigentum zu schützen.[15] Helga Grebing urteilt in Übereinstimmung mit ihren Mitautoren, dass „soziale Ideen in einem grundsätzlichen Sinn nicht liberale sein können“[16], da sie dem Gedanken des freien Wettbewerbs widersprächen. Dennoch hat auch der Liberalismus durchaus soziale Ideen hervorgebracht. Der politische Liberalismus geht bis auf John Locke (1632-1704) zurück, während der Begründer des wirtschaftlichen Liberalismus Adam Smith (1723-1790) war. Adam Smith prägte in „Wealth of Nations“ 1776 die Idee der „invisible Hand“[17], die den Einzelnen dazu bringe seinen Vorteil zu suchen was dann, aufgrund der höheren Leistung des einzelnen, meist auch der Allgemeinheit zugute käme. Außerdem propagierte Smith mit dem Prinzip der „division of labour“[18] und der Spezialisierung eine höhere Effizienz der Arbeit. Eigenverantwortung und Leistungsdenken ließen sich als Prinzipien aus diesen Ideen gewinnen. Smith betonte trotz einer angestrebten Minimalrolle des Staates, dass die eintönige Arbeit vieler Arbeiter deren totale Verdummung fördern könnte und sah die Notwendigkeit „essential parts of education“[19] in öffentlichen Schulen zu vermitteln. Es blieb also ein Rest staatlicher Verantwortung für die unteren Klassen. Jedoch dienten Smith Ideen auch als Legitimation zur Ausbeutung der Arbeiter durch manchen skrupellosen Unternehmer, da dieser ja auf ein sich angeblich selbst regulierendes System des freien Marktes und die Verantwortung des Einzelnen verweisen konnte. In Erweiterung von Smith Gedanken baute später John Stuart Mill (1806-1873) den sozialen Liberalismus aus. In seinem Werk „Grundsätze der politischen Ökonomie“ (1848) wandte er sich gegen utopische Sozialisten, die den Staat an die Stelle des freien Wettbewerbs setzen wollen. Jedoch plädierte Mill punktuell durchaus für eine Einmischung des Staates, der z.B. Eltern den Schulbesuch der Kinder vorschreiben und Arbeitszeiten überwachen soll. Unter dem Einfluss des französischen Sozialphilosophen Claude Saint-Simon setzte sich Mill für die politische Gleichberechtigung der Arbeiterschaft, ihre Vereinigungsfreiheit und eine Beteiligung an den Betrieben ein. John Stuart Mills Ideen zum sozialen Liberalismus werden in der historischen Betrachtung leider oft vernachlässigt.[20] Der deutsche Frühliberalismus war in seinen Ausprägungen recht unterschiedlich. Die Liberalen des Vormärz waren oft noch einem relativ harmonischen, ständisch orientierten Gesellschaftsbild verhaftet. Konservativ-liberale Denker wie Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860) und Robert von Mohl (1799-1875), vertraten Ideen einer konstitutionellen Monarchie. Andererseits gab es auch liberal-demokratische Theoretiker, wie Karl von Rotteck (1775-1840) oder Julius Fröbel (1805-1893). Der bereits erwähnte Robert von Mohl forderte 1869 zur Verbesserung der Zustände eine Kombination staatlicher „Maassregeln [und] Privatbemühungen“[21], lehnte aber revolutionäres Handeln der Arbeiter strikt ab. Mohl wollte den Rechts- und Sozialstaat vielmehr in Einklang bringen.

