Funktion und Bedeutung der ersten Verfassungen Haitis (1801-1805)


Essay, 2008

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Saint-Domingue: Sozialstruktur, Ökonomie und Konfliktlinien am Vorabend der Revolution

3 Nach der Revolution: Haiti, Sozialstruktur, Ökonomie und Macht

4 Haitis Verfassungen und die Unabhängigkeitsproklamation

5 Funktion und Bedeutung der haitianischen Verfassungen

Bibliographie

1 Einleitung

Im Jahr 1801, noch während die revolutionären Ereignisse und die damit verbundenen Wirren des Krieges in der französischen Karibikkolonie Saint-Domingue andauerten, erließ General Toussaint Louverture, Führer der aufständischen Sklavenarmeen und zu diesem Zeitpunkt der mächtigste Mann in der Kolonie, eine Verfassung für Saint-Domingue. Im Mittelpunkt dieser Verfassung stand auf der einen Seite die Abschaffung der Sklaverei, auf der anderen eine wohl absichtlich vage gehaltene Souveränität der Kolonie.[1] Wirft man auf diese Maßnahme Louvertures einen etwas eingehenderen Blick, so erstaunt weniger die Tatsache, dass er die in langen Kriegsjahren erkämpfte Freiheit der ehemaligen Sklaven perpetuieren und einen autonomen Handlungsspielraum für die Kolonie erwirken wollte, als vielmehr das Mittel, das er hierfür wählte, namentlich die Verfassung. Verwunderlich ist dies insofern, als dass Verfassung in ihrem Ursprung ein historisches Phänomen ist, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im europäischen Raum als Element zur Schaffung politisch-sozialer Ordnung in Erscheinung tritt, quasi als Antwort auf die spezifischen Probleme einer Zeit an einem Ort.

In ihrem historischen Kontext also lässt sich Verfassung als „Problemlösungsformel“ (Blänkner), als Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit politisch-sozialer Ordnung in einer Zeit verstehen, in der in Europa durch das Aufkommen neuer sozialer Kräfte das alte Ständegefüge transzendiert wurde.[2] Die Entstehung und Ausdifferenzierung der „neuständischen Gesellschaft“ seit Mitte des 18. Jahrhunderts war „vor allem Folge wachsender Kommerzialisierung und der sich intensivierenden Marktmechanismen des expandierenden kapitalistischen Weltsystems“[3]. In dieser „neuständischen Gesellschaft“, deren Trägerschicht sich aus eben diesen neuen sozialen Kräften, den gebildeten Ständen, zusammensetzte, entstand eine Öffentlichkeit, in der der Ruf nach Freiheit und Gleichheit für ihre Mitglieder, mithin nach politischer Partizipation laut wurde.[4] In diesem Zusammenhang rückte Verfassung in den Mittelpunkt des politischen Denkens, entwickelte sich gar zum „Leitbegriff aller Leitbegriffe“[5] dieser Zeit, da sie zum Kernpunkt der gedachten sozialen Integration der neuständischen Gesellschaft wurde.[6]

In Anbetracht der Genese der Verfassung in ihrem ganz spezifischen politisch-sozialen Entstehungskontext drängt sich dem Leser unweigerlich die Frage auf, welche Funktion Verfassung als Integrations- bzw. Identifikationselement in der ehemaligen französischen Sklavenkolonie Saint-Domingue/Haiti nach deren Unabhängigkeit übernehmen konnte. War doch das soziale Gefüge nach 13 Jahren Krieg und Revolution weit davon entfernt, auch nur die geringste Ähnlichkeit mit einer neuständischen Ordnung europäischen Typus aufzuweisen. Was also konnte Verfassung in Haiti leisten, wer waren die Subjekte dieser Verfassung, was für eine Bedeutung wurde ihr beigemessen? Erfüllte sie gar gänzlich differente Funktionen? Der vorliegende Essay will Antworten auf diese Fragen finden. Mögliche Antworten auf diese Fragen sollen durch eine Analyse des sozialen Gefüges im vor- und nachrevolutionären Saint-Domingue/Haiti sowie durch einen näheren Blick auf die Verfassungen von 1801 und 1805 als auch auf die Unabhängigkeitsproklamation von 1804 erreicht werden. Ohne auf eine detaillierte Schilderung des Revolutionsverlaufs einzugehen, sollen für das Verständnis der außergewöhnlichen sozialen Umbrüche und ihren spannungsreichen Folgen für den neugegründeten Staat die groben Konfliktlinien, die diese historisch einzigartige Revolution bestimmten, nachgezeichnet werden.

2 Saint-Domingue: Sozialstruktur, Ökonomie und Konfliktlinien am Vorabend der Revolution

Die französische Kolonie Saint-Domingue, die sich über das westliche Drittel der Karibikinsel Hispaniola erstreckte, hatte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zum weltweit größten Zucker- und Kaffeeexporteur entwickelt und produzierte ungefähr die Hälfte des damals in Europa konsumierten Zuckers und Kaffees.[7] Ihrer wirtschaftlichen Bedeutung wegen war die Kolonie auch unter dem Beinamen „Perle der Antillen“ bekannt und den Begehrlichkeiten der anderen europäischen Kolonialmächte ausgesetzt. Der immense Reichtum und die extrem hohe Produktivität dieses flächenmäßig relativ kleinen Territoriums verdankten sich der Zwangsarbeit afrikanischer Sklaven auf den ungefähr 8.000 Zucker-, Kaffee- und Indigoplantagen der Kolonie. Aufgrund der hohen Sterblichkeitsraten der Sklaven und des stetig steigenden Bedarfs an Zucker in Europa stieg auch die Zahl der nach Saint-Domingue zwangsimportierten Sklaven ständig an, so wird von 685.000 Afrikanern gesprochen, die zwischen 1700 und 1791 nach Saint-Domingue verkauft wurden.[8]

