Die Aussetzung nach § 221 StGB


Essay, 2009

45 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsübersicht

A. Einleitung

B. Die historische Entwicklung des Aussetzungstatbestandes
I. Das Verbot der Aussetzung vor Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1871
II. Die Entwicklung des Straftatbestandes der Aussetzung zwischen 1871 und 1998

C. Der Aussetzungstatbestand seit 1998
I. Einleitung
II. Opfer und Täter
III. Tathandlungen
1. § 221 I Nr. 1
a) hilflose Lage
b) Versetzen
2. § 221 I Nr. 2
a) „Verlassen“ und „Im Stich lassen“
b) Garantenpflichten im Rahmen des § 221 I Nr. 2
c) Die Aussetzung als aktives Tun oder als Unterlassen
d) Das Unterlassen der Rückkehr zum Opfer
IV. Die Gefahr besonders schwerer Folgen
V. Die Teilnahme an Aussetzungsstraftaten
VI. Eigenverantwortliche Selbstgefährdung und § 221 I
VII. Subjektive Elemente des § 221 I
VIII. § 221 II
1. Überblick
2. § 221 II Nr. 1
3. § 221 II Nr. 2
IX. § 221 III
1. Inhalt und Struktur
2. § 221 III
X. § 221 IV StGB
XI. Versuchsstrafbarkeit

D. Kinderschutz

E. Strafrahmen

F. Konkurrenzen

G. Der Einfluss des Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts auf den Aussetzungstatbestand

H. Fazit

Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Obschon der Tatbestand der Aussetzung als "sperrig"[1] gilt, gehört er zum Pflichtstoff in den Prüfungsordnungen nahezu aller Bundesländer,[2] was angesichts der praktischen Bedeutung[3] des neben § 218 II Nr. 2[4] einzigen Delikts, welches die Gefährdung des geborenen Lebens und u.U. der Gesundheit unter Strafe stellt,[5] und der langen Geschichte des Aussetzungstatbestandes[6] angemessen ist. Tatsächlich ist die (Kindes-)Aussetzung eines der klassischen Delikte des StGB. Das am 1. April 1998 in Kraft getretene Sechste Strafrechtsreformgesetz (6. StRG), welches in kürzester Zeit[7] die bislang umfangreichsten Änderungen seit Schaffung des StGB brachte, wirkte sich in so großem Maße auf den Aussetzungstatbestand aus, dass sich die Frage stellte, ob die Bezeichnung "Aussetzung" noch angebracht sei.[8] Jedoch wurden, wohl auch aufgrund des Schattendaseins, welches der Tatbestand der Aussetzung insbesondere seit der Einführung des § 330 c (jetzt: § 323 c) im Jahre 1935 in der höchstrichterlichen Rechtsprechung führt,[9] die Änderungen des § 221 nicht einmal in allen der zahlreichen Arbeiten zum 6. StRG berücksichtigt.[10]

Im Mittelpunkt der Darstellung steht der „neue“ Aussetzungstatbestand, insbesondere die Änderungen, welche derselbe erfahren hat. Dies soll dem Leser auch ein besseres Verständnis der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des 6. StRG ermöglichen. Gerade da der Aussetzungstatbestand in der rechtswissenschaftlichen Literatur, von der Ausnahmesituation des 6. StRG abgesehen, eher stiefmütterlich behandelt wird, wird eine nähere Auseinandersetzung mit dem Thema regelmäßige ältere Literatur und Rechtsprechung einschließen. Auch dies soll diese Arbeit erleichtern. Zu den Änderungen gehört beispielsweise die Darstellung der "Gefahr der schweren Gesundheitsbeschädigung", welche neu in den Tatbestand aufgenommen wurde, ebenso wird der Ausweitung des Opferkreises in der Darstellung Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang wird unter anderem auf die Frage der Notwendigkeit einer räumlichen Veränderung zum Versetzen in eine hilflose Lage eingegangen werden sowie die der neue Aussetzungstatbestand beispielsweise auf die Frage hin untersucht, wie § 221 n. F. in die Systematik der echten/unechten Unterlassungsdelikte einzuordnen ist. Dargestellt werden des weiteren das Verhältnis des Aussetzungstatbestandes zu anderen Delikten ebenso wie die Rolle der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung im Rahmen der Aussetzung sowie die Versuchsstrafbarkeit außerhalb des Grundtatbestandes. Abschließend soll auf die Frage eingegangen werden, ob die Ziele des Gesetzgebers durch die Neufassung der Norm vor einem Jahrzehnt tatsächlich erreicht wurden.