2.2 Liberale Parteien und andere liberale Einflüsse im Kaiserreich

Die bereits 1861, als erste deutsche Programmpartei überhaupt, gegründete Deutsche Fortschrittspartei, vertrat ebenfalls die Idee einer auf einer rechtsstaatlichen Verfassung beruhenden konstitutionellen Monarchie.[22] Die konstitutionelle liberale Bewegung zerfiel ab 1867 in verschiedene Parteien. Die Nationalliberale Partei unterstützte in den kommenden Jahren die Reichspolitik Bismarcks, auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik.[23] Die mehr auf die Möglichkeiten, einer sich frei entfaltenden Wirtschaft ausgerichteten Liberalen fanden sich in der Deutschen Freisinnigen Partei, die 1884 aus der Liberalen Vereinigung und der Deutschen Fortschrittspartei hervorging. Diese „linken“ Liberalen lehnten die Idee einer staatlichen Sozialversicherung als „Staatssozialismus“[24] strikt ab. Über die Steigerung der Wirtschaftsleistung in einer möglichst unregulierten Marktwirtschaft, hofften sie vielmehr durch höheren Wohlstand und die Selbsthilfe der Arbeiter schließlich auch die Lösung der sozialen Probleme erreichen zu können. Die Linksliberalen standen aber auch für die Forderung nach konsequenter Umsetzung bürgerlicher Freiheitsrechte und parlamentarischer Privilegien.[25] Max Hirsch (1832-1905), Mitbegründer der liberalen Gewerkschaften und Hermann Schultze Delitsch (1808-1883), Gründer der Genossenschaftsbewegung nahmen eine mittlere Position ein, die die Hilfe zur Selbsthilfe propagierte.[26] Bis zum Ende des Kaiserreiches erfolgten noch mehrere Neugründungen- und neue Zusammenschlüsse liberaler Parteien sowie Verschiebungen der genannten Standpunkte. Die so genannten „Kathedersozialisten“, deren Bezeichnung zuerst von Vertretern des linken Liberalismus diffamierend gebraucht wurde, forderten eine sozialpolitische Intervention des Staates als Weg zur Integration der Arbeiter in die Gesellschaft. Der 1872 gegründete Verein für Socialpolitik war eine sehr heterogene Vereinigung unter starkem Einfluss von Nationalökonomen und protestantischen Kreisen. Über Seminare und seine Schriften hatte der Verein, vor allem über das Beamtentum, Einfluss auf die staatliche Sozialpolitik. Der erste Vorsitzende des Vereins, der gemäßigt konservative Gustav Schmoller (1838-1917) forderte eine Mittlerposition des Staates, der als Sozialstaat autoritären Stils auftreten sollte.[27] Heinz Lampert und Jörg Althammer ordnen die „Kathedersozialisten“ und den Verein teilweise der sozial-liberalen Strömung zu, die z.B. besonders durch Lujo Brentano (1844-1931) vertreten wurde.[28] Auch Reinhard Blum sieht bei den „Kathedersozialisten“ Ansätze neuen liberalen Denkens und nennt besonders Adolph Wagner (1835-1917),der bereits neoliberale Gedanken vorweggenommen habe.[29] Trotz unterschiedlicher Ansätze wollten die Kathedersozialisten grundsätzlich eine Reform des bestehenden Systems und die Lösung der Arbeiterfrage durch aktive Sozialpolitik des Staates und waren dadurch zukunftsweisend. Über die, dem Verein für Socialpolitik nachfolgende Gesellschaft für soziale Reform, die 1901 gegründet wurde, wurde noch mehr Einfluss auf die Sozialpolitik ausgeübt und vor allem die engere Kooperation von Arbeiterorganisationen und Unternehmern erreicht.[30]

