Sophokles und Anouilhs Antigone - dramatischer Ausdruck zweier konträrer Welt- und Menschenbilder


Hausarbeit, 2007

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die „Antigonen" von Sophokles und Anouilh - dramatischer Ausdruck zweier konträrer Welt- und Menschenbilder

2. Inhaltliche Zusammenfassung beider Werke
2.1 Handlungsstruktur in der sophokleischen „Antigone“
2.2. Handlungsstruktur in der „Antigone“ von Jean Anouilh

3. Einbettung des Individuums in metaphysische Kohärenzsysteme
3.1. Bedeutung von Bestattungsgebot und Bestattungsverbot
3.2. Manifestation des Numinosen
3.3. Metaphysische Grundlage der Figuren
3.4. Präsenz bzw. Absenz des Sehers

4. Einbettung des Individuums in gesellschaftliche Strukturen
4.1. Die Familie - Ort des Schutzes?
4.2. Unterschiedliche Ausgestaltung der Liebesbeziehung Antigone- Hämon
4.3. Einsamkeit- gleichberechtigter Teil des Gefühlsspektrums oder Grundgefühl menschlicher Existenz?

5. Der Staat und seine Bedeutung fürs Individuum
5.1. Kreons Herrschaftsauffassung
5.2. Sinnstruktur der sophokleischen Polis vs. Absurdität des politischen Handelns bei Anouilh
5.3. Die „Antigonen“ – Lehrstücke politischen Handelns?

6. Vergleich der antagonistische Prinzipien in den Weltbildern beider Dramen

Bibliographie

1. Die „Antigonen" von Sophokles und Anouilh - dramatischer Ausdruck zweier konträrer Welt- und Menschenbilder

„Es ist sinnlos, das Schicksal der Antigone heute dramatisch zu wiederholen, weil die Heldin als krankhaft hartnäckiges, von einer Schrulle beherrschtes, todesgieriges Wesen erscheinen müßte und nicht ein Exempel der Metaphysik, sondern der Pathologie abgäbe“1. Dieser Auszug aus Gerhard Nebels Abhandlung „Weltangst und Götterzorn“ beschreibt meiner Ansicht nach äußerst treffend die Unvereinbarkeit zweier Welten, die sich nicht nur historisch, sondern auch geistesgeschichtlich in enormer Distanz zueinander befinden.

Wie sollten demnach zwei Werke, von denen eines ca. im Jahre 442 vor Christus geschaffen worden ist, während das andere auf das Jahr 1944 zu datieren ist, je von einer gemeinsamen Basis ausgehen können?

Und doch trägt sowohl das sophokleische Stück als auch Anouilhs moderne Rezeption den Titel „Antigone“. In Zusammenhang mit der nicht von der Hand zu weisenden Tatsache, dass beide Fabeln außerdem erstaunliche Parallelitäten aufweisen, regt diese Feststellung den Leser des 20. Jahrhunderts zweifelsohne zur Reflexion darüber an, worin genau sich seine Welterfahrung von der des antiken Rezipienten unterscheidet.

Ist es demzufolge - um auf das einleitende Zitat zu rekurrieren - nun tatsächlich „sinnlos“ eine moderne Konzeptualisierung des Antigonestoffs vorzunehmen oder bietet der Rahmen beider Dramen nicht vielmehr gerade in seiner äußerlichen Kongruenz die Möglichkeit einer präzisen Darstellung zweier antithetisch aufeinander bezogenen Welt- und Menschenbilder?

2. Inhaltliche Zusammenfassung beider Werke

2.1 Handlungsstruktur in der sophokleischen „Antigone“

Um die nachfolgende vergleichende Analyse der sich in beiden „Antigone“-Dramen manifestierenden Weltbilder auf ein gesichertes Fundament zu stellen, ist es zunächst einmal vonnöten, eine knapp gehaltene strukturelle Gliederung beider Handlungsverläufe zu liefern.

