Die Erzeugung authentischer Erfahrungen im Postdrama

Betrachtungen am Stück 'Stecken, Stab und Stangl' von Elfriede Jelinek


Hausarbeit, 2007

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Das Realismusproblem der Avantgarde

2. Das Sichtbarmachen der von den Medien verdeckten Realität
2.1 Das postdramatische Theater
2.2 Geschichte und Gegenwart im Stück
2.3 Zitatmontagen als Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart
2.4 Die Figuren als weitere Komponente

3. Der Rezipient als das entscheidende Element im Postdrama

4. Literaturliste

1. Einleitung: Das Realismusproblem der Avantgarde

Im 20. Jahrhundert hatte sich die Wahrnehmung des Subjekts verändert. Es entstand, laut Lyotard, ein Realismusproblem. Dieses Problem entwickelte sich aus der Entwirklichung von Kunst durch die Avantgarde. Lyotard beschreibt das mit dem Hang der Avantgarde zur Darstellung des von Kant geprägten Gefühls des Erhabenen. Dieses Gefühl sei nicht gleichzusetzen mit Geschmack. Geschmack stehe in Verbindung mit dem, was Kant Reflektion nennt. Das bedeutet, aus einem Kunstwerk kann ein Rezipient Erfahrung und Erkenntnis erlangen sowie Lust erfahren, wenn er vermöge seines Denkens dem dargestellten Gegenstand eine Entsprechung in seiner Vorstellung entgegensetzen kann. Das Gefühl des Erhabenen allerdings, nach dem die avantgardistische Kunst strebte, sollte aber mit der Darstellung von Ideen erlangt werden. Deren Darstellung sei aber eigentlich nicht möglich, da sie die Vorstellungskraft des Menschen übersteige. Das hatte zur Folge, dass die Avantgardisten bei der Erlangung von Lust, Erfahrung und Erkenntnis durch ihre Kunst unter sich blieben, da es keine Rezipienten außerhalb dieses Kreises gab, die das Dargestellte nachvollziehen konnten. An die Stelle von ästhetischer Wahrnehmung tritt eine Leere von erfahrbarer Realität.[1]

Die Industrialisierung der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur füllte die Lücke, welche die Avantgarde schuf. Jedoch wird hier die Leere nicht durch Erfahrung von aus Handwerk und Handarbeit entstandene „verstehbare“ Kunst ersetzt, sondern durch die technische Reproduktion von Kunstwerken gefüllt. Damit wird das Kunstinteresse der Menschen bedient. Die auf Profit angelegte kapitalistische Struktur unterstützt dies, denn nur der Künstler überlebt, der sich den Gelüsten der Masse anpasst. Die stetige Wiederholung vorgeformter Muster festigt das Verständnis von Kunst bei den Rezipienten. Über Kunst muss nicht mehr gestritten werden. Es wird ein alles umschlingender Kommunikationscode geschaffen (vgl. Lyotard 1994 S.196f). Medien vereinnahmen durch diesen Code die individuelle Lebenswelt des Menschen, indem sie, laut Baudrillard, wie bei einem digitalen Code Bedeutungen von Signifikaten unendlich verkürzen und immer wieder erneuern. Es werde quasi ein Code programmiert, der bestimmte aktive Reaktionen der Subjekte fordert und auslöst. Äquivalente dafür wären beispielsweise Moden sowie Botschaften der Werbung und der Medien. Film, Fotografie, Werbung und andere Medien würden so wie in einem totalen Theater, in dem sich ohne Bühne, ohne Blick von außen und ohne Abstand Schauspieler und Publikum vermischen, Realität und Abbildung verschmelzen. Je häufiger ein Medium ein anderes kopiere, desto mehr würde das Reale verschwinden. Durch die stetige Verdoppelung der Realität gehe diese in eine Hyperrealität über. Baudillard definiert daher das Reale als alles das, wovon man eine adäquate Reproduktion herstellen könne. Die Hyperrealität sei für ihn die Reproduktion von dem, was schon produziert worden ist, denn auch die Reproduktion von der Reproduktion sei real. Durch die technischen Möglichkeiten der Kunst (Foto, Film usw.) könne jede Realität sofort vervielfacht werden. Wie bei Andy Warhols Suppendose kann jede Realität sofort zur Kunst werden. Kunst und Realität verschwömmen so miteinander. Jede Fiktion oder jeden Traum packt die Hyperrealität bevor er erfahrbar werde.[2]

