Konflikt und Frieden - Interkulturelle Mediation und Mahatma Gandhi

Der Weg zu einem friedlichen Miteinander


Diplomarbeit, 2006

128 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1. Konfliktforschung
1.1 Konflikt
1.1.1 Konfliktaustragung
1.1.1.1 Konstruktive Konfliktaustragung
1.1.1.2 Destruktive Konfliktaustragung
1.1.2 Struktur des Konfliktes
1.1.2.1 Statische Struktur: Tiefen- und Oberflächenstruktur
1.1.2.2 Dynamische Struktur: Konfliktverlauf und Eskalationsdynamik
1.1.3 Konflikttypologie
1.1.4 Konfliktursachen
1.1.5 Typen von Konfliktlösungen
1.2 Konflikt und Kultur
1.2.1 Konflikte in interkulturellen Kontexten
1.2.2 Kategorien kultureller Unterschiede
1.2.3 Eskalationsdynamik interkultureller Konflikte
1.2.4 Interkulturelle Konfliktstile
1.3 Konfliktinterventionen

2. Friedensforschung
2.1 Frieden
2.1.1 Frieden als Zustand
2.1.2 Frieden als Verfahren
2.1.3 Frieden als Konfliktbestandteil
2.2 Mahatma Gandhi
2.2.1 Gandhis Theorie: Grundsätze und Taktiken
2.2.1.1 Satyagraha [Festhalten an der Wahrheit]
2.2.1.2 Ahimsā [Nicht-Gewalt, Gewaltlosigkeit]
2.2.1.3 Brahmacharya [Zölibat, Keuschheit]
2.2.1.4 Fasten
2.2.1.5 Non-cooperation [Nicht-Zusammenarbeit]
2.2.1.6 Swaraj [Selbstbeherrschung] und Swaradsch [Selbstregierung]
2.3 Indische Kultur und Religion
2.3.1 Gandhis Verhältnis zur Religion
2.3.2 Indische Religion: Der Hinduismus
2.3.2.1 Der Glaube
2.3.2.2 Das Kastenwesen
2.3.2.3 Die Lebensstufen
2.3.2.4 Der Jainismus
2.3.2.5 Indische Kultur: Riten, Heilige Schriften und Epen

3. Interkulturelle Mediation
3.1 Grundlagen
3.1.1 Zielstellungen interkultureller Verständigung
3.1.2 Kulturelle Bedingtheit von Interventionsbereitschaft
3.1.3 Gewaltlosigkeit
3.1.3.1 Gewaltlosigkeit vs. Gewaltfreiheit
3.1.3.2 Gewaltfreier Widerstand vs. Mediation
3.2 Übertragbarkeit Gandhischer Prinzipien
3.2.1 Satyagraha
3.2.2 Ahimsā
3.2.3 Brahmacharya, Fasten und die Fähigkeit zu Leiden
3.2.3.1 Fasten
3.2.3.2 Fähigkeit zu leiden
3.2.4 Swaraj und Swaradsch
3.2.5 Non-Cooperation
3.3 Aktualität Gandhis

Schlusswort

Verzeichnis indischer Begriffe

Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Eskalationsmodell nach Glasl (1997) und Kreyenberg (2005)

Abbildung 2: Eisberg-Modell von Konflikten (Besemer 1995: 28)

Abbildung 3: Eisberg-Modell von Kultur (Mayer/ Boness 2004: 20)

Abbildung 4: Kulturelle Unterschiede als Konfliktpotential nach Haumersen/ Liebe (2005a: 80)