Die vorliegende Arbeit soll aber nicht nur die Arbeit des Gesetzgebers bewerten oder allein dem Lernenden einen Überblick über die Norm verschaffen, in besonderem Maße soll sie zugleich dem Praktiker eine Handreichung sein, der den effektiven Umgang mit dem Tatbestand erleichtern soll.

B. Die historische Entwicklung des Aussetzungstatbestandes

I. Das Verbot der Aussetzung vor Inkrafttreten des Strafgesetzbuches 1871

Der Tatbestand der Aussetzung ist keine Erfindung des modernen Gesetzgebers, vielmehr findet sich der Gedanke, besonders schutzbedürftigen Personen durch das Strafrecht eben diesen besonderen Schutz zukommen zu lassen, schon lange vor Schaffung des StGB, auch wenn hierbei in erster Linie an Kinder (expositio infantum) gedacht worden war.[11] Einen der Aussetzung entsprechenden Tatbestand enthielten beispielsweise Art. 132 der am 27. Juli 1532 in Kraft getretenen Constitution Criminalis Carolina (CCC) aus dem Jahre 1530, Art. 174 des Bayerischen StGB von 1813, § 260 des ab 1845 geltenden Badischen StGB sowie das Preußischen. StGB von 1851 in § 183.[12]

II. Die Entwicklung des Straftatbestandes der Aussetzung zwischen 1871 und 1998

Vor dem Inkrafttreten des 6. StRG wurde der Tatbestand der Aussetzung seit dem Inkrafttreten des StGB im Jahre 1871 erst dreimal geändert. Erfolglos waren hingegen mehrere Reformversuche, z.B. § 218 eines Vorentwurfs aus dem Jahre 1909, welchem die §§ 264, 285 der Kommissionsentwürfe aus den Jahren 1911 – 1913 folgten, § 185 eines Entwurfs im Jahre 1913, § 230 des 1925 erstellten Entwurfes, § 257 E 1927 sowie § 257 E 1933, § 412 E 1936 und § 412 E 1939. In die Nachkriegszeit fällt § 325 des vorbereitenden Entwurfs einer Unterkommission der Großen Strafrechtskommission 1958, auf welchem der ebenfalls nicht Gesetz gewordene § 320 des Entwurfs der Großen Strafrechtskommission folgte. Dem Vorschlag in § 145 E 1959 folgte § 139 E 1962, auf welchen sich der Reformgesetzgeber bei der Neufassung des Aussetzungstatbestandes ausdrücklich bezog.[13]

Lediglich redaktioneller Art waren die Änderungen, welche der Tatbestand der Aussetzung durch Art. 19 Nr. 92 EGStGB[14] erfuhr. Durch Art. 6 Nr. 5 AdoptionsG[15] wurden nicht länger nur die leiblichen Eltern zu tauglichen Tätern, vielmehr konnte die Tat nun auch durch Adoptiveltern begangen werden,[16] was augenscheinlich vom Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 16. Mai 1997[17] nicht beachtet wurde, insofern waren die dort getroffenen Anmerkungen die Einbeziehung von Adoptiveltern in den Kreis der potentiellen Täter bereits vor Inkrafttreten des 6. StRG insoweit gegenstandslos, als dass eine genauere Bezeichnung lediglich die bereits vorliegende Rechtslage wiedergegeben hätte.[18]

C. Der Aussetzungstatbestand seit 1998

I. Einleitung

Durch die Änderung des § 221 beabsichtigte der Gesetzgeber vor allem das Schließen von Strafbarkeitslücken bzw. eine Verbesserung des Strafschutzes, die Beseitigung von Auslegungsschwierigkeiten und Erleichterung der Rechtsanwendung, die Anpassung veralteter Strafvorschriften an die heutigen Erfordernisse, sowohl in rechtlicher als auch tatsächlicher Hinsicht sowie die Herbeiführung einer besseren Übersichtlichkeit innerhalb der einzelnen Delikte als auch im Bezug verschiedener Delikte zueinander.[19],[20] Bei Schaffung des 6. StRG orientierte man sich primär am E 1962, erst in zweiter Linie an der Gesetzgebungsgeschichte, der Rechtslage in der ehemaligen DDR sowie im Ausland.[21] Gleiches gilt für den Umgang mit kritischen Anmerkungen zum bisherigen Recht.[22]