Auch hier ist also eine Erfahrungsarmut bei den Menschen zu konstatieren, da ihnen durch die Vermassung von Kunst eine Wirklichkeit geliefert wird, die sie nicht zwangsläufig selbst durch Reflektion erfahren haben. Einer so auf die Massen wirkenden Kunst- und Medienlandschaft wohnt Macht inne. Die Macht der Zerstreuung und der unreflektierten Übernahme des dem Menschen Vorgehaltenen. Der Nationalsozialismus in Deutschland ist ein Beispiel dieser Macht. Filme und Wochenschauen sowie die Präsenz der Medien bei Massenaufmärschen und Sportveranstaltungen liquidierte die Rezeption, ständige Wiederholung schuf Ewigkeitswert, vermittelte einen rituellen Charakter der faschistischen Öffentlichkeit und trug mit dazu bei, dass eine große Masse von Menschen im Gleichschritt ins Verderben marschierte. Dieses Prinzip funktioniere auch heute noch auf ähnliche Weise.[3]

Genau das macht Jelinek Angst. Wie damals sieht sie die Verbreitung faschistischen Gedankenguts in den Medien.[4] Im Stück Stecken Stab und Stangl versucht sie die Verharmlosung des Holocausts, die Negierung österreichischer Schuld an diesem sowie die Darstellung faschistischer, rassistischer und xenophober Gedanken in der österreichischen Gegenwart der 1990er Jahre nachzuzeichnen. Sie führt Geschichte und Gegenwart zusammen, um dem Zuschauer eine eigene Erfahrung von Wirklichkeit zu vermitteln. Diese Erzeugung von Wirklichkeit versucht Jelinek durch Stücke, die dem so genannten postdramatischen Theater zuzurechnen sind. Anhand von Stecken, Stab und Stangl zeige ich, wie Jelinek das Stück aus der Medienwelt entwickelt, diese aber nicht spiegelt[5], sondern das Stück anti-medial gestaltet und somit ihre Kunst von der Unterhaltungsindustrie absondert, um so dem Rezipienten eine authentische Erfahrung zu vermitteln (vgl. Jaeger 2007 S. 99). Dabei betrachte ich am Rande mit, ob der Rezipient, die ihm im postdramatischen Theater zugedachte Rolle erfüllen kann.

2. Das Sichtbarmachen der von den Medien verdeckten Realität

2.1 Das postdramatische Theater

Doch zunächst möchte ich in einem kurzen Exkurs beschreiben, was das postdramatische Theater ausmacht. Lehmann erkennt die Möglichkeiten des postdramatischen Theaters in der Produktion einer TheatRealen[6]. Diese Theaterrealität entspringt aus der Abgeschlossenheit des Theaters, die sich auf Bühne, Zuschauer und Schauspieler beschränkt. Hierbei entsteht eine Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption. In dem Moment, wo der Schauspieler spricht und agiert, nimmt der Zuschauer dieses auf und kann es sofort reflektieren. Anders als das Filmpublikum, dem sich das Schauspiel als Reproduktion zeigt und das von Kameraführung und Filmschnitt abhängig ist, schafft sich das Theaterpublikum durch seine eigene Blickführung und seine eigene Rezeption eine eigene Erfahrungswelt und Wirklichkeit (vgl. Lehmann 1999 S. 370).

