Holunderblüte

Das kollektive Gedächtnis, die Landschaft und die Kindheit einer Region: Volker Koepps dokumentarische Inszenierung Ostpreußens - Eine Filmanalyse


Hausarbeit, 2008

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Provinz Ostpreußen, das kollektive Gedächtnis und Fragen an Koepp - Ein Vorwort

2. Der Dokumentarfilm als spezielles Medium zur Inszenierung der Realität.

3. Volker Koepps Dokumentarfilm „Holunderblüte“
3.1. Volker Koepp: Leben und Werk
3.2. Inhalt des Films„Holunderblüte“
3.3. Filmanalyse

4. Welches Bild von Ostpreußen vermittelt Koepp? Mit welchen Mitteln? Eine Interpretation

5. Literatur, Webseiten und Bildquellen

1. Die Provinz Ostpreußen, das kollektive Gedächtnis und Fragen an Koepp - Ein Vorwort…

Die Provinz „Ostpreußen“ ist ein Stück Geschichte Deutschlands, Polens, Russlands und Litauens. Das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa beschreibt das Gebiet folgendermaßen:

Historische Landschaft an der Ostseeküste, die im Frühmittelalter von den baltischen Prußen bewohnt wurde. Um ihre Christianisierung und Unterwerfung zu betreiben, rief Herzog Konrad II. von Masowien den Deutschen Orden und schenkte ihm das Culmer Land.

Das spätere Ostpreußen ging aus dem Ostteil des Deutschordenslandes hervor, der 1525 in das Herzogtum Preußenüberführt, 1618 mit Brandenburg vereinigt wurde und 1701 mit diesem das Königreich Preußen bildete. In das durch Kriege und Seuchen entvölkerte Land kamen im 18. Jahrhundert u. a. Siedler aus der Schweiz, der Pfalz, Nassau und Salzburg. 1815 wurde die Provinz Ostpreußen (einschließlich des 1772 hinzugekommenen Ermlands) gebildet, die 1824-1878 mit Westpreußen zur Provinz Preußen vereinigt war.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Ostpreußen wegen der Gebietsabtretungen an Polen vomübrigen deutschen Reichsgebiet abgetrennt. Litauen besetzte das Memelgebiet. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das nördliche Ostpreußen an die Sowjetunion (heute Oblast Kaliningrad der Russischen Föderation bzw. Teil Litauens), der südliche Teil an Polen. Die deutsche Bevölkerung flüchtete oder wurde nach 1945 vertrieben. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag und im Deutsch-Polnischen Grenzvertrag von 1990 wurden die 1945 entstandenen Grenzen für endgültig erklärt.1

Insofern von „Ostpreußen“ geredet wird, wäre es logisch, anzunehmen, die Geschichte Deutschlands in Osteuropa stände im Mittelpunkt der objektiven historischen Debatte, die das Bundesinstitut hier kurz umreißt, durch die offensichtlich wird, dass diese Provinz seit Jahrhunderten Auslöser für territoriale Ansprüche, für Kriege war. Der Begriff „Ostpreußen“ ist aber im kollektiven, wie im persönlichen Gedächtnis der Deutschen bis heute weit mehr, als nur ein objektiv historischer Begriff. Ostpreußen ist ein persönlicher, emotionaler Begriff, insofern Menschen versuchen, ihre „Wurzeln“, ihre „Heimat“ bzw. die „Heimat ihrer Großeltern“ zu finden, die 1944 von sowjetischen Truppen im Rahmen des zweiten Weltkrieges „vertrieben“ wurden. Ostpreußen kann zum kollektiven Mythos werden, wenn Menschen versuchen, Vorstellungen, Mythen oder gar eine „Blut und Boden Ideologie“ in die ehemalige Provinz hinein zu projizieren oder ein jahrhundertelanges friedliches Zusammenleben zwischen Deutschen, Polen, Russen und Litauern betonen, was ggf. nicht zu generalisieren ist. Im Rahmen jener kollektiven Vergangenheitsbewältigung bzgl. Ostpreußen ist Koepps Dokumentarfilm „Holunderblüte“ (2008) wiederzufinden, wobei es Koepp dabei nicht nur um die Vergangenheit geht.