§ 221 n. F. schützt das Leben sowie, unter der Einschränkung der Gefahr einer schweren Schädigung,[23] die Gesundheit[24] hilfloser Personen[25] und stellt ein vorsätzliches konkretes Gefährdungsdelikt dar.[26] Des weiteren ist nun die körperliche Unversehrtheit, wie in § 147 E 1962 beschränkt auf schwere Gesundheitsschädigungen,[27] durch § 221 I n. F. ebenfalls geschützt,[28] was in der alten Fassung der Norm noch umstritten war[29] und auch aus dem der Neufassung zugrundeliegenden § 139 E 1962 noch nicht ersichtlich wurde,[30] obschon die Rechtsprechung teilweise davon ausging, § 221 a. F. schütze ohne Einschränkungen Leben und Gesundheit.[31] Somit hat sich der Gesetzgeber der in Rechtsprechung[32] und Literatur[33] mehrheitlich vertretenen Ansicht angeschlossen.[34] Für die gegenteilige Ansicht,[35] welche eine konkrete Lebens gefahr verlangte, sprachen insbesondere, dass vor dem 6. StRG der Versuch der einfachen Körperverletzung straffrei war, was Bedenken bezüglich der Ausdehnung des § 221 auf Leibesgefahren hervorrief,[36] des weiteren wurde die systematische Stellung des Aussetzungstatbestandes im 16. Abschnitt des StGB, der die Straftaten gegen das Leben regelt, zur Begründung der Einschränkung des Aussetzungstatbestandes angeführt.[37]

§ 221 I n. F. brachte zwei wesentliche Änderungen: Zum einen entfiel die räumliche Komponente der Tat, zum anderen wurde der Opferkreis erheblich erweitert,[38] so dass die Aussetzung zu einem „allgemeinen Lebens- und schweren Gesundheitsgefährdungsdelikt“[39] wurde.

II. Opfer und Täter

Jedermann kann Opfer des § 221 I Nr. 1 n. F. sein,[40] da jedermann in eine hilflose Lage geraten kann. Demgegenüber enthielt § 221 a. F. einen abschließenden[41] Katalog der möglichen Opfer, eben aufgrund ihres Alters, einer Krankheit oder Gebrechlichkeit bereits zum Tatzeitpunkt hilfloser, d.h. schutzunfähiger,[42] Personen. Durch die Erweiterung des Opferkreises wurde die Aussetzung vom "Opfer-Sonderdelikt", die sie seit den Anfängen als expositio infantum war, zum "Opfer-Allgemeindelikt".[43] Die Ausweitung des Opferkreises über Kinder hinaus reicht zurück bis zum Jahr 1913.[44] Auch nachfolgende Entwürfe zogen immer wieder die Unbilligkeit des Ausschlusses solcher Fälle in Betracht, in denen die Hilflosigkeit nicht aufgrund eines der abschließend aufgezählten Gründe vorlag, sondern erst noch vom Täter herbeigeführt wurde.[45] Als bekanntestes Beispiel führt der Regierungsentwurf den Fall an, dass ein Bergführer den bergunkundigen Touristen im einsamen und pfadlosen Hochgebirge zurückläßt,[46] ein Beispielfall, welcher der Begründung zu § 230 E 1925 entnommen ist.[47] Somit stellt sich die Neufassung als konsequente Weiterentwicklung des bisherigen Rechts dar. § 221 I Nr. 2 schränkt jedoch weiterhin den Opferkreis auf hilflose Personen ein, gegenüber denen der Täter eine Obhuts- oder Beistandspflicht hat.