2.3 Friedrich Naumann und die weitere Entwicklung

Vor allem der protestantische Geistliche Friedrich Naumann (1860-1919) konnte sozial-liberale Ideen weiter ausbauen. Naumann erkannte, dass die bisherigen kirchlichen Fürsorgebemühungen im Sinne der später noch zu erwähnenden „inneren Mission“ nicht zur Lösung der sozialen Frage ausreichten. In den 90er Jahren des 19. Jh. versuchte Naumann einen christlichen Sozialismus durchzusetzen um die Arbeiter von den Sozialdemokraten abzuziehen. Nach dem Scheitern dieser Vorstellungen gründete Naumann 1896 den National-Sozialen Verein, der eine Politik der „Macht nach außen und der Reform nach Innen“[31] verfolgte. Diese Ideen waren auch von Max Weber (1864-1920) mit geprägt worden. Die Arbeiter mussten nach dieser Theorie für die Sache des nationalen Machtstaates durch innere Reformen und Mitspracherechte gewonnen werden. Auf ein „soziales Kaisertum“ hoffend, erstrebte Naumann eine „nationalsoziale“ Gemeinschaft von Monarchie, Staat und Arbeiterbewegung, was aber weder die Arbeiter noch die anderen Gruppen nachhaltig beeindrucken konnte.[32] Naumann wandte sich nach dem Scheitern des National-Sozialen Vereins 1903 schließlich der linksliberalen Bewegung zu. Nun strebte er nach einer Zusammenarbeit mit reformbereiten Teilen der SPD, die er für die nationale Sache gewinnen wollte.[33] Naumann sah die soziale Frage als Langzeitproblem, das unter anderem durch die Erlangung von Land „irgendwo auf der Erdoberfläche“[34] gelöst werden müsse, warnte aber gleichzeitig vor übereilten agressiven Schritten. Naumann war durchaus ein typischer Vertreter des „Wilhelminismus“, der aber mit dem Konzept von der friedlichen Einigung Mitteleuropas als Wirtschaftsunion, mitten im 1. Weltkrieg auch andere Akzente setzte.[35] Die Verknüpfung der Sozialpolitik mit der Raumfrage und nationaler Macht sowie deren Nutzung um die Arbeiter zu gewinnen sind aber Ideen, die sich später auch bei den Nationalsozialisten finden auch wenn dies sicher nicht Naumanns Intentionen entsprach. Naumann forderte grundsätzlich in einer „liberale[n] Sozialpolitik“[36] die Einmischung des Staates aber den eindeutigen Vorrang von freie[r] Organisation und Selbstverwaltung“[37]. Er knüpfte mit seiner Idee vom „sozialen Kaisertum“ an Ideen des wichtigen konservativen sozialpolitischen Vordenkers Lorenz von Stein (1815-1890) an, der ein Königtum der sozialen Reform postulierte, dass über allen Klassengegensätzen stehend die Gesellschaft zusammenhalten sollte. Stein entwickelte als erster eine wirkliche Theorie vom Sozialstaat und beeinflusste durch seine Schriften auch die staatliche Sozialpolitik Bismarcks.[38] Friedrich Naumann wurde 1919 erster Vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei und Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Die DDP wurde eine Fürsprecherin des Weimarer Staates und strebte nach einem „demokratische[n] Staat des sozialen Rechts“[39], der Ideen wie die Mitbestimmung, oder die Gleichberechtigung der Frau voranbringen sollte. In der Weimarer Zeit prägten, von Naumann beeinflusste, Liberale wie Hugo Preuß (1860-1925), Walther Rathenau (1867-1922) und Gustav Stresemann (1878-1929) Innen- und Außenpolitik des Staates maßgeblich mit. Nach den wirtschaftlichen Krisen der 20er und 30er Jahre war der Glaube an den klassischen Wirtschaftliberalismus nach Adam Smith erschüttert. Aus der Wirtschaftstheorie John Maynard Keynes (1883-1946) erwuchs dem Staat eine Rolle als Vertreter des Allgemeinwohls, die dem Liberalismus neue Möglichkeiten eröffnete.[40] Eine neue geordnete Form des Liberalismus wurde von Vordenkern der sozialen Marktwirtschaft wie Walter Eucken (1891-1950), einem Vertreter der Freiburger Schule, erarbeitet. Im „Ordoliberalismus“ sollte durch die Ordnung der Wirtschaft auch gleichzeitig eine erfolgreiche Sozialpolitik erreicht werden soll. Ziel war eine harmonische soziale Gesamtordnung mit freier Entfaltung der Wirtschaft innerhalb bestimmter staatlich gesetzter Grenzen, die gleichzeitig den Erwerb von Privateigentum potentiell für alle möglich machen sollte.[41]