Abbildung 5: Konflikt und Frieden als Systemeigenschaft

Abbildung 6: Abhängigkeit „innerer“ Frieden und „äußerer“ Frieden

Abbildung 7: Friedensprozess im persönlichen Wirkungsfeld

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Wasser gilt aufgrund des globalen Klimawandels als eine der begehrtesten Ressourcen: Weltweit droht Trinkwasserknappheit und ein Kampf um bewohnbaren Boden. Darin liegt langfristig die Gefahr von sozialen, wirtschaftlichen und interkulturellen Spannungen, Konflikten und Kriegen. Weigern sich die großen Industrienationen, ihren Beitrag zu einem umfassenden Umweltprogramm zu leisten, so werden die Entwicklungs- und Schwellenländer Leidtragende sein, da ihnen die politische und wirtschaftliche Stärke fehlt, um ebenbürtige (Streit)-Partner zu sein. Eine weitere Bedrohung des Gleichgewichtes der Welt stellt der gegenwärtige Nah-Ost-Konflikt dar. Er kann u. a. als ein Krieg der Kulturen, ein Krieg der Religionen verstanden werden. Denn aus historischem Blickwinkel ist das Zentrum der Auseinandersetzungen der Tempelberg Jerusalems – der wohl umstrittenste heilige Ort der Welt. Er ist die heiligste Stätte der Juden, die drittheiligste des Islam und auch für das Christentum von großer Bedeutung.[1] Doch neben seiner langen Historie hat der Nah-Ost-Konflikt aktuell eine große weltpolitische Relevanz. Es ist auch ein Vormachts- und Ressourcenkrieg zwischen westlichen Industrienationen und arabischen Ländern. Vertreter der christlichen und islamischen Welt stehen sich in einem erbitterten Kampf gegenüber.

Die Notwendigkeit, menschliche Lösungen für zunehmend unmenschlichere Zustände zu finden, wird immer bedeutsamer und der Prozess für ein friedliches Miteinander immer wichtiger. Welche Rolle können die interkulturelle Mediation und darin eingeschlossen Gandhis Erfahrungen und philosophische Darlegungen dabei spielen? Gandhi als Vertreter der indischen Kultur und Religion stellte im Rahmen seiner politischen und gesellschaftlichen Arbeit Prinzipien zum friedlichen zwischenmenschlichen Umgang auf. Von diesen könnten die Mediation im Allgemeinen und die interkulturelle Mediation im Speziellen als Verfahren des westlichen Kulturkreises[2] profitieren. In der vorliegenden Arbeit soll aufgezeigt werden, inwieweit die theoretischen ethischen Konzepte des Mahatma Gandhi anwendbar sind auf die interkulturelle Mediation. Es ist die zentrale Frage, vor deren Hintergrund Konflikt und Frieden diskutiert werden, um einen Ansatz für die interkulturelle Mediation ableiten zu können.

Dabei bildet der erste Teil Konfliktforschung das theoretische Skelett der Arbeit, denn ohne Wissen um Konflikte – ihre Erscheinungsformen, Ursachen und Dynamiken – ist es nicht möglich, die Inhalte des Konzeptes Frieden zu verstehen. So verhalten sich Konflikt und Frieden wie die zwei Seiten einer Medaille: Sie bedingen sich und sind voneinander abhängig. In einer Welt ohne Konflikte müsste der Begriff Frieden nicht definiert bzw. diskutiert werden und ohne Wissen um Konflikte ist kein Frieden möglich. Konflikte konstituieren die Voraussetzungen für den Frieden und kein Konflikt ist ohne das Wissen um Frieden zu bewältigen.

Der zweite Teil Friedensforschung betrachtet die andere Seite der Medaille, denn diese beschäftigt sich im Gegenzug mit der Gestaltung von Frieden: „Eine Friedenstheorie muss Teil einer allgemeinen Konflikttheorie sein. Ohne das Verständnis von Konflikt kein Verständnis dieses besonderen Aspekts von Konflikt, den wir Frieden nennen.“ (Boulding 1968: 70) Dabei sehe ich den Begriff Frieden nicht nur auf seine globale, politische Bedeutung hin beschränkt, sondern lege Schwerpunkt auf den zwischenmenschlichen Frieden. Gandhi, als Friedensstifter, hat mit seiner Philosophie verschiedene Ansätze für Konfliktinterventionen zum friedlichen Miteinander und damit auch für die interkulturelle Mediation geliefert. Denn er verstand sich nicht nur als Politiker und Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, sondern auch als Schlichter im Konflikt zwischen den in Indien lebenden Muslimen und Hindus. Doch um diskutieren zu können, welche Voraussetzungen die indische Kultur bzw. Religion zum Funktionieren seiner ethischen Grundannahmen mit sich bringt, werden beide in diesem Zusammenhang näher betrachtet.

