Lebenszeit, Handlungszeit, Ereigniszeit - Orientierungen an Zeit


Seminararbeit, 1995

38 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Natürliche Zeitabläufe
I. Das kindliche Zeiterleben nach Sichtermann
II. Die Kinderzeit nach Negt/Kluge
III. Die Bäuerinnenzeit nach Inhetveen

C. Die Wechselfälle als eine Zeitkategorie

D. Kritische Gesamtwürdigung

Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Seminararbeit sind die "Lebenszeit, Handlungszeit, Ereigniszeit - Orien- tierungen an Zeit". Im Rahmen dieser Seminararbeit soll nun der Frage nachgegangen werden, wie die Arbeitszeit, mit der üblicherweise die Lohnarbeitszeit gemeint ist, auf die Lebensbedürfnisse der Menschen abgestimmt ist, wie sie die sozialen Beziehungen von Frauen und Männern beeinflußt und welche Auswirkungen sich daraus für die Strukturierung des Alltags und die einzelnen Lebensgeschichten ergeben. Denn auch wenn unsere Gesellschaftsstrukturen nicht mehr ganz so starr sind, so sind die Lebenswelten und damit auch Lebenszeiten von den Geschlechtern doch auf Grund der bestehenden Arbeits- und Funktionsteilung immer noch weit- gehend getrennt. Danach sind die Frauen für die "privaten" Belange der Reproduktionsphase zuständig.

Frauen werden immer noch diskriminiert. Darunter verstehe ich die unterschiedliche und ungerechte Behandlung von Frauen gegenüber Männern. Diskriminierungen umfassen alle sozialen Vorurteile, Verhaltensweisen und Maßnahmen in Wort und Tat, die geeignet sind, Frauen herabzusetzen oder auszugrenzen. Diese Diskriminierungen sind zu verstehen als Folge einer männlich-kapitalistisch strukturierten Gesellschaft, deren Ursache in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung liegen. Diskriminierungen wirken auf Frauen wie bewußt oder unbewußte Strategien zur Stabilisierung dieser Gesellschaft. Die Gesellschaft hält i.d.R. für Frauen unbezahlte Haus- bzw. Familienarbeit und damit öko- nomisch unsichtbare und nicht anerkannte Arbeit bereit, weist ihnen Erziehungs- und Beziehungsarbeit als private, nicht professionalisierte Arbeit zu und hält sie auf schlecht bezahlten Arbeitsplätzen, auf unterbewerteten Frauen-Berufen und in untergeordneten, dienenden Funktio- nen fest.1

Frauen balancieren ständig zwischen den unterschiedlichen Zeiten, des Arbeitssystems und der übrigen "freien" Zeit hin und her.

B. Natürliche Zeitabläufe

An Beispielen von kindlichem Zeiterleben und der Bäuerin- nenzeit möchte ich relativ natürliche Zeitformen aufzei- gen, um die Unterschiede zur unflexiblen Arbeitszeit und dessen Auswirkungen auf die lebenszeitliche Gestaltung des Menschen, darzustellen.

I. Das kindliche Zeiterleben nach Sichtermann

Barbara Sichtermann beschreibt in ihrem Aufsatz "Zeit- Kämpfe mit Kindern" die unterschiedlichen Zeitempfindungen und die daraus entstehenden Probleme von Erwachsenen und Kleinkindern, im Alter von ca. neun Monaten bis zu drei Jahren, da die Konflikte, die aus diesen beiden unter- schiedlichen Zeiterlebnisformen entstehen, in diesem Kin- deralter am extremsten sind.