3 Soziale Ideen im Sozialismus

3.1 Frühsozialismus

Sozialismus und Kommunismus, stehen zum einen mit der französischen Revolution und der grundlegende Idee Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in Verbindung und zum anderen eng mit den Emanzipationsbestrebungen der Unterschicht im Rahmen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen des späten 18. und des 19. Jh.[42] Über die vielfältigen Strömungen und Ideen des Sozialismus kann an dieser Stelle auch nur ein exemplarischer Überblick möglich sein. Bereits bei Noel Babeuf (1760-1797), der 1796 mit dem Versuch eines Umsturzes in Frankreich scheiterte, sind Ansätze sozialistischer Prinzipien gut erkennbar. Babeuf strebte nach politischer Gleichheit und im Endziel, nach vollständiger Aufteilung des Privateigentums in einer kommunistischen Gesellschaft. Nach Babeuf sollte die Demokratie dafür sorgen, dass jedermanns grundlegende Bedürfnisse erfüllt sind aber niemand mehr als diese erfüllen kann.[43] Lous-Auguste Blanqui (1805-1881) prägte als erster die Idee einer revolutionären, kleinen Elite, die die Revolution vorantreiben sollte.[44] Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760-1825) befasste sich als erster mit dem Sozialismus als ökonomische Lehre. Saint-Simon wollte eine klassenlose Gesellschaft, die allerdings durch die Herrschaft der produktiv Tätigen wie Landwirte, Fabrikanten oder Kaufleute verwaltet werden sollte. Mit Unterstützung der Wissenschaft sollten Produktion und Gesellschaft effizient organisiert werden wodurch auch die ärmeren Schichten schließlich ebenfalls profitieren sollten. Saint-Simon lehnte das Privateigentum und eine soziale, allerdings von der Arbeitsleistung bestimmte, Schichtung nicht grundsätzlich ab. Eine technokratisch, effiziente Verwaltung sollte allerdings Verbesserungen für die Allgemeinheit bringen.[45] Saint-Simons Schüler entwickelten seine Lehre auf sozialistischer Grundlage weiter. Sie traten für die Abschaffung des privaten Erbrechts ein und stellten die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Kritik.[46] Francois Marie Charles Fourier (1772-1837) betrieb eine kritische Analyse der sozialen Missstände in seiner Zeit und sah vor allem die frei Konkurrenz, den Handel und die Zerstückelung des Agrarbesitzes dafür verantwortlich. Er nahm in seiner Analyse wesentliche Elemente der marxistischen Theorie vorweg. Fourier entwarf das Konzept einer genossenschaftlichen Sozial- und Wirtschaftsordnung, in der die Menschen in relativ kleinen freiwilligen Assoziationen, primär als agrarische Kommunen, die anfallenden Arbeiten in Untergruppen organisieren sollten.[47] Fourier fordert für eine zukünftige harmonische Ordnung „ein angemessenes Minimum“[48] an Mindestlohn, bzw. Mindestrente, da er die soziale Not als Hauptursache für alle Probleme seiner Zeit ansah. Als wichtiger Repräsentant des britischen Frühsozialismus sei Robert Owen (1771-1858) genannt, der für praktische Maßnahmen wie die Gründung von Gewerkschaften oder Genossenschaften eintrat aber auch neue kommunistische Gesellschaftsansätze konzipierte.[49] Der deutsche „wahre Sozialist“ Moses Hess (1812-1875) ging über die meisten Franzosen noch hinaus, indem er neben dem Privateigentum auch das „Geldwesen“[50] aufheben wollte. Wilhelm Weitling (1808-1871) nannte sich selber einen „Kommunisten“[51] und vertrat eine solidarische Gesellschaft mit Arbeitspflicht, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit.[52] Weitling hoffte die Diktatur des Proletariats durch eine Revolution angeführt durch einen neuen Messias zu erreichen.[53] Er hatte besondere Bedeutung für die deutsche Handwerkerbewegung.

[...]


[1] Morus, Thomas: Utopia (1516), übersetzt. v. Jacques Laager, Manesse, Zürich 2004.

[2] Stein, Lorenz von: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850). 3. Bände, Neudruck Darmstadt 1959.

[3] Schmoller, Gustav von: Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1), Leipzig u.a. 1902.

[4] Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., Tübingen 2002.

[5] Zur Diskussion um den Begriff „Sozialpolitik“ vgl. Kaufmann, Franz-Xaver: Der Begriff Sozialpolitik und

seine wissenschaftliche Deutung, in Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv

(Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 (1), Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden

2001, S. 3-103.

[6] Lampert, Heinz; Jörg, Althammer: Lehrbuch der Sozialpolitik, 7. Auflage, Berlin u.a. 2004, S. 4.

[7] Vgl. Schulz, Günther: Sozialgeschichte, in: Schulz, Günther: Sozialgeschichte, in: Schulz, Günther; Buchheim,

Christoph; Fouquet, Gerhard; Gömmel, Rainer; Henning, Friedrich-Wilhelm; Kauhold, Karl-Heinrich; Pohl,

Hans (Hrsg.): Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete-Probleme-Perspektiven. 100 Jahre

Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG Beiheft 169), Wiesbaden 2004, S. 283-303,

hier S. 301.