Das von Sophokles verfasste Stück leitet sich mittels einer Prologszene ein, welche im Eingangsdialog zwischen Antigone und Ismene besteht. Während die Protagonistin hierbei einen vergeblichen Versuch unternimmt, die Mitwirkung ihrer Schwester bei der geplanten Bestattung zu erreichen, wird sowohl in Antigones Figurenrede als auch in der nachfolgenden Parodos des Chors die zur tragischen Situation hinführende Vorgeschichte thematisiert. Jene Szenerie des Thebanischen Krieges sowie des gegenseitigen Brudermords von Polyneikes und Eteokles liefert der Herrscherfigur Kreon im Folgenden eine Legitimation für das von ihm verhängte Bestattungsverbot gegen Polyneikes, der von ihm als Verräter Thebens diffamiert wird. Die sich daran anschließende dramatische Redesituation zwischen dem Tyrannen und einem herbeigeeilten Wächter belegt hingegen, dass gegen eben diese Anordnung verstoßen worden ist.

Nachdem das erste Stasimon des Chores auf die generelle Machtstellung des Menschen sowie auf dessen Ohnmacht gegenüber dem Tod verwiesen hat, tritt abermals der Wächter auf, der Antigone, deren wiederholten Bestattungsritus er beobachtet hat, an den Despoten ausliefert. In jenem Passus entfaltet Antigone ihre, die eigene Handlungsweise legitimierende, Argumentation, welche einerseits ihre bedingungslose Bruderliebe und andererseits ihre unbedingte Pflichterfüllung gegenüber dem numinosen Element zur Erwähnung bringt. Des Weiteren dokumentiert diese Passage Ismenes plötzlich geäußerte Bereitschaft, mit ihrer Schwester in den von Kreon verhängten Tod zu gehen, indem sie behauptet, ebenfalls am Vollzug der Bestattung teilgenommen zu haben.

Nachdem Antigone jenes Opfer jedoch schroff zurückgewiesen hat, leitet das zweite Standlied des Chores, welches das Verhängnis des Labdakidenfluchs evoziert, über zum auf politischen Divergenzen beruhenden Streitgespräch zwischen Kreon und seinem Sohn Hämon. Dessen Versuch, die Tötung seiner Geliebten dadurch zu verhindern, dass er den tyrannischen Grundgestus seines Vaters einer kritischen Beurteilung unterzieht, scheitert allerdings an der Starrsinnigkeit des Despoten, der nun plant, Antigone lebend in ein Felsengrab zu sperren.

Im nachfolgenden Stasimon legt der Chor Zeugnis ab von der allgegenwärtigen Kraft des Eros, während er im Laufe von Antigones Klagelied eine kritische, jedoch durchaus bilaterale Bewertung von Antigones Tat vornimmt und schließlich im vierten Standlied sogar versucht, der tragischen Heldin Trost zu spenden.

Im Anschluss an jene Sequenz ist wohl die Peripetie der Tragödie anzusiedeln, weil der dramatische Konflikt durch den Auftritt des Sehers Teiresias eine deutliche Steigerung erfährt. Dieser weissagt nämlich dass die Hybris des Tyrannen eine Übertragung des Labdakidenfluchs auf sein eigenes Geschlecht nach sich ziehen wird.

Jedoch bedarf es zunächst imperativischer Intervention durch den Chor, bevor Kreon zur Bestattung des Staatsfeindes sowie zur Befreiung der Protagonistin ansetzt.

Trotz dieser offensichtlichen Läuterung mündet der Exodos, welcher dem fünften Stasimons nachgeordnet ist, das die Anrufung des Gottes Dionysos zum Schutze der Stadt zum Thema hat, in die Katastrophe. Deren ganzes Ausmaß lässt sich am hier eingesetzten Botenbericht ablesen, der die Selbstmorde Hämons und Eurydikes, Kreons Frau subsumiert. Durch jene Ereignissequenz gelangt Kreon vollends ins Bewusstsein seiner fatalen Verfehlung, welche in der frevelhaften Negierung der göttlichen Gesetze besteht, die auch die Conclusio des Chores aufs Schärfste verurteilt.

2.2. Handlungsstruktur in der „Antigone“ von Jean Anouilh

In welchen Punkten unterscheidet sich nun der Handlungsverlauf in der anouilschen „Antigone“ von der Fabel, die Sophokles in seinem antiken Werk darstellt?

Bereits der Prolog des 1944 erstmals zur Aufführung gebrachten Stückes unterscheidet sich grundlegend von der sophokleischen Exposition. Anouilh betraut nämlich einen Sprecher (le Prologue) mit der Vorstellung der Figuren, die durch ihre individuellen Rollen determiniert sind, sowie mit der knappen Darstellung der Vorgeschichte.