Mit den folgenden Stichworten, zu finden auf dem Filmplakat, bewirbt Volker Koepp seinen Film „Holunderblüte“:

„ Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Kinder im Kaliningrader Gebiet - Nördliches Ostpreußen “

Die Schlagworte „Kaliningrader Gebiet - Nördliches Ostpreußen “ werfen die Fragen auf, wo einerseits das „ Kaliningrader Gebiet “ und andererseits die Provinz „ Ostpreußen “ liegt. Koepp suggeriert, das Kaliningrader Gebiet läge im Norden Ostpreußens und provoziert damit den Zuschauer, bevor er den Film überhaupt gesehenen hat, mit einem Anachronismus. Das Kaliningrader Gebiet, das „Kaliningradskaja oblast“ (rus.: ) ist heute eine kleine, wenn nicht gar die kleinste Provinz im Nordwesten der Russischen Föderation. Geografisch korrekt müsste es heißen: „Kaliningrader Gebiet - Russland “ . Insofern Volker Koepp pragmatisch suggeriert, das Gebiet bzw. die Provinz um Kaliningrad gehöre zu Ostpreußen, so wirft Koepp einen Blick von einer Aktualität heraus, hinein in die Vergangenheit, als wolle er eine historische Debatte in Gang bringen. Koepp dreht aber keine historische Dokumentation, jedenfalls nicht offensichtlich, dann würde er über das „Gebiet bei Königsberg“ reden, wie das heutige Kalingrader Oblast in der Provinz Ostpreußen bis 1945 genannt wurde. Koepp vergegenwärtigt aber kein historisches, sondern ein aktuelles Gebiet durch das Filmen von Kindern im „Kaliningradskaja oblast“ im 21. Jahrhundert, wobei einige Kinder, die er frei sprechen lässt, von Zukunftshoffnungen berichten und Kindheit im Allgemeinen eine Zukunft aufgrund einer Entwicklung symbolisiert. Was will Koepp? Vergangenheit aufzeigen? Gegenwart dokumentieren? Zukunft veranschaulichen? Gar einen Gratwanderung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verdeutlichen? Fraglich bleibt, welchen Stellenwert die Begriffe „Frühling, Sommer, Herbst und Winter “ in diesem Zusammenhang haben. Fraglich bleibt ebenfalls, wie der Titel „ Holunderblüte “ zu verstehen ist und was die Landschaft zu bedeuten hat, die auf dem Filmplakat über die Kinder schwebt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diese Hausarbeit wird mit dem Mittel der Filmanalyse Ansätze hervorbringen, um diese Fragen zu beantworten, um Koepps Film „Holunderblüte“ zu interpretieren und zu verstehen. Dafür wird diese Hausarbeit zunächst den Dokumentarfilm als spezielles Medium zur Inszenierung der „Realität“ beleuchten. Es wird darum gehen, Koepps „Holunderblüte“ als Dokumentarfilm zu kennzeichnen und der Frage nachzugehen, ob und inwiefern Realismus im Dokumentarfilm in Szene gesetzt werden kann. Dann wird diese Hausarbeit das Leben und Werk Volker Koepps veranschaulichen. Darauf aufbauend wird der Film „Holunderblüte“ anhand der Ausarbeitungen von Thomas Kuchenbuch analysiert, um schließlich diese Ergebnisse für Ansätze einer Filminterpretation zu nutzen, in der es darum gehen wird, inwiefern Koepp eine gewisse „Realität“ oder gar einen „Mythos“ in Szene setzt, welches Bild von Ostpreußen Koepp vermittelt, welche Rollen dabei Landschaften und Kinder spielen.