Zeitempfinden von Kleinkindern

Kleinkinder versinken im Augenblick, wobei sie im Hier und Jetzt, also genau in diesem Moment, leben. Sie haben dabei die Eigenart, daß sie überall dabeisein und beteiligt sein wollen.2 Für sie sind Anfang und Ende ihrer Handlungen nicht genau festgelegt, sie sind einfach nicht so wichtig. Die Kinder machen sehr hohe Ansprüche an die Erwachsenen geltend, die auch berechtigt sind, da sie, um selbst hand- lungsfähig zu werden, ihre Unterstützung brauchen.3

Zeitempfinden von Erwachsenen

Die Handlungen der Erwachsenen sind zielgerichtet, zweck- rational, wobei sie so strukturiert sind, daß sie einen Anfang und ein Ende haben. Barbara Sichtermann spricht hier von einem "ununterbrochenem Handlungsbogen", der i.d.R. auch abgeschlossen wird. Es handelt sich um den Ab- lauf einer Tätigkeit ohne Unterbrechung. Hierfür gibt sie folgendes, anschauliches Beispiel: "Nehmen wir etwas ganz Banales: Ich setze Teewasser auf. Ich ergreife den Kessel, trete an das Spülbecken, öffne den Hahn und halte den Ein- füllstutzen des Kessels unter den Wasserstrahl; ich warte, bis der Kessel sich schwer genug anfühlt in meiner Hand, dann setze ich ihn auf die Herdplatte und schalte die Platte ein. Eine Verrichtung reiht sich an die nächste, ich vollziehe Handgriff für Handgriff und die Übergänge zwischen ihnen leicht und ohne darüber nachzudenken. Je nachdem wie ich gestimmt bin und wie stark mein Verlangen nach einer Tasse Tee ist, geraten mir die kleinen Aktionen lässiger oder hastiger; in jedem Fall ist es die Vorstel- lung des Tee-Trinkens, die mich beflügelt. Die Vorstellung treibt mich zur Handlung, sie steht am Beginn des Hand- lungsbogens, und ihre Ersetzung durch den realen Akt des Trinkens markiert das Ende des Bogens."4 Bei Sichtermann's Schilderung wird deutlich, daß ein Handlungsbogen eine Spannung hat, die bis zum Ende, hier das Ziel des Teetrin- kens, anhält. Um das jeweilige Ziel auch erreichen zu kön- nen, benötigt der Erwachsene Konzentration und Beständig- keit.

Nun kommt es aber i.d.R. auch zu Unterbrechungen, z.B. durch ein klingelndes Telefon. Im normalen Rahmen der Erfahrungshorizonte von Erwachsenen sind solche Unterbre- chungen in soweit in Ordnung, daß der Erwachsene mit ih- nen, ohne größere Probleme, umzugehen gelernt hat. Schwie- riger wird es, wenn die Unterbrechungen von Kleinkindern ausgelöst werden. Dies führt bei Erwachsenen zu größeren Irritationen, da Kinder ihre Aufmerksamkeit auf alle Er- eignisse in ihrer Umgebung richten. Sie mischen sich spontan in alles ein und unterbrechen somit die Hand- lungsbögen der Erwachsenen ständig.5 Das bedeutet für ei- nen Erwachsenen im Leben mit einem Kleinkind, daß Unter- brechungen seiner Handlungsbögen an der Tagesordnung sind. Es gibt für ihn 3 Möglichkeiten, damit umzugehen. Zum ei- nen kann darauf bestanden werden, den eigenen Handlungs- bögen zu Ende zu bringen. Zum anderen kann er auch ganz aufgegeben werden. Und die dritte Möglichkeit wäre, doch einige Handlungsbögen zu retten, ohne das Kind dabei zu sehr zu enttäuschen. Meistens kommt es zu einer Kombina- tion aller drei Maßnahmen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß diese, von Sichtermann bezeichneten Unterbrechungen umgangs- sprachlich eigentlich Störungen heißen, was, wie ich fin- de, i.d.R. von vornherein zu negativen Assoziationen führt.

Diese Unterbrechungen sind auf beiden Seiten nötig. Für das Kind bei dem Erwachsenen, da dies entweder Hilfe für eigene Aktivitäten braucht oder Handlungsbögen der Erwach- senen unterbricht, um sich selbst darin auszuprobieren. Und für den Erwachsenen sind Unterbrechungen bei dem Kind sinnvoll, wenn dieses etwas tut oder noch tun will, was ihm oder anderen Schaden könnte.