§ 221 I Nr. 1 n. F. ist Allgemeindelikt, d. h. jedermann ist tauglicher Täter.[48] Der Tatbestand des § 221 I Nr. 2 n. F. kann im Gegensatz dazu nur von Garanten i.S.d. § 13 I erfüllt werden, die Norm stellt somit ein Sonderdelikt dar.[49] Erfaßt werden des weiteren, wie schon im E 1962,[50] Garanten aufgrund Gesetzes oder Rechtsgeschäfts.[51] Die Formulierung der Garantenstellung aus Gesetz schließt jedoch zwangsläufig § 323 c als Grundlage für eine Garantenstellung aus, wäre doch ansonsten jeder denkbare Täter zugleich Garant, was die Notwendigkeit einer Abgrenzung negieren und das Merkmal der Garantenstellung ad absurdum führen würde. Die Nennung der Gesetze – abgesehen von § 323 c – als Entstehungsgrund einer Beistandspflicht stellt diese nicht aus dem Umfang der Entstehungsgründe einer Garantenpflicht i.S.d. § 13 I heraus, sondern stellt, da Gesetze bereits als Entstehungsgründe für eine Garantenstellung anerkannt sind,[52] lediglich eine beispielhafte aber überflüssige Nennung dieses Entstehungsgrundes dar. Problematisch erscheint auch der explizite Hinweis auf das Rechtsgeschäft zur Begründung einer Garantenstellung: Im Rahmen des § 13 I wurde zwar zuletzt die tatsächliche Übernahme, regelmäßig aber nicht lediglich der Vertrag als ausreichend zur Begründung einer Garantenstellung angesehen.[53] Durch den Verweis auf das Rechtsgeschäft könnte jedoch der Gesetzgeber den Begriff der Garantenstellung in einem weiteren Sinne verstanden haben. Hierfür spricht, dass auch eine bloße Zusage des Beistandes, ein einseitiges Rechtsgeschäft, eine Garantenpflicht begründet, sofern der Empfänger der Zusage hierdurch sich auf den zugesagten Beistand dergestalt verließ, dass er anderweitige Schutzmöglichkeiten als unnötig erachten konnte und somit diese unterläßt.[54] Gegen die Annahme eines derartig weitreichenden Willen des Reformgesetzgebers spricht jedoch dessen Bezug zur bisherigen Rechtsprechung,[55] nach welcher, im Gegensatz zur Rechtsprechung des RG,[56] eben auf die Garantenpflichten im Sinne des § 13 I abgestellt wird.[57] Somit ist eher davon auszugehen, dass es nicht die Absicht des Reformgesetzgebers war, die Bedeutung des Rechtsgeschäfts bezüglich der Begründung einer Garantenpflicht über die Reform des § 221 dergestalt aufzuwerten. Die Beistandspflicht i. S. d. § 221 I Nr. 2., 2. Alt. entspricht somit der Garantenpflicht i. S. d. § 13 I.

III. Tathandlungen

1. § 221 I Nr. 1

Die erste Tatmodalität wird seit neuestem, wie schon in § 257 I E 1933 und § 139 I Nr. 1 E 1962, als Versetzen in eine hilflose Lage bezeichnet, so dass teilweise bereits die Frage aufgeworfen wurde, ob der neue Tatbestand seine Bezeichnung als Aussetzung überhaupt noch zurecht trägt,[58] wurden doch keine Gründe für das Entfernen des Begriffes der Aussetzung ersichtlich.[59] In Anbetracht der langen Tradition des Begriffes der Aussetzung und der Tatsache, dass es sich auch bei § 221 n. F. lediglich um eine – obschon umfangreiche – Neufassung eines bereits vorhandenen Tatbestandes handelt und eben nicht um einen vollkommen neuen Straftatbestand, ist die Bezeichnung des § 221 als „Aussetzung“ auch trotz des Fehlens des Begriffes „aussetzen“ weiterhin zu befürworten. Unter dem Versetzen in eine hilflose Lage ist das Beseitigen einer sächlichen oder menschlichen Schutzzone zu verstehen, bzw. das Entfernen eines für das Opfer bestehenden menschlichen Schutzkreises.[60]