2. Der Dokumentarfilm als spezielles Medium zur Inszenierung der „Realität“

Insofern wir im Alltag vom „Dokumentarfilm“ reden, so glauben wir, ihn vom Spielfilm dahingehend abzugrenzen, indem wir dem Spielfilm eine „Fiktionalität“, dem Dokumentarfilm dagegen eine „Wiederspiegelung der Realität“ unterstellen. Wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir zweifelsfrei, dass Spielfilme ebenfalls eine „reale Begebenheit“ wiederspiegeln können, Dokumentarfilme dagegen Fiktionales zum Gegenstand von Untersuchungen machen können, ja gar dem Irrtum unterliegen können. Die Komplexität der Begriffe „Spielfilm“ und „Dokumentarfilm“ ergibt sich v.a. dann, wenn die Medienwissenschaft versucht, Filme in Genre zu klassifizieren oder Genre zu definieren. Der Film „Holunderblüte“ wirkt zunächst auf den Zuschauer als Dokumentarfilm, wenn wir ihn in der Distanz zum Spielfilm betrachten. Als Spielfilm sind hier jene Filme zu verstehen, die eine Handlungsabfolge, ein Ereignisverlauf, eine Dramaturgie zu erkennen geben. Indem die Geschehnisse dieser Dramaturgie nicht isoliert, sondern in ihrer wechselseitigen Bedingtheit dargestellt werden, ist dieser kausale Bezug die Handlung oder der Plot einer Erzählung. Spielfilme wirken durch Narration. Im Film „Holunderblüte“ ist dagegen keine Erzählung zu erkennen. Die Szenen in „Holunderblüte“ reihen aneinander, ohne eine Dramaturgie herzustellen. Der Film „Holunderblüte“ gleicht daher keinem Spielfilm, eher einer Dokumentation bzw. einer Beobachtung einer Reise. Koepp filmt, was er auf seiner Reise in das Kaliningrader Gebiet sehen kann, sehen will. Volker Koepp filmt, was er beobachtet, filmt Kinder, die von ihre Erlebnissen, ihren Schicksalsschlägen berichten, aus Büchern vorlesen, filmt, was sie tun, filmt Geschehnisse. Thomas Kuchenbuch nennt diese Möglichkeit der Dokumentation „the cinéma-verité style“2, geht dabei auf Bernstein, 1998 zurück, der diesen Stil „beobachtender Modus“ nannte; Die Beobachtung steht im Vordergrund, hinter den Kommentaren, womit sich der Film „Holunderblüte“ von Dokumentationen abgrenzt, in der eine These oder eine Argumentation zu einer These verfolgt wird. Wie auch immer man Koepps Reisebeobachtungen nennen könnte, eine Struktur ist in Koepps Film „Holunderblüte“ kaum erkennbar. Beobachtungen Koepps und Erlebnisberichte von Kindern wechseln sich mit Landschaftsbildern ab.

Sind Koepps Reisebeobachtungen ein Dokumentarfilm, wenn er kein Spielfilm ist, wenn er keine Dramaturgie, aber Beobachtungen oder Argumente aufweist? Reicht es, den Begriff „Dokumentarfilm“ als „Dokumentarfilm“ zu definieren, indem wir ihn vom Spielfilm abgrenzen? Thomas Kuchenbuch betont, dass der Dokumentarfilm ein „ schwieriger, zugleich ein unerschöpflicher Gegenstand “3 sei. Er lässt sich nicht nur in Abgrenzung zum Spielfilm definieren, auch politisch; indem die jeweilige Definition auf die Informationsvermittlung im Dokumentarfilm sich konzentriert. Es ist auch möglich, einen Dokumentarfilm veristisch zu definieren, indem der Dokumentarfilm sich an Authentizität und Begriffen wie „Realität“ und „Wahrheit“ messen muss. Ist der Film „Holunderblüte“ ein Dokumentarfilm, indem er kein Spielfilm ist, indem er Informationen liefert und dabei eine „Realität“, gar eine „Wahrheit“ vermittelt? Was ist unter „Realität“ und „Wahrheit“ zu verstehen? Friedrich Nietzsche sagte:

„ Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daßsie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen. “4