Im weiteren Verlauf des Einakters manifestiert sich abermals eine Modifizierung des von Sophokles festgesetzten Plots, indem eine private Unterredung zwischen Antigone und ihrer Amme eingefügt wird. Ohne dass jene Tatsache explizit geäußert wird, wird dem Leser während dieser Sequenz durch Antigones Verhalten und diversen Doppeldeutigkeiten in ihrem sprachlichen Ausdruck übermittelt, dass die tragische Figur die Bestattung bereits unmittelbar vor dem Gespräch mit ihrem Kindermädchen vollzogen hat.

Erst im Anschluss hieran wird Ismène ins dramatische Geschehen involviert, wobei jedoch zu beachten ist, dass deren Grundgestus mit dem der sophokleischen Figurenzeichnung kontrastiert. Schließlich nimmt Ismène nicht mehr den passiven Part in der schwesterlichen Beziehung ein, sondern versucht aktiv, ihre kleine Schwester von der Übertretung der staatlichen Gebote abzuhalten.

Nachdem Antigone im folgenden Dialog mit der Amme durch die Anweisung, man solle im Falle ihrer Abwesenheit gut mit ihrem Hund umgehen, die Ahnung ihres baldigen Todes noch bestärkt hat, betritt ihr Geliebter Hémon die Bühne.

Die sich hieran anschließende Kommunikationssituation dokumentiert einen sich am Vorabend zugetragenen Disput der beiden Liebenden. Dessen Auslöser ist darin zu finden, dass Hémon die Bemühungen Antigones, ihr Aussehen mithilfe von Ismènes Kleidung und Schminke verführerischer zu gestalten, lediglich belächelt hat. Bevor die Protagonistin Hémon anweist, ohne Reaktion auf ihre Äußerungen den Raum zu verlassen, enthüllt sie dem Partner, dass sie sich zwar am vorhergehenden Tag gewünscht hat, mit ihm zu schlafen, aber nie seine Ehefrau sein wird.

Indem Antigone in einer erneuten Sprechaktsequenz mit ihrer Schwester den Verstoß gegen das staatliche Verdikt zugibt, wird eine Überleitung zur dramatischen Herrscherfigur des Créon geschaffen. Schließlich wird jener im nachgeordneten Passus durch einen Wächter über den Vollzug der Bestattung, die unter Benutzung einer alten Kinderschaufel durchgeführt worden ist, in Kenntnis gesetzt.

In formaler Anlehnung an die sophokleischen Chorlieder erfährt die dramatische Handlung an dieser Stelle eine Zäsur durch eine längere Kommentarsequenz des Sprechers, der die Ausweglosigkeit des Geschehens in der Tragödie der hoffnungsvollen Grundstimmung, die durch die Struktur des Dramas gegeben ist, gegenüberstellt.

Die nachfolgende szenische Aktion wird durch die Ankunft der Wächter eingeleitet, welche die bei der abermaligen Beerdigung des Bruders ergriffene Antigone mit sich führen. Diese gesteht im Dialog mit dem König Thebens die zweifache Bestattung sogleich ein.

In Kontrast zu jener Tyrannenfigur, die Sophokles’ antikes Theaterstück vorgezeichnet hat, qualifiziert Créons unbedingter Wille, Antigone zu retten, ihn im weiteren Verlauf des anouilschen Werkes eher als Realpolitiker mit humanen Charakterzügen denn als unerbittlichen Despoten. Während der Wechselrede führt er nämlich alle von Antigone vorgeschobenen religiösen, humanitären und familiären Handlungsmotive ad absurdum. Obwohl Antigone somit ins ganzheitliche Bewusstsein der Absurdität ihres Tun gesetzt wird, verhindert Créons finale Aufforderung, das kleine Glück des Lebens in Ehren zu halten, die Umkehr der Protagonistin. Diese formuliert schließlich in Form der Schlüsselaussage: « Moi, je veux tout, tout de suite - et que ce soit entier - ou alors je refuse. »1 ihre Verneinung des Lebens als beständigem Kompromiss.