Der dritte Teil ist der interkulturellen Mediation gewidmet, um den Kreis von Konfliktforschung und Friedensforschung zu schließen: Konflikte sind Grundlage einer jeden Mediation; interkulturelle Konflikte sind entsprechend Ausgangspunkt der interkulturellen Mediation. Das Ziel einer jeden Mediation ist es, Frieden zu stiften und einen Beitrag zum friedlichen zwischenmenschlichen Umgang zu liefern. Dazu hat Gandhi seinen ganz individuellen Beitrag geleistet. Folgende Fragen sollen dabei berücksichtigt werden: Inwieweit sind Gandhis Theorien in indischer Kultur und indischem Glauben verwurzelt? Sind sie kulturübergreifend anwendbar? Lassen sich seine Konfliktlösungsstrategien von der politischen auf die individuelle Ebene übertragen? Welche Konsequenz hätte dies für das Individuum in Konfliktsituationen bzw. für die (interkulturelle) Mediation? Darüber hinaus soll die Idee der Gewaltlosigkeit als Grundgedanke der (interkulturellen) Mediation diskutiert werden, um somit den Bogen zwischen Gandhi und der interkulturellen Mediation zu schließen.

1 Konfliktforschung

Grundlegende Konflikte müssen, wie offene Wunden, beobachtet und behandelt werden. (Johan Galtung)

Die Konfliktforschung widmet sich der Identifikation und Charakterisierung notwendiger und hinreichender Faktoren, die die Ursachen von Konflikten bilden. Darüber hinaus ist die konstruktive Bearbeitung und dauerhafte Lösung von Konflikten im Fokus. Schwerpunkt der Bearbeitung ist primär die Deeskalation des Konfliktes (z. B. Einstellung von Kampfhandlungen, Abbau offener Aggression) und das Schaffen einer Basis zur konstruktiven Kommunikation zwischen den Konfliktparteien, um (beispielsweise mittels Mediation) eine Konfliktlösung herbeizuführen. Innerhalb der Konfliktforschung existieren jedoch keine allgemeingültige Konflikttheorie bzw. kein ganzheitliches Konzept des Konfliktphänomens, sondern lediglich verschiedene Modelle.[3] So gibt es politisch-philosophische (Hobbes, Nietzsche), anthropologische (Darwin), psychologische (Freud, Lorenz), soziologische (Simmel) und sozialpsychologische Ansätze, die nebeneinander bestehen.

Das Anwendungsgebiet der Konfliktforschung und ihrer Ergebnisse ist demzufolge weitreichend: Sie kann in Verbindung mit den Ergebnissen der Friedensforschung zwischen Staaten oder Volksgruppen eingesetzt werden sowie auf der Ebene des Individuums.

1.1 Konflikt

Alle Konflikte resultieren daraus, dass sich verschiedene Systeme in Erstarrungen hinein entwickeln, die nebeneinander nicht zu existieren vermögen.

(Wilhelm Schwöbel)

Konflikte sind im menschlichen Zusammenleben nicht nur normal oder alltäglich, sondern auch unvermeidbar, denn Leben ohne Spannungsfelder ist nicht denkbar. (vgl. Kreyenberg 2005: 23) Doch der inflationäre Umgang mit dem Begriff Konflikt und seine emotionale Überfrachtung führen durch Ausweitung auf alle denkbaren Situationen zur Mythologisierung der Situation und zur Phantombildung. Somit fühlen sich die Betroffen schnell ohnmächtig und hilflos dem Konflikt ausgeliefert. Daraus können Resignation oder Zerstörung aus blinder Wut als Konfliktlösungsstrategien resultieren. (vgl. Glasl 1997: 12) Doch wenn Konflikte entmystifiziert und darauf reduziert werden, was sie sind, nämlich das Aufeinandertreffen von mindestens zwei Wirklichkeiten, aus denen eine dritte kreative Lösung hervorgehen kann, dann wird auch die Bereitschaft wachsen, die abweichende Meinung als Bereicherung wahrzunehmen. Die abweichende Meinung, die den eigenen Horizont erweitern könnte.