[8] Born, Karl-Erich; Henning,Hansjoachim; Tennstedt, Florian: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen

Sozialgeschichte 1867-1914, Darmstadt seit 1966 in vier Abteilungen.

[9] Pohl, Hans (Hrsg.): Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur

Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 23.3.-

1.4.1989 in Heidelberg (VSWG Beiheft 95), Stuttgart 1991.

[10] Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv u.a. (Hrsg.) Geschichte der Sozialpolitik

in Deutschland seit 1945, Band 1: Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden 2001ff.

Vgl. ebd. Für eine Bibliographische Übersicht zu den einzelnen Themengebieten, S. 1113-1133.

[11] Pohl (Hrsg.): Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 13.

[12] Machtan, Lothar: Zur Geschichte von Sozialreform und Sozialstaatlichkeit in Deutschland. Einige neuere

Forschungsergebnisse, in: AFS XVII, 1987,S. 584-615, hier S. 591.

[13] Ritter, Gerhard, A: Entstehung und Entwicklung des Sozialstaates in vergleichender Perspektive, in: HZ (243),

1986, S. 1-90.

[14] Vgl. Grebing, Helga: Vorwort zur 2. Auflage, in: Euchner, Walter; Grebing, Helga u.a. :Geschichte der

sozialen Ideen in Deutschland: Sozialismus- katholische Soziallehre- protestantische Sozialethik. Ein

Handbuch, 2. Aufl., Essen 2005, S. 9-12, hier S. 10-11.

[15] Bermbach, Udo: Liberalismus, in: Fetscher, Iring; Münkler, Herfried (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen

Ideen (4). Neuzeit: von der französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, München 1986, S.

323.

[16] Grebing, Helga: Vorwort, in: Euchner, Walter; Grebing, Helga u.a. :Geschichte der sozialen Ideen in

Deutschland: Sozialismus- katholische Soziallehre- protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2. Aufl., Essen

2005, S. 867-1095, S. 11.

[17] Smith, Adam: An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (I) (1776), Two Volumes, Edited

by Campbell, R.H.; Skinner, A.S., Oxford 1976, S. 456 (I.IV.ii.9).

[18] Ebd., S. 13 (I.I.I).

[19] Smith, Adam: An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (II) (1776), Two Volumes, Edited

by Campbell, R.H.; Skinner, A.S., Oxford 1976, S. 785 (V.i.f.54), Vgl. auch 780-785.

[20] Höffe, Ottfried: Kleine Geschichte der Philosophie, München 2001, S. 232-235.

[21] Mohl, Robert von: Die soziale Frage (1869). Die Arbeiterfrage. Bezeichnung und Begränzung des

Gegenstandes, in: Beyme, Klaus von (Hrsg.): Robert von Mohl. Politische Schriften. Eine Auswahl (Klassiker

der Politik 3), Köln, Opladen 1966, S. 29-40, hier S. 36.

[22] Vgl. Gründungsprogramm der deutschen Fortschrittspartei. Leipzig 13.-15. Dezember 1919, in: Treue,

Wolfgang (Hrsg.): Deutsche Parteiprogramme 1861-1919 (Quellensammlung zur Kulturgeschichte 3), 3.

erweiterte Auflage 1961, S. 52-53.

[23] Vgl. z.B. Erklärung der Nationalliberalen Partei. Heidelberg 23. März 1884, in: ebd., S. 72-73.

[24] Programm der Deutschen Freisinnigen Partei. 5. März 1884, in: ebd., S. 75.

[25] Vgl. Ritter, Gerhard, A.: Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts

(Otto-von –Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt 16), Kath. Universität Eichstätt 1998,

S. 12.

[26] Vgl. ebd., S. 12.

[27] Bamabach, Ralf: Gesellschaftskritiker, Sozialrefomer und Kathedersozialisten, in: Fetscher; Münkler (Hrsg.):

Handbuch der politischen Ideen, S. 406-408.

[28] Lampert; Althammer: Sozialpolitik, S. 56.