Ist das, was Koepp dem Zuschauer als „Wahrheit“ verkauft, nicht lediglich ein „ Heer von Metaphern, Metonymien “ und „ Anthropomorphismen “, die gar „peotisch und rhetorisch gesteigert werden “ ? Führt uns Koepp in ein Ostpreußen ein, dass eine „ Illussion “ ist, ein Bild, eine Konstruktion der Wirklichkeit? Wenn ja, manipuliert Koepp den Zuschauer zu einer „ Illussion Ostpreußens “ , zu einem Mythos? Insofern wir Nietzsche Recht geben, so ist jede Dokumentation, jeder Reisebericht, daher auch Koepps Film „Holunderblüte“ im Endeffekt nur eine Inszenierung einer Realität. Koepp gibt keine Realität wieder, Koepp konstruiert eine Realität, indem er eine Verbindlichkeit festlegt: So ist es im Kaliningrader Gebiet! Kritiker mögen, insofern sie Nietzsche nicht folgen, weiterhin behaupten, Koepp filme die Realität, filme, was wirklich passiert ist, es gäbe kein Drehbuch, keine Dramaturgie, daher können wir bei Koepp von der Wiederspiegelung einer „Realität“ reden. Dabei vergessen die Kritiker, dass ein Dokumentarfilm keine „Realität“ im Sinne einer Komplexität abbilden kann, sondern immer nur einen Ausschnitt einer Realität, da der Dokumentarfilm auf eine bestimmte Zeitspanne beschränkt ist, der Film „Holunderblüte“ auf 90 Minuten. Selbst wenn Koepp es schaffen würde, eine Komplexität in 90 Minuten zu veranschaulichen, so ist und bleibt Koepp selektiv, denn als Reisender, Deutscher und als Dokumentarfilmer besitzt er nicht nur eine unbewusste oder gar bewusste Erwartung an einen Film, er muss gar eine persönliche Entscheidung treffen, was er filmt, vor allem: was nicht. Die Zuschauer sind weiterhin Rezipienten und sehen den Film im Rahmen ihres Erwartungshorizonts, im Rahmen ihrer Vorstellungen von Ostpreußen, im Rahmen ihres Vorwissens über die Provinz früher und das Gebiet heute. Insofern Zuschauer lange genug an diesen Ausschnitt einer Realität im Dokumentarfilm glauben, ist es möglich, dass dieser Ausschnitt eine „Wahrheit“ werden kann, ungeachtet dessen, was noch denkbar wäre, was hinzugefügt, kritisiert oder ggf. vergessen werden kann. Dokumentarfilme können daher, solange sie keine Kritik erhalten, Meinungen produzieren, damit eine Realität konstruieren. Dokumentarfilme ermöglichen die Ausblendung von Komplexitäten und geben die Gelegenheit zur Bereitstellung von Mythen, Motiven, Stereotypen und politischen Meinungen. Insofern wir daher von Dokumentarfilmen reden, so reden wir von Selektion, von der Selektion einer Wahrnehmung bzgl. eines Themas. Wir können daher im Folgenden davon ausgehen, dass der Film „Holunderblüte“ trotz aller Dokumentation lediglich eine Inszenierung Ostpreußens darstellt, dass Koepp lediglich ein „Bild“, eine „Methaper“ von Ostpreußen darbietet. Die Frage bleibt, welches Bild von Ostpreußen Koepp im Film „Holunderblüte“ vermittelt und wie dieses Bild zu bewerten ist. Dazu werden wir Folgenden den Film „Holunderblüte“ analysieren, doch zunächst werden wir den Regisseur Voelker Koepp näher betrachten.

[...]


1 http://www.bkge.de/6525.html, 15.08.2008

2 Kuchenbuch, Thomas: „Filmanalyse. Theorie - Methoden - Kritik“. Böhler. Wien, Köln Weimar 2005: S. 308

3 ebd.: S. 277

4 Friedrich Nietzsche: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, 1873, aus dem Nachlaß http://www.nietzsche.tv/wahrheit-und-luege.html

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Holunderblüte
Untertitel
Das kollektive Gedächtnis, die Landschaft und die Kindheit einer Region: Volker Koepps dokumentarische Inszenierung Ostpreußens - Eine Filmanalyse
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Literatur als kollektives Gedächtnis: Focus Ostpreußen
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
25
Katalognummer
V138005
ISBN (eBook)
9783640465835
ISBN (Buch)
9783640465767
Dateigröße
959 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Hausarbeit beleuchtet zunächst den Dokumentarfilm als spezielles Medium zur Inszenierung der „Realität“, als auch Volker Koepp als Dokumentarfilmer in der DDR und im heutigen Deutschland. Darauf aufbauend wird der Film „Holunderblüte“ analysiert, um jene Analayseergebnisse für Ansätze einer Filminterpretation zu nutzen, in der es darum gehen wird, inwiefern Koepp mit der Hilfe von Landschaften und Kindern einen „Mythos“ von Ostpreußen vermittelt.
Schlagworte
Holdunderblüte, Ostpreußen, Kinder, Mythos, Realität, Filmanalyse, Dokumentarfilm, Koepp
Arbeit zitieren
Udo Lihs (Autor:in), 2008, Holunderblüte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138005

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Titel: Holunderblüte



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