a) hilflose Lage

Gegenüber der bisherigen Aussetzung ist der Begriff der hilflosen Lage (wobei streng genommen nicht die Lage, sondern die darin befindliche Person hilflos ist[61] ) beibehalten worden, d.h., das Opfer muß sich in einer Lage wiederfinden, in welcher es nicht in der Lage ist, sich aus eigener Kraft zu helfen oder anderweitige Hilfe zu erlangen, um sich einer potentiellen – die hilflose Lage ist noch keine Gefahrenlage[62] – Gefahr für sein Leben oder einer schweren Gefahr für seine Gesundheit wirksam entgegenzustellen,[63] weil ihm bestimmte sächliche Abwehrmittel fehlen und / oder menschliche Hilfe nicht rechtzeitig zuteil würde.[64] Die Gründe für diese Hilflosigkeit sind von der Neufassung der Norm ausdrücklich offengelassen,[65] zudem ist es weiterhin unbeachtlich, ob die hilflose Lage beispielsweise durch das Opfer selbst herbeigeführt wurde[66] oder ob diese nur vorübergehender Natur ist.[67] In der Neufassung resultiert jedoch die hilflose Lage erst aus der Tat, während sie nach § 221 a. F. vor Tatbegehung bereits gegeben sein mußte.[68] Eine hilflose Person i.S.d. § 221 a. F. ist aber nicht per se hilfsbedürftig.[69] Der Begriff der hilflosen Lage in § 221 n. F. stimmt also nicht mit dem in § 221 a. F. überein: Zu unterscheiden ist zwischen der, bisher durch eine der katalogartig aufgezählten Voraussetzungen in § 221 a. F. begründeten, allgemeinen Hilflosigkeit und der Hilflosigkeit im konkreten Fall. Im Rahmen des Versetzens in eine hilflose Lage ist immer die im konkreten Fall herbeigeführte Hilflosigkeit zu beachten:[70] Ein Kleinkind wird zwar ganz regelmäßig nicht imstande sein, sich selbst zu versorgen, den Weg zu einem nahegelegenen Kindergarten aber wird es nach entsprechender Unterweisung selbst zurücklegen können,[71] so dass es trotz allgemeiner Hilflosigkeit nicht dadurch in eine hilflose Lage versetzt wird, dass es von seinen Eltern zum Kindergarten geschickt wird. Um nun aber im konkreten Fall die Hilflosigkeit des Opfers feststellen zu können, bedarf es gewisser Anhaltspunkte. Diese finden sich zunächst einmal im alten Wortlaut der Norm, deren Hilflosigkeitsvoraussetzungen nun zu Indikatoren der Hilflosigkeit geworden sind.[72] Neben § 221 a. F. und § 237 a. F. kann auch § 177 I Nr. 3 zum Nachweis der hilflosen Lage des Opfers herangezogen werden.[73]