Diese hohen Importzahlen führten zu einer Bevölkerungszusammensetzung mit einem ganz eigenen und explosiven Konfliktpotential, das sich, angestoßen durch die Französische Revolution, entladen sollte, um im Jahr 1804 zur Gründung des unabhängigen Staates Haiti zu führen.[9] Grob gesprochen teilte sich die am Vorabend der Französischen Revolution etwas weniger als 600.000 Menschen umfassende Bevölkerung in der Kolonie in drei unterschiedliche soziale Gruppen auf, deren politischen Ziele stark voneinander abwichen und die sich dennoch teilweise auch wieder überschnitten und Anlass zu vielfältigen und wechselvollen Allianzen während der Revolutionsjahre gaben.

Die bei weitem stärkste, aber in sich sehr heterogene Gruppe bildeten die 500.000 schwarzen Sklaven, die ca. 90 % der Gesamtbevölkerung ausmachten. Etwa zwei Drittel der Sklaven waren in Afrika in Freiheit geboren und ihre ethnische Herkunft, obschon meist aus dem westafrikanischen Raum, war sehr unterschiedlich. Diese Sklaven wurden hauptsächlich für die harte Feldarbeit auf den Plantagen eingesetzt. Das andere Drittel stellten die so genannten Kreolen, d. h. im Land geborene Sklaven, die häufig eine gehobene Stellung im Haus und Betrieb innehatten und weniger harte Arbeit verrichten mussten. Die verbleibenden 10 % der Bevölkerung machten die ungefähr 40.000 weißen Kolonisten und die ca. 30.000 gens de couleur, die ‚Freien Farbigen‘ aus.[10] Die weißen Kolonisten lassen sich grob in die grands blancs, die Plantagenbesitzer, einteilen, die etwa ein Zehntel der gesamten weißen Bevölkerung ausmachten, und in die petits blancs, die weiße Unterschicht, die durch Händler, Verwalter, Angestellte etc. repräsentiert wurde.[11] Die Gruppe der gens de couleur wies eine hohe soziale Bandbreite auf und setzte sich sowohl aus freigelassenen Sklaven als auch aus freien Mulatten zusammen, die meist aus der Verbindung von weißen Pflanzern und schwarzen Sklavinnen hervorgegangen waren und häufig eine gute und fundierte Schulaus­bildung in Frankreich genossen hatten. Die gens de couleur besaßen zwar keinerlei politische oder bürgerliche Rechte, hatten aber dennoch ein starkes wirtschaftliches Gewicht innerhalb der Kolonie, befanden sich doch am Vorabend der Revolution ein Drittel des Grundbesitzes, in der Mehrheit handelte es sich um Kaffeeplantagen, und ein Viertel der Sklaven der Kolonie im Besitz eben dieser freien gens de couleur.[12]

[...]


[1] Vgl. Fischer, Sibylle M.: Modernity Disavowed. Haiti and the Cultures of Slavery in the Age of Revolution, Jamaica/Barbados/Trinidad and Tobago 2004, S. 229.

[2] Vgl. Blänkner ,Reinhard: Tugend, Verfassung, Zivilreligion. Normative Integration im aufgeklärten Liberalismus, in: Buchstein, Hubertus/Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.): Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution, Baden-Baden 2006, S. 339-367, hier S. 346.

[3] Blänkner: Tugend (Anm. 2), S. 346.

[4] Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt (Main) 1993, S. 122-133.

[5] Vgl. Schmale, Wolfgang: Art. Constitution, Constitutionnel, in: Reichardt, Rolf/Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, Heft 12, München 1992, S. 1-63, hier S. 28.

[6] Vgl. Blänkner, Reinhard: Verfassungsgeschichte als aufgeklärte Kulturhistorie – K. H. L. Pölitz‘ Programm einer konstitutionellen Verfassungsgeschichte der Neuzeit, in: Brandt, Peter/Schlegelmilch, Arthur/Wendt, Reinhard (Hrsg.): Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S.298-330, hier S. 307.

[7] Vgl. Dubois, Laurent: Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge/London 2004, S. 21.

[8] Vgl. Dubois, Laurent/Garrigus, John D.: Slave Revolution in the Caribbean 1789-1804. A Brief History with Documents, Boston/NewYork 2006, S. 13.

[9] Vgl. Dubois/Garrigus: Slave Revolution (Anm. 8), S. 18.

[10] Zahlen in: Geggus, David Patrick: Haitian Revolutionary Studies, Bloomington Ind. 2002, S. 5.

[11] Vgl. Zeuske, Michael: Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation, Zürich 2004, S.161.

[12] Vgl. Gewecke, Frauke: Haiti in der Geschichte: Epilog auf eine glorreiche Revolution, in: Iberoamericana, 15. Jahrgang (1991), Nr. 1 (42), S. 7-20, hier S. 10.

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Details

Titel
Funktion und Bedeutung der ersten Verfassungen Haitis (1801-1805)
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Professur für vergleichende europäische Geschichte der Neuzeit)
Veranstaltung
Strukturwandel des Politischen (1750-1840)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
14
Katalognummer
V136086
ISBN (eBook)
9783640446438
ISBN (Buch)
9783640446698
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Funktion, Bedeutung, Verfassungen, Haitis
Arbeit zitieren
Nadja Schuppenhauer (Autor:in), 2008, Funktion und Bedeutung der ersten Verfassungen Haitis (1801-1805), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136086

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