Die Handlungen der Kinder sind eher zyklisch, sie sind wie ein Kreislauf, bei dem Anfang und Ende ineinander über- gehen.6 Daher kann bei Kleinkindern auch nicht von Hand- lungsbögen, in dem Sinne, wie bei den Erwachsenen, ge- sprochen werden, da die dazugehörige Spannung wegfällt. Es handelt sich eher um wellenförmige Aktivitäten, die kein Ziel verfolgen. Für Kleinkinder ist es ein spielerisches Ausprobieren, wodurch ihre Umwelt, also die Erwachsenen- welt, erforscht und so auch immer wieder unterbrochen wird. Das bedeutet, die Erwachsenen und die Kinder greifen immer wieder in die Handlungsbögen und Aktivitäten des jeweilig anderen ein. Durch diese Unterbrechungen lernen die Kinder. Doch ist es auch für die Erwachsenen möglich, davon zu lernen?7 Diese drängen i.d.R. danach ihre Hand- lungsbögen zu Ende zubringen, da sie zweckrational und zielgerichtet handeln.8 Das ist zwar eine Stärke, die aber auch Spontanität und Selbstkritik unterdrückt, da, wie ich finde, ohne Unterbrechung, auch keine Zeit zur Überlegung zur Verfügung steht und so kein spontanes Erkennen darüber erfolgen kann, ob das eigene Vorhaben auch noch sinnvoll erscheint. Um hier noch einmal auf das Tee-Beispiel zurück zu kommen, müßte sich der Erwachsene jetzt fragen, was der Tee für ihn für einen Wert hat, wenn das Kind traurig würde, weil es nicht dabei helfen durfte. Dieses einfache Beispiel macht sehr deutlich, daß das Unterbrochenwerden auch durchaus positiv sein kann, es ermöglicht ein Inne- halten. Meines Erachtens kann der Erwachsene hierbei Zeit zum Denken finden. Der Umgang mit Zeit sollte Raum für Spontanität lassen, um flexibel handeln zu können.

Der Aufschub und die Gleichzeitigkeit

Eine flexible Zeit kann dafür verwendet werden, um Kon- flikte zu lösen. Das bedeutet Anstrengung und Verzicht, wobei die Zeit dabei überdehnt oder gebündelt wird.

Ein Beispiel für den Aufschub, ist die Beschreibung Sichtermann's von ihren vielen abgebrochenen Handlungs- bögen am Tagesende.9 Ihr steht der Abend zur Verfügung, diese zu beenden, falls sie nicht schon im Verlauf des Tages für immer abgebrochen werden mußten. Sie be- schreibt: "Manches muß ich jetzt noch erledigen, z.B. einen Anruf den Simon sehr effektvoll durch das Rauszie- hen des Telefonsteckers unterbrach. Oder das Blumengießen, von dem ich abließ, um ihm beim Herstellen des Handlungs- bogens "Turmbauen" zu assistieren. Oder das In-den- Eisschrank-Stellen der eben noch eingekauften Milchpro- dukte, mit dem ich nicht zu Ende kam, weil er es erst- malig schaffte, die Küchentür zu öffnen und dann im Über- schwang der neugewonnenen Freiheit zu rasch über den Flur lief und stolpernd mit dem Kopf gegen die Kommode fiel."10

Ein Erwachsener benötigt für diese Aufschübe Planung und Organisation, um dem Kind gerecht zu werden. Auch damit die Zweckrationalität des Erwachsenen nicht überhandnimmt, müssen sich Erwachsene in die kindlichen Wünsche einfüh- len. In diesem Zusammenhang wäre es auch sinnvoll, sich mit anderen Erwachsenen untereinander über diese Erfahrun- gen auszutauschen.

Doch nicht alles kann aufgeschoben werden, wie z.B. das tägliche Essen-Kochen. Kommt zu dieser Tätigkeit noch ein kindliches Bedürfnis hinzu, müssen mehrere Handlungsbögen zur gleichen Zeit gespannt und durchgehalten werden. Hier- bei kommt es zur Gleichzeitigkeit,11 die auch als Streß be- zeichnet wird, um dem Kind und sich selbst gerecht zu wer- den. In solch einer Situation wird mehr Konzentrationsar- beit geleistet, wobei die Möglichkeit des Erfolges sinkt, da einfach nicht zwei oder mehr Dinge gleichzeitig zu be- wältigen sind.