b) Versetzen

Eine Frage, welche die Formulierung des „Versetzens in eine hilflose Lage“ aufwirft ist, ob wie bei § 221 I a. F.[74] eine räumliche Aufenthaltsveränderung des Opfers oder eine Änderung seiner räumlichen Umgebung notwendig ist. Der Aufenthalt des Opfers muß nach einer Ansicht verändert werden, um den Tatbestand zu erfüllen,[75] will man ausschließen, dass jede Verursachung einer hilflosen Lage den Tatbestand erfüllt.[76] Dies kann auch durch Drohung oder Täuschung geschehen.[77] Die besseren Argumente sprechen jedoch dafür, die räumliche Komponente aus den Tatbestands-voraussetzungen des Versetzens in eine hilflose Lage auszuschließen: Der Wortsinn des „Versetzens in eine hilflose Lage“, das als „Herbeiführen einer hilflosen Lage“ verstanden werden kann, spricht gegen das Weiterbestehen des Erfordernisses einer räumlichen Tatbestandskomponente,[78] geht doch aus dem geänderten Wortlaut gerade eben nicht mehr die Notwendigkeit des Vorliegens einer räumlichen Einwirkung auf das Opfer hervor.[79] Es war allein das Wort „aussetzt“ in der alten Fassung des Aussetzungstabestandes, welches einen Schluß auf die Notwendigkeit einer räumlichen Handlungskomponente zuließ:[80] Bereits Frank ging davon aus, dass der räumlich-isolierende Moment, welches der Präposition „aus“ innewohnt, die „Vereinsamung“ des Opfers hervorheben solle.[81] Der Gefährdungsaspekt wurde erst nach Schaffung des Tatbestandes in den selben unter dem Aspekt der teleologischen Begründung des Unrechtsgehaltes der von räumlichen Veränderung des Opfers restriktiv hineininterpretiert.[82] Angesichts des Wortlauts des § 221 a. F. verbot sich aufgrund des in § 1, Art. 103 II GG, Art. 7 I 14 EMRK kodifizierten Grundsatzes nullum crimen, nulla poena sine lege scripta gerade die Ausdehnung des Tatbestandes auf Fälle, in denen die tatbestandsmäßige Gefahr auf andere Weise als durch eine räumliche Veränderung herbeigeführt wurde.[83] Durch die erhebliche Veränderung des Wortlautes der Norm sollte eben der alte Rechtszustand geändert werden, so dass für ein Festhalten an dem vor dem 6. StRG geltenden Aussetzungsbegriff[84] kein Raum mehr bleibt,[85] obschon ein räumliches Verlassen in der Mehrzahl der Fälle vorliegen wird.[86] Für ein derartiges Verständnis der Reichweite des neuen Aussetzungstatbestandes spricht auch die Deliktserweiterung, welche der Aussetzungstatbestand als Ganzes erfahren hat.[87] Hinzu kommt, dass der gesetzgeberische Wille bei der Auslegung eines Tatbestandsmerkmals nur dann übergangen werden sollte, wenn sich der Wortlaut nicht mit dem Willen des Gesetzgeber vereinbaren läßt.[88] Im Falle des § 221 n. F. stimmen jedoch Wortlaut und Gesetzgebungswille überein. Demzufolge kann eine Veränderung des Aufenthaltsortes des Opfers nach der Neufassung des Aussetzungstatbestandes nicht mehr verlangt werden.[89]

Zur Gefahraussetzung reicht ebenso wie das passive Verharren an einem Ort[90] das ledigliche Verstärken einer bereits bestehenden Gefahr aus,[91] ist es doch zumindest unter dem Aspekt der Lebensgefährdung unerheblich, ob eine Gefahr begründet oder eine schon vorhandene Gefahr intensiviert wird.[92] Auch das Opfer, welches sich bereits in einer hilflosen Lage befindet, wird durch das Verbringen an einen Ort, an welchem es noch weniger mit Hilfe rechnen kann, in eine - nunmehr andere - hilflose Lage versetzt.[93] Differenziert man genau zwischen einer bereits bestehenden hilflosen Lage und einer hilflosen Lage, in welche das bereits hilflose Opfer gebracht wird, so wird ist es denkbar, dass das Opfer sich auch schon vorher in einer - anderen - hilflosen Lage befand.[94] Versetzen in eine hilflose Lage bedeutet, das ein unerwünschter Zustand neugeschaffen wird,[95] ein Versetzen von einer hilflosen Lage in eine andere bedeutet sodann, dass ein neuer unerwünschter Zustand geschaffen worden ist. Das Herbeiführen einer neuen, weniger gesicherten, hilflosen Lage reicht somit zur Erfüllung des Tatbestandes aus.[96]

Eine Verwirklichung des Tatbestandes kommt im Prinzip auch durch Unterlassen in Betracht, sofern eine entsprechende Garantenstellung vorliegt. In erster Linie ist hierbei an Garantenstellungen aus natürlicher Verbundenheit[97], Ingerenz[98] oder §§ 1626 I 1 i.V.m. § 1631 I BGB[99] zu denken. Ein Versetzen in eine hilflose Lage durch Unterlassen liegt beispielsweise dann vor, wenn eine „Selbstaussetzung“[100] von einem Garanten i.S.d. § 13 I nicht verhindert wird, auch wenn hierbei keine räumliche Entfernung des Opfers der „Selbstaussetzung“ vom garantenpflichtwidirg unterlassenden Täter zu verlangen ist.[101],[102]

[...]


[1] Küper, ZStW 111 (1999) 30 (30).

[2] Außer in Bremen; in Rheinland-Pfalz gehört ein "Überblick" über den Aussetzungstatbestand zum examensrelevanten Pflichtstoff (vgl. Joecks, § 221, vor Rn. 1).