Zum grundlegenden Verständnis muss eine Differenzierung zwischen sozialen und intrasubjektiven Konflikten vorgenommen werden: Soziale bzw. intersubjektive Konflikte bestehen zwischen zwei oder mehreren Subjekten. Sie werden als dyadisch oder multipolar beschrieben und sind auch hinter der Begrifflichkeit interpersonell bzw. interpersonal verborgen. Intrasubjektive Konflikte hingegen sind Konflikte, die ein Subjekt in sich oder mit sich selbst hat. Handelt es sich bei dem Subjekt um eine Einzelperson, so sind es intrapsychische Konflikte, die als Entscheidungskonflikte konzipiert werden. Äquivalent werden hierzu auch die Begriffe innerpsychisch, intrapersonal und persönlich verwendet. Intrasubjektive Konflikte innerhalb größerer sozialer Einheiten (Organisation, Betrieb, soziale Gruppe), die in sozialen Konflikten als Parteien auftreten, werden als Binnenkonflikte bezeichnet.[4] (vgl. Montada/ Kals 2001: 60)

Doch damit ist noch nicht der Begriff Konflikt geklärt. Bendrath (o. J.) definiert einen sozialen Konflikt als „[…] eine soziale Beziehung, die aus einem kommunizierten Widerspruch besteht“. Diese Definition beinhaltet die wesentlichen Bestandteile des sozialen Konfliktes: die soziale Beziehung zwischen mehreren Akteuren sowie dessen Struktur und Inhalt, bezüglich welchem eine Unstimmigkeit existiert. So ist ein Konflikt eine soziale Beziehung, innerhalb der die Unstimmigkeit durch die Interaktion kommuniziert wird. (vgl. ebd.)

Die präziseste Definition eines Konfliktes nimmt Glasl (1997: 14f.) vor. Nach ihm ist ein sozialer Konflikt „[…] eine Interaktion

- zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.),
- wobei wenigstens ein Aktor
- Unvereinbarkeiten
- im Denken/ Vorstellen/ Wahrnehmen
- und/ oder Fühlen
- und/ oder Wollen
- mit dem anderen Aktor (anderen Aktoren) in der Art erlebt,
- dass im Realisieren eine Beeinträchtigung
- durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge.“

Dabei bezeichnet Interaktion ein aufeinander bezogenes Kommunizieren oder Handeln, welches nicht zwingend gewalttätig ist. Die Unvereinbarkeit als ein Nichtübereinstimmen von Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühlen, Handeln etc. muss lediglich einer der Akteure erleben und dementsprechend subjektiv handeln. Doch aus dieser Unvereinbarkeit allein ergibt sich kein Konflikt. Er entsteht erst, wenn eine der beiden Parteien diese Unvereinbarkeit als Beeinträchtigung erlebt: So muss mindestens eine Partei (Aktor) die Interaktion so erleben, dass sie der anderen Partei die Gründe für das Nichterreichen eigener Gedanken, Gefühle und Intentionen zuschreibt. Dabei ist es irrelevant, ob dies von der anderen Partei bewusst oder unbewusst, willentlich oder unbeabsichtigt intendiert ist. Es kann nur durch die Realisierung und das Erleben der Beeinträchtigung (Abwehr, Angriff, Behinderung, Blockade oder Widerstand) mindestens einer Streitpartei von einem sozialen Konflikt gesprochen werden. Denn sonst würde jedes Zusammenleben nur Konflikte hervorrufen, da Menschen immer verschieden wahrnehmen, denken, fühlen, handeln und wollen werden. Selbst wenn nur eine Streitpartei dies subjektiv so erlebt, hat das Einfluss auf ihre Kommunikation und ihr Verhalten bezüglich des Gegners. So wird der Versuch unternommen, die Beeinträchtigung - verursacht durch den anderen - unwirksam zu machen. (vgl. ebd.: 15)