Der Zuschauer erhält eine Rolle im postdramatischen Theater. Er erhält die Rolle des Sinnstifters. Dies geschieht, indem das Theater seine Künstlichkeit zur Schau stellt, die nicht die reale Welt abbilden soll. Künstlichkeit erzeugt es durch die Auflösung der Einheit von Schauspiel, Dekoration und Geste des Theaters seit der Renaissance[7]. Das postdramatische Theater setzt die Handlungslosigkeit dagegen. Diese paart sich mit körperlosen Figuren, die sich durch die Sprache konstituieren. Ohne Sprache jedoch gehen sie unter und existieren nicht mehr (vgl. Jaeger 2007 S. 107-112, Pflüger 1996 S. 32).

Darin zeigt sich, dass hier nicht beabsichtigt wird Theater und Wirklichkeit zu verschmelzen. Indem die Wirklichkeit nicht wie bei den Massenmedien als Referenzgröße für das Dargestellte dient, verweisen postdramatische Stücke auf den Fiktionscharakter, der in den Medien permanent abgebildeten Wirklichkeit. Der Verweis soll dadurch gelingen, dass die von den Medien erzeugten Abbilder im Stück deutlich werden. Ein Mittel das zu erreichen sind Zitatmontagen. Sie entwickeln Retrospektiven, indem sie Gegenwart und Vergangenheit verbinden und sich auf Geschichte und Gegenwart gleichzeitig beziehen. Damit ist nicht nur die vorwärts gerichtete Raum-Zeit-Struktur des klassischen Theaters, welche sich in der Einheit von Ort, Zeit und Handlung findet, aufgelöst, sondern es wird auch die dramatische Rolle aufgelöst, so dass der Monolog den dramatischen Dialog ersetzt. Ein anderes Mittel ist die Abtrennung der Theatralik der Figuren von der Sprache. Das bedeutet, die Aktion des Darstellers auf der Bühne muss nicht mit dem von ihm gesprochenen Wort in Verbindung stehen (vgl. ebd.).

Mit dieser Form des Theaters werde der Anspruch erhoben die Menschen von den Folgen der Massenkultur wie Isolation, Anonymität und Vermassung zu heilen (vgl. ebd.). Wie Jelinek das im Stück Stecken, Stab und Stangl versucht und ob dies gelingt, möchte ich im weiteren Verlauf untersuchen.

[...]


[1] Vgl. Jean-Francois Lyotard: Beantwortung der Frage. Was ist Postmodern? In: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hrsg. von Wolfgang Welsch. Berlin: Akademie Verlag 1994, S.199.

[2] Vgl. Jean Baudrillard: Die Simulation. In: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hrsg von Wolfgang Welsch. Berlin: Akademie Verlag 1994, S. 154-159

[3] Vgl. Dagmar Jaeger: Theater im Medienzeitalter. Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller. Bielefeld: 2007. Aisthesis Verlag, S. 96f

[4] Vgl. Stefanie Carp. Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Theater der Zeit Mai/Juni 1996. http://www.elfriedejelinek.com/ (20.01.2008)

[5] Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek. Tübingen: A. Franke Verlag 1996.

[6] Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1999, S.409.

[7] Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas: 1880-1950. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, S.16.

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Details

Titel
Die Erzeugung authentischer Erfahrungen im Postdrama
Untertitel
Betrachtungen am Stück 'Stecken, Stab und Stangl' von Elfriede Jelinek
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Germanistisches Institu)
Veranstaltung
Die Provokationen der Elfriede Jelinek – Epik und Dramatik
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
17
Katalognummer
V137920
ISBN (eBook)
9783640464630
ISBN (Buch)
9783640461783
Dateigröße
429 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erzeugung, Erfahrungen, Postdrama, Betrachtungen, Stück, Stecken, Stab, Stangl, Elfriede, Jelinek
Arbeit zitieren
Heiko Moschner (Autor:in), 2007, Die Erzeugung authentischer Erfahrungen im Postdrama, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137920

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