[3] Küper, ZStW 111 (1999) 30 (30); vgl. aber auch van Els, NJW 1967, 966 (966) dort Fn. 2.

[4] §§ ohne ausdrückliche Nennung eines Gesetzes sind solche des Strafgesetzbuches (StGB).

[5] vgl. Feloutzis, S. 20.

[6] s. hierzu S. 9 f.

[7] Fischer, NStZ 1999, 13 (13), dort auch Fn. 2.

[8] Struensee, in: Einführung, 2. Teil, I., 3., a), Rn. 7.

[9] van Els, NJW 1967, 966 (966) dort Fn. 2.

[10] vgl. Wolters, JZ 1998, 397 ff.

[11] vgl. Wessels/Hettinger23, Rn. 198.

[12] vgl. S. 12 ff.

[13] BT-Drucks. 13/8587, S. 34.

[14] BGBl. I 1974, 469.

[15] BGBl. I 1976, 1749.

[16] Jähnke, in: LK11, § 221, vor Rn. 1.

[17] BT-Drucks. 13/8587, S. 60.

[18] Siehe hierzu auch die Ausführungen zu § 221 II Nr. 1.

[19] BT-Drucks. 13/8587, S. 18.

[20] siehe auch S. 47 ff.

[21] Stächelin, StrafV 1998, 98 (100).

[22] ebenda.

[23] BT-Drucks. 13/8587, S. 34.

[24] Hörnle, Jura 1998, 169 (177).

[25] Otto GK5 § 10, Rn. 1; Kreß, NJW 1998, 633 (641).

[26] Haft BT7, S. 100; Hörnle, Jura 1998, 169 (177); Wessels/Hettinger23, Rn. 198.

[27] BT-Drucks. 13/8587, S. 34.

[28] BT-Drucks. a.a.O.; vgl. auch Sternberg-Lieben/Fisch, Jura 1999, 45 (48).

[29] Hörnle, Jura 1998, 169 (177).

[30] vgl. Nolte, in: Bochumer Erläuterungen, § 221, Rn. 1.

[31] BGHSt 7, 211 (212).

[32] BGH a.a.O; BGHSt 21, 44 (45).

[33] Jähnke, in: LK10, § 221, Rn. 3 f.; Küper, JZ 1995, 168 ff.

[34] Struensee, in: Einführung, 2. Teil, I. 3. a), Rn. 9; Sternberg-Lieben/Fisch, Jura 1999, 45 (48).

[35] Eser, in: Schönke/Schröder25, § 221, Rn. 8; Mitsch, JuS 1994, 555 (559).

[36] Maurach/Schroeder/Maiwald BT 18, § 4, Rn. 3.

[37] Mitsch, JuS 1994, 555 (559).

[38] Küper BT2, S. 34; vgl. Kreß, NJW 1998, 633 (641); BT–Drucks. 13/8587, S. 34.

[39] Küper BT2, S. 35; vgl. Wessels/Hettinger23, Rn. 198.

[40] Rengier BT II2, § 10, Rn. 2.

[41] Maurach/Schroeder/Maiwald BT 18. § 4, Rn. 5.

[42] Küper, ZStW 111 (1999) 30 (31).

[43] ebenda.

[44] Jähnke, in: LK11, § 221, vor Rn. 1.

[45] ebenda.

[46] BT-Drucks. 13/8587, S. 34; vgl. auch Lesch, JA 1998, 474.

[47] Küper, in: ZStW 111 (1999) 30 (32), dort Fn. 9.

[48] Haft BT7, S. 101.

[49] Rengier BT II2, § 10, Rn. 2.

[50] BT-Drucks. 4/650, S. 277.

[51] BT-Drucks. 13/7164, S. 34.

[52] BGHSt 19, 167 (168); Sternberg-Lieben/Fisch, Jura 1999, 45 (47).

[53] OLG Celle, NJW 1961, 1939; Sternberg-Lieben/Fisch, a.a.O.; Tröndle, in: Tröndle/Fischer49, § 13, Rn. 8.

[54] vgl. Kühl AT2, § 18, Rn. 70; Rudolphi, in: SK, § 13, Rn. 62.

[55] BT-Drucks. 13/8587, S. 34; vgl. BGHSt 26, 35 (37).