Obwohl Konflikte bedrohlich, schmerzhaft und hinderlich sind und damit als destruktiv erlebt werden, besitzen sie auch ein konstruktives Potential. (vgl. Besemer 1995: 24). So sind sie Indikator für destruktive Abweichungen von einem Ideal, unbefriedigende Verhältnisse und unterschiedliche Interessen, deren Befriedigungen sich gegenseitig auszuschließen scheinen und weisen auf eine notwendige Veränderung hin. Sie machen sichtbar, dass die Beziehungen zwischen den Streitenden anders geregelt werden müssen als bisher. Damit eröffnen sie die Chance zur Veränderung und Entwicklung – zur Verbesserung –zwischenmenschlicher oder gesellschaftlicher Beziehungen. (vgl. Haumersen/ Liebe 2005b: 13) Neben dieser Signalfunktion kommen dem Konflikt noch zwei weitere, sozialisierende Funktionen zu: Zum einen wirkt er für die Konfliktparteien nach innen integrierend, da sich diese mittels Konflikt klar voneinander abgrenzen[5] und gemeinsam Position beziehen. Zum anderen wirkt der Konflikt nach außen sozialisierend, da er die Konfliktparteien miteinander in Beziehung setzt und zu einer gemeinsam zu lösenden Aufgabe wird. (vgl. Bendrath o. J.) Es ist jedoch die konstruktivistische Annahme zu berücksichtigen, dass die Konfliktparteien dabei nicht unabhängig voneinander existieren, sondern sich gegenseitig konstituieren und bedingen: „Der Herr ist nur Herr, weil er einen Knecht hat, und der Knecht wäre ohne Herr überhaupt kein Knecht.“ (Bühl 1976, zit. nach ebd.) So wäre die eine Konfliktpartei ohne ihren Widersacher keine (Konflikt)Partei. Möglicherweise können damit sogar das Infragestellen ihres Sinns und die Zugehörigkeit der einzelnen Mitglieder einhergehen. Dies verweist auf die vierte Funktion des Konfliktes: Er kann für die Beteiligten sinn- bzw. identitätsstiftend wirken. Doch besteht auch die Möglichkeit, dass die Parteien ihre Identität nicht nur aus der Zugehörigkeit zu einer Konfliktpartei ziehen, sondern auch durch Positionen (vgl. Kap. 1.1.1.1), die sie vertreten und mit denen sie sich identifizieren. Diese Positionen werden meist speziell durch den Konflikt an die Oberfläche des Bewusstseins befördert. Über diese Positionen formen die Gegner ihre eigene Identität und schöpfen daraus den Sinn zum Kämpfen.

1.1.1 Konfliktaustragung

Von der Art einen Konflikt auszutragen hängt nicht nur das Ergebnis ab, sondern auch die möglicherweise notwendige Intervention. Eine informelle Diskussion und Problemlösung, Verhandlung oder Mediation rufen eine private Entscheidung durch die Streitparteien hervor, bei der mit großer Wahrscheinlichkeit ein Gewinner-Gewinner-Ergebnis (vgl. Kap. 1.1.5) erzielt wird. Durch den Entschluss der Konfliktbearbeitung durch ein Schiedsverfahren wird die Entscheidung durch die unparteiliche dritte Instanz getragen. Sie beschließt die Art der Konfliktlösung. Bei Gewaltanwendung hingegen wird eine außergesetzliche Entscheidung erzwungen, die ein Gewinner-Verlierer-Ergebnis (vgl. Kap. 1.1.5) zur Folge hat. (vgl. Besemer 1995: 44)

Grundsätzlich werden jedoch zwei Arten der Konfliktaustragung unterschieden:

1.1.1.1 Konstruktive Konfliktaustragung

Konstruktive Konfliktbearbeitung heißt, eine Lösung für das konfliktträchtige Problem zu finden ohne Angriff des Gegenübers. So übernehmen alle Beteiligten gemeinsame Verantwortung für das Problem und suchen miteinander und füreinander eine Lösung. Dabei gilt es zwischen Positionen und Interessen der Konfliktparteien zu unterscheiden. Haumersen & Liebe (2005b: 14) verstehen Interessen als Bedürfnisse, die die Konfliktparteien befriedigen müssen oder wollen. Positionen hingegen sind Gebilde aus Argumenten und Forderungen, die diese Interessen der Konfliktparteien überlagern und hauptsächlich zur Abgrenzung vom Konfliktgegner und der Abwehr seiner Argumente dienen. Oftmals sind die Positionen – als festgefahrene Vorstellungen über die Art und Weise der Lösung des Problems – der Parteien unvereinbar, doch können die zugrunde liegenden Interessen auf verschiedene Weise befriedigt werden. Deren Offenlegung wird somit für die Problemlösung unerlässlich. (vgl. Besemer 1995: 25) Folgendes Beispiel zur Verdeutlichung:

Zwei Schwestern streiten sich über eine Orange, die sie beide haben wollen. Schließlich kommen sie überein, die Frucht zu halbieren. Die eine nimmt nun ihre Hälfte, isst das Fruchtfleisch und wirft die Schale weg. Die andere wirft stattdessen das Innere weg und benutzt die Schale, weil sie damit einen Kuchen backen will. (Besemer 1995: 25)

In diesem Beispiel wird anschaulich, dass selbst unterschiedliche Interessen zu einer optimalen einvernehmlichen Lösung vereinbart werden können, würde man die Positionen („Ich will die Orange.“) auf die dahinter liegenden Interessen („Ich will das Fruchtfleisch essen“ und „Ich brauche die Schale zum Backen“) hin untersuchen und erst anschließend entscheiden. (vgl. ebd.: 26)

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Konfliktpartner einer konstruktiven Konfliktbearbeitung in der Lage sind, den Konflikt zu definieren, seinen Fokus herauszuarbeiten, zu visualisieren und zu formulieren. Damit kann die genaue Konfliktursache identifiziert werden, ohne sie mit sekundären Konfliktherden zu vermischen. Vertrauen und Interesse an einer kooperativen Konfliktlösung sind die wesentlichen Wirkfaktoren. (vgl. Mayer/ Boness 2004: 31) Folglich führt die konstruktive Problemlösung auf beiden Seiten zu Zufriedenheit und verbessert darüber hinaus möglicherweise auch die Beziehung der Konfliktparteien zueinander. Dies entspricht einer Gewinner-Gewinner-Lösung (vgl. Kap. 1.1.5).

1.1.1.2 Destruktive Konfliktaustragung

Innerhalb eines destruktiven Konfliktes kommt es zur Ausdehnung der konfliktträchtigen Themen, negativen Haltungen, Selbstrechtfertigungen und Vorwürfe. Anstatt das gemeinsame Problem zu bearbeiten, wird die andere Konfliktpartei als das Problem angesehen. Somit wird sich von der eigentlichen Konfliktursache stark entfernt bzw. wird diese stark verfremdet. Es geht nicht mehr um den ursächlichen Konflikt, sondern um andere Themen. Die Streitinhalte verschieben sich, sodass die Probleme zunehmend unspezifischer und allgemeiner werden. Damit wird auch die Kommunikation der Beteiligten immer indirekter und ungenauer, was dazu führt, dass die Streitenden weniger Kontakt untereinander haben, dafür verstärkt mit Gleichgesinnten. Durch die einseitige Polarisierung von Meinungen kommt es zu einer Steigerung der Wut und einer Einengung der Wahrnehmung. Oftmals eskaliert der Konflikt, sodass Macht- und Drohstrategien, Zwänge und Betrug die konstruktive Konfliktbearbeitung blockieren. Denn mit zunehmender Intensität und emotionaler Verwicklung nimmt die Fähigkeit zuzuhören und zu kommunizieren ab. (vgl. Besemer 1995: 24f.; Mayer/ Boness 2004: 31)