[29] Blum, Reinhard: Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Ordoliberalismus

(Schriften zur Angewandten Wirtschaftsforschung), Tübingen 1969, S. 51.

[30] Vgl. Ritter, Gerhard, A.: Arbeiterbewegung und soziale Ideen in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des 19.

und 20. Jahrhunderts, München 1996, S. 65-66.

[31] Nationalsozialer Katechismus. Erklärungen der Grundlinien des national-sozialen Vereins. Berlin und Leipzig

1897, in: Vogt, Hannah: Friedrich Naumann. Ausgewählte Schriften., Frankfurt am Main 1949, S. 114.

[32] Naumann, Friedrich: Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für die innere Politik, 1. Auflage, Berlin

1900, bes. S. 216-220.

[33] Vgl. Ritter: Soziale Ideen in Deutschland, S. 57-58.

[34] Naumann, Friedrich: „Weltmarkt und Weltmacht“. Die Politik der Gegenwart. Wissenschaftliche Vorträge

gehalten zu Hamburg und Heidelberg. Berlin 1905, in: Vogt: Naumann, S. 202.

[35] Vgl. Vogt: Naumann, S. 37.

[36] Naumann, Friedrich: 6. Kapitel „Sozialpolitik“ in Neudeutsche Wirtschaftspolitik, 3. Auflage, Berlin

Schönefeld 1911, Kapitel vollständig unter „Der Staat im Wirtschaftsleben“ abgedruckt in: Vogt: Naumann,

S. 294.

[37] Vgl. ebd., S. 294.

[38] Vgl. Ritter: Soziale Ideen in Deutschland, S. 26.

[39] Programm der Deutschen Demokratischen Partei. Leipzig 13.-15. Dezember 1919, in: Treue (Hrsg.): Deutsche

Parteiprogramme 1861-1961, , S. 127.; Vgl. auch S. 125-130.

[40] Blum: Soziale Marktwirtschaft., S. 47-48..

[41] Vgl. ebd., S. 61-63.

[42] Vgl. Ritter: Soziale Ideen in Deutschland, S. 28.

[43] Babeuf, Gracchus: Manifest der Plebejer (überarbeitete Fassung), in Kool, Frits; Krause, Werner (Hrsg.): Die

frühen Sozialisten, Olten 1967, S. 114-121, hier S. 114-117.

[44] Vgl. Ritter: Soziale Ideen in Deutschland, S. 29.

[45] Saint-Simon, Henry de: Beweise, dass die französischen Proleatarier fähig sind, Eigentum gut zu verwalten,

in: Kool; Krause (Hrsg.): Die frühen Sozialisten, S. 176-179, hier S. 176-179.

[46] Vgl. Ritter: Soziale Ideen in Deutschland, S. 29.

[47] Vgl. ebd., S. 29.

[48] Fourier, Charles: Brief an den Justizminister, in: Kool; Krause (Hrsg.): Die frühen Sozialisten, S. 201-212,

hier S. 201-206..

[49] Vgl. ebd., S. 31-32.

[50] Hess, Moses: Über die Not in unserer Gesellschaft und deren Abhilfe, in: Kool; Krause (Hrsg.): Die frühen

Sozialisten, S. 540-566, hier S. 565.

[51] Weitling, Wilhelm: Was ist Kommunismus?, in: Kool; Krause (Hrsg.): Die frühen Sozialisten, S. 472-479,

hier S. 474.

[52] Vgl. ebd, S. 472-479.

[53] Vgl. Ritter: Soziale Frage und Sozialpolitik, S. 14.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Weltanschauliche und wertbezogene Grundlagen Sozialer Sicherung
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Historisches Seminar, Abteilung VSWG)
Veranstaltung
Soziale Sicherungssysteme im 19. und 20. Jahrhundert
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
32
Katalognummer
V138444
ISBN (eBook)
9783640476459
ISBN (Buch)
9783640476534
Dateigröße
563 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Überblicksdarstellung über die ideologischen Grundlagen von sozialen Sicherungssystemen.
Schlagworte
Weltanschauliche, Grundlagen, Sozialer, Sicherung
Arbeit zitieren
Christoph Chapman (Autor:in), 2008, Weltanschauliche und wertbezogene Grundlagen Sozialer Sicherung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138444

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