[56] s. RGSt 8, 205; RG JW 1927, 2575.

[57] BGHSt 26, 35 (37).

[58] Struensee, in: Einführung, 2. Teil, I., 3., Rn. 7.

[59] Jähnke in: LK11, § 221, vor Rn. 1.

[60] Horn, in: SK, § 221, Rn. 4.

[61] Jähnke, in: LK11, § 221, Rn. 18.

[62] vgl. Küper BT2, S. 34; so schon Hall, SchwZStrafR 46 (1932) 328 (340).

[63] Wessels/Hettinger23, Rn. 199; Küper BT2, S. 32; BGHSt 21, 44 (45).

[64] Horn, in: SK, § 221, Rn. 3.

[65] BT–Drucks. 13/8587, S. 34.

[66] Jähnke, in: LK11, § 221, Rn. 18; Horn, in: SK, § 221, Rn. 3

[67] vgl. Nolte, in: Bochumer Erläuterungen, § 221, Rn. 5; vgl. Eser, in: Schönke/Schröder25, § 221, Rn. 3.

[68] vgl. Küper BT2, S. 33.

[69] Hall, SchwZStrafR 46 (1932) 328 (331).

[70] Jähnke, in: LK11, § 221, Rn. 18.

[71] ebenda.

[72] vgl. Jähnke, in: LK11, § 221, Rn. 18; Küper BT2, S. 35.

[73] vgl. BGH NStZ 1999, 30.

[74] vgl. Küper BT2, S. 33.

[75] Krey BT I11, Rn. 134; Nolte, in: Bochumer Erläuterungen, § 221, Rn. 3; Haft BT7, S. 101; vgl. auch noch Rengier BT II1, § 10, Rn. 4.

[76] so Krey BT I11, Rn. 134.

[77] Haft BT7, S. 101.

[78] vgl. Küper, ZStW 111 (1999) 30 (43).

[79] Jäger, JuS 2000, 31 (32); Küper, ZStW 111 (1999) 30 (42).

[80] Hiervon geht wohl auch Krey BT I11, Rn. 134 aus, der jedoch weiterhin auf der räumlichen Tatkomponente beharrt.

[81] Frank, StGB18, § 221, Anm. III 1.

[82] Küper, ZStW 111 (1999) 30 (42).

[83] vgl. ebenda; Hörnle, Jura 1998, 169 (177).

[84] so aber Nolte, in: Bochumer Erläuterungen, § 221, Rn. 4.

[85] Im Ergebnis ebenso: Hörnle, Jura 1998, 169 (177); Küper, in: ZStW 111 (1999) 30 (42 ff.).

[86] vgl. Küper BT2, S. 32.

[87] Küper, in: ZStW 111 (1999) 30 (43).

[88] Jäger, JuS 2000, 31 (32).

[89] So auch Horn, in: SK, § 221, Rn. 4.

[90] Hörnle, Jura 1998, 169 (177); Küper, Jura 1994, 512 (523).

[91] Wessels/Hettinger23, Rn. 199; Hörnle, Jura 1998, 169 (177); Küper BT2, S. 34.

[92] Geppert, Jura 1989, 417 (422); vgl. auch Wolff, in: LK11, § 306, Rn. 2.

[93] Stein, JR 1999, 265.

[94] Insofern mißverständlich Horn, in: SK, § 221, Rn. 4.

[95] Geppert, Jura 1989, 417 (422 f.).

[96] Stein, JR 1999, 265; Küper BT2, S. 33.

[97] vgl. Haft BT7, S. 101.

[98] BGHSt 26, 35 (37).

[99] so bei BGHSt 21, 44.

[100] Küper, ZStW 111 (1999) 30 (44).

[101] vgl. ebenda.

[102] Vgl. S. 28 ff.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Die Aussetzung nach § 221 StGB
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2009
Seiten
45
Katalognummer
V138013
ISBN (eBook)
9783640465842
ISBN (Buch)
9783640465774
Dateigröße
591 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
1999 (aktualisiert 2009)
Schlagworte
Aussetzung, StGB
Arbeit zitieren
Rechtsanwalt Stefan Kirchner (Autor:in), 2009, Die Aussetzung nach § 221 StGB, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138013

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