Die Peripetie des dramatischen Werkes besteht in der von Créon gegenüber dem Chor und Hémon geäußerten Hilflosigkeit des Herrschers, Antigones fatalen Entschluss zu revidieren. Dessen Absurdität erschließt sich der tragischen Heldin erst im Verlaufe der Kommunikationssituation mit dem indifferenten Wächter- eine Erkenntnis, die allerdings nicht vermag, die im Plot der sophokleischen Tragödie festgelegten Suizide von Antigone, Hémon und Eurydice abzuwenden.

Im Unterschied zur im antiken Drama manifesten Läuterung des Kreon, besteht die Reaktion der anouilschen Herrscherfigur auf jenes katastrophale Dénouement weniger in verzweifelnder Selbstverurteilung, sondern in der beinahe gleichmütigen Wiederaufnahme der Regierungsgeschäfte.

3. Einbettung des Individuums in metaphysische Kohärenzsysteme

Was beschäftigte den Menschen über die Jahrhunderte jemals mehr als seine « [...] relation éventuelle à un être supérieur »2 ?

Auch die Stücke von Sophokles und Anouilh thematisieren somit das überirdische Element, jedoch unterscheiden sich die Ansatzpunkte beider Betrachtungsweisen grundlegend.

3.1. Bedeutung von Bestattungsgebot und Bestattungsverbot

So steht und fällt die Handlung der sophokleischen „Antigone“ im Wesentlichen mit dem hauptsächlich religiös motivierten Bestattungsgebot. Schließlich war die Vorstellung in der Polis des 5. Jahrhunderts fest verwurzelt, dass eine tote Seele erst durch den Vollzug der Bestattungsriten in Frieden ruhen kann. Der Geltungsbereich dieser zivilisatorischen Norm bezieht sich in gleichem Maß auf alle Individuen, „[...] da sie, wer immer sie auch waren, die höchste und ehrwürdigste Aktion des Menschen, das Sterben, vollzogen“ (Nebel, S. 183). Es lässt sich also konstatieren, dass der Anspruch der Chthonioi, der unteren Götter, sich einer „politische[n] Differenzierung der Toten“1 entzieht, was sich auch anhand der programmatischen Forderung Antigones: „Und dennoch fordert Hades gleiches Recht“2 beweisen lässt. Hieraus ergibt sich, dass der Tod sich dem Einflussbereich der von Kreon repräsentierten politischen Machtsphäre entzieht (vgl. Zimmermann, S. 295). Kreons Frevel besteht also wesentlich darin, dass er gegen jenes ungeschriebene Gesetz, das sich in der abschließenden Chorpassage: „Was der Götter ist, entweihe keiner“ (V. 130) manifestiert, verstößt. Indem er sich nämlich mittels seines in den Bereich des Numinosen eingreifenden Bestattungsverbotes der Illusion hingibt, als Herrscher über die Polis göttlichem Willen zuwiderzuhandeln zu dürfen, stellt er somit ein prototypisches Bespiel für die menschliche Hybris dar.

[...]


1 Nebel, Gerhard, Weltangst und Götterzorn. Eine Deutung der griechischen Tragödie, Stuttgart: Ernst Klett

Verlag, 1951, S. 191

1 Anouilh, Jean, Antigone, Paris: La Table Ronde, 1946, S. 95 (im Folgenden lediglich gekennzeichnet durch

Seitenangabe)

2 Fraisse, Simone, Le mythe d’Antigon e, Paris: Librairie Armand Colin, 1974, S. 89

1 Zimmermann, Christiane, Der Antigone-Mythos in der antiken Literatur und Kunst, Tübingen: Günter Narr

Verlag, 1993, S. 305

2 Sophokles, Antigone, Stuttgart: Reclam, 1995, V. 519 (im Folgenden gekennzeichnet durch Versangabe)

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Sophokles und Anouilhs Antigone - dramatischer Ausdruck zweier konträrer Welt- und Menschenbilder
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Veranstaltung
Einführung in die griechisch-römische Mythologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V136347
ISBN (eBook)
9783640445745
ISBN (Buch)
9783640445882
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sophokles, Anouilhs, Antigone, Ausdruck, Welt-, Menschenbilder
Arbeit zitieren
Melanie Skiba (Autor:in), 2007, Sophokles und Anouilhs Antigone - dramatischer Ausdruck zweier konträrer Welt- und Menschenbilder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136347

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