1.1.2 Struktur des Konfliktes

1.1.2.1 Statische Struktur: Tiefen- und Oberflächenstruktur

Konflikte verfügen über Streitgegenstände und -themen und gleichzeitig besitzen sie (meist) eine Tiefenstruktur, die nicht dem augenscheinlichen Thema entspricht. Diese Tiefenstruktur ist oftmals auch nicht durch die Streitthemen erkennbar: Parteien vertreten verschiedene Positionen, beispielsweise divergierende Vorstellungen über Erziehungsstile, Verpflichtungen gegenüber Mitmenschen oder über die Verteilung von Ressourcen. Sind diese formuliert, so sind damit die Streitgegenstände bekannt, doch die Tiefenstruktur verbirgt sich in den durch den Konflikt betroffenen Anliegen bzw. subjektiven Problemen. So können Ansprüche auf Anerkennung, Zuneigung, Respekt und Status, aber auch Vergeltung und Rache die Tiefenstruktur beherrschen. Doch ist diese unbekannt, führt sie ein Eigenleben hinter den oberflächlichen Streitthemen und die Beteiligten fühlen sich dem Konflikt ohnmächtig ergeben, da er zu keiner Lösung geführt werden kann. Um angemessene Lösungsoptionen entwickeln zu können, muss die Tiefenstruktur des Konfliktes erkannt werden. Ohne die Bearbeitung des Konfliktes auf dieser Ebene würde „die Beilegung des phänotypischen Oberflächenkonfliktes keine nachhaltige Verminderung der Konflikthäufigkeit zur Folge haben.“ (Montada/ Kals 2001: 75) Die Tiefenstrukturen manifestieren sich in solchem Falle in anderer Form.[6] (vgl. ebd.: 73ff.) Somit ist die Tiefenstruktur maßgeblich für die Dynamik des Konfliktes.

1.1.2.2 Dynamische Struktur: Konfliktverlauf und Eskalationsdynamik

Johan Galtung (o. J.) setzt einen Konflikt in Analogie zu dem Lebenszyklus eines Organismus. So erscheinen Konflikte, erreichen einen emotionalen und möglicherweise auch gewalttätigen Höhepunkt, schwächen ab, verschwinden und kommen oftmals wieder. Ursache sind die sich widersprechenden Ziele der Individuen. Diese verschiedenen Ziele können inkompatibel sein und sich gegenseitig ausschließen. Ist dies der Fall, so entsteht ein Widerspruch und daraus möglicherweise ein Problem. Es gilt: Je grundlegender das Ziel, wie fundamentale Bedürfnisse und Interessen, desto frustrierter ist jede Konfliktpartei, die ihre Ziele nicht erreicht. Diese Frustration kann in Aggression umschlagen, die sich wiederum als Hass nach innen oder als Verhalten nach außen in verbaler oder physischer Gewalt äußern kann. Hass und Gewalt richten sich dann möglicherweise gegen diejenigen, deren Ziele erfüllt wurden bzw. deren Ziele den eigenen im Weg sind. Doch Gewalt ruft oftmals Gegengewalt, in Form von Verteidigung oder Rache, hervor. Diese Gewaltspirale entwickelt sich schnell zu einem Metakonflikt, der über die Ziele der Bewahrung und Zerstörung hinausgeht. Daher kann ein Konflikt unendlich lang leben, zu- oder abnehmen, entstehen und verschwinden. Besonders wenn der Originalkonflikt in den Hintergrund rückt. (vgl. ebd.)

Dieser Konfliktverlauf lässt sich nach Kreyenberg (2005: 64f.) in vier grundlegende Phasen einteilen.

1 Anbahnung: Die Konflikte sind i. d. R. noch verborgen bzw. schwelen latent im Hintergrund. Es existiert bereits eine noch unbewusste oder nur durch einen Streitpartner wahrgenommene zwischenmenschliche oder strukturelle Missstimmung. Dieses Unwohlsein ist Kennzeichen der Phase, ohne dass bereits das Bewusstsein, es handele sich um einen Konflikte, vorhanden ist.
2 Rationalisierung: Der Konflikt befindet sich an der Grenze von einem verdeckten zu einem offenen Konflikt. Hier dringen die Unstimmigkeiten in das Bewusstsein mehrer Beteiligten, doch wird versucht, das Thema auf der Sachebene inhaltlich zu lösen. In der allgemeinen Konfliktlinie überwiegt der Austausch von Argumenten, doch hinterrücks kann es zu Schuldzuweisungen und spitzen Bemerkungen bezüglich des Gegenübers kommen. Es wird versucht gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Möglicherweise kann diese Phase auch übersprungen werden, und es kommt sofort zu einer emotionalen Auseinandersetzung. Oder nach einem emotionalen Ausbruch setzt die Phase der Rationalisierung an, in der versucht wird zu beschwichtigen oder die Gefühle wieder zu unterdrücken.

3 Emotionalisierung: Hier entladen sich Frustration und angestauter Ärger, da durch das Nicht-Klären-Können des Konflikts die Spannung ansteigt, bis sie explodiert, wenn kein anderes Ventil gefunden wird. Es kann nicht mehr ruhig über die Sache gesprochen werden, stattdessen wird von einer emotionalisierten Sprache Gebrauch gemacht.
4 Offener Kampf oder Rückzug/ Verhärtung: Das Ende der Emotiona-lisierungsphase ist der Ausbruch bzw. die offene Konfrontation. Falls diese Freisetzung der Energie nicht möglich ist, kann es zu einer Implosion oder Chronifizierung des Konfliktes kommen. Bei der Implosion zieht sich einer der Konfliktpartner emotional völlig zurück. Dies kann sich in der Beschränkung des Kontaktes auf das Notwendigste bis hin zu dessen Verweigerung äußern. Dieser Konflikt kann nur durch positive Schritte der anderen Streitpartei oder ein „erwärmendes“ Ereignis gelöst werden. Von einer Chronifizierung oder Verhärtung wird dann gesprochen, wenn der Konflikt sich weiterentwickelt wie bisher. Der Konflikt wird nicht gelöst, sondern ihm wird mit Zynismus, Sarkasmus und Durchhaltevermögen begegnet.

Für den Konfliktverlauf gilt im Allgemeinen, je weiter der Konflikt fortschreitet, desto stärker ist die Wahrnehmung reduziert und umso weniger kann die Wirklichkeit des Konfliktpartners wahrgenommen werden. Wie sich die Wahrnehmungsverzerrung und die Konstruktion der Wirklichkeiten im Falle einer Konfliktsituation verschärfen, sei im Folgenden anhand der Abbildung 1 und der Beschreibung des Konfliktverlaufs nach Kreyenberg[7] (2005: 90-95) dargestellt. Bei einer destruktiven Konfliktaustragung, der Konflikteskalation, sind immer wieder charakteristische Verhaltensweisen festzustellen, die in einer vorhersehbaren Reihenfolge auftreten. Anhand der Abbildung 1 und der nachfolgenden Beschreibung wird anschaulich, wie sich das individuelle Verhalten in der Chronologie des Konfliktes ändert. Mit dem Bewusstsein für die Merkmale der einzelnen Konfliktstufen kann gezielt gestalterisch darauf eingewirkt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Eskalationsmodell nach Glasl (1997) und Kreyenberg (2005)

1. Phase: Missstimmung.

Hauptstrategie der geordneten verbalen Auseinandersetzung.

Schwelle zu Phase 2: vom offenem Gespräch, Fairness und Regeleinhaltung zu Taktik und Polarisation.

Es tauchen Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten auf. Durch das Entstehen einer gereizten Stimmung und Angespanntheit geht die vorherige Unbefangenheit in der Kommunikation verloren. Es kommt