Dies alles führt immer wieder zu Konflikten,12 die von Sichtermann wie folgt kurz beschrieben werden: "... die Handlungsbögen der Erwachsenen und die der Kleinkinder, die Abwehr beider gegen Unterbrechungen, die Sehnsucht nach dem Zu-Ende-Bringen, die beiderseitige Notwendig- keit zur häufigen wechselseitigen Unterbrechung, der Aufschub und die damit geschehende Umorganisation des Alltagslebens, die Gleichzeitigkeit von Handlungen und die Streßwirkungen, die sie erzeugt, der zweckrationale Um- gang mit Zeit, seine Berechtigung, seine Grenzen."13

Die zyklische Zeit in bezug zu ihrer Wiederholung und der Langeweile

Eine Zeiterlebnisform ist die zyklische Zeit. Auch sie liefert ihre Konflikte, obwohl sie, wenn sie von Erwach- senen angewandt wird, zu einer Annäherung zwischen Kinder- und Erwachsenenzeit führt. Die bekannteste Form dieser Zeit ohne Anfang und Ende ist die Wiederholung. Dies kann z.B. ein Ballspiel oder auch im Sandkasten Kuchenbacken sein. Bei diesen Wiederholungen empfindet das Kind Ver- gnügen.14 Der Erwachsene jedoch eher Langeweile, weil sich für ihn nichts verändert, im Gegensatz zum Kind. Dieses dringt gerade durch die Wiederholungen in immer weitere Zusammenhänge hinein,15 so daß, dies für das Kind auch gar keine Wiederholungen mehr sind, sondern Lernerfahrungen, die auch noch Spaß bereiten. Der Erwachsene ist dabei je- doch irritiert, ihn erinnern diese Wiederholungen viel- mehr an die Besessenheit eines geistig Verrückten, der aus Zwang heraus handelt. Bei der kindlichen Lust an der Wie- derholung, erschöpft diese sich allerdings doch früher oder später, dann, wenn das Kind nämlich einfach nicht mehr will.

Mit der Wiederholung verbinden die Erwachsenen auch die Routine und die Gewöhnung im Arbeitsablauf und empfinden bei der Wiederholung mit Kindern Langeweile.16 Erwachsene meinen, sie müßten die kostbare Zeit doch nutzen, aber die Kinder zwingen sie zur Langeweile, einem kränkenden Erlebnis, von unausgefüllter, leerer und schleppender Zeit.

[...]


1 Vgl. Schlüter, Anne: „Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe“ – Zur Geschichte und zu heutigen Formen von Frauen- diskriminierung in der Wissenschaft. In: Brigitte Emig (Hrsg.): Frauen in der Wissenschaft. Darmstadt 1988, S. 160 f.

2 Vgl. Sichtermann, Barbara: Zeit-Kämpfe mit Kindern. In: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung. Berlin 12. Jg., 1981, Heft 45/46, S.5.

3 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.7.

4 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.6.

5 Vgl. Sichtermann, 1981, a.a.O., S.6 f.

6 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.7.

7 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.8.

8 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.10.

9 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.9.

10 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.10.

11 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.10.

12 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.11.

13 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.11.

14 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.12.

15 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.13.

16 Vgl. Sichtermann , 1981, a.a.O., S.14.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Lebenszeit, Handlungszeit, Ereigniszeit - Orientierungen an Zeit
Hochschule
Universität Kassel  (Wirtschaftswissenschaften / Politische Wissenschaft / Soziologie)
Veranstaltung
Arbeitszeiten und Geschlechterverhältnisse
Note
2,0
Autor
Jahr
1995
Seiten
38
Katalognummer
V13648
ISBN (eBook)
9783638192491
Dateigröße
429 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lebenszeit, Handlungszeit, Ereigniszeit, Orientierungen, Zeit, Arbeitszeiten, Geschlechterverhältnisse
Arbeit zitieren
Petra Pardun (Autor:in), 1995, Lebenszeit, Handlungszeit, Ereigniszeit - Orientierungen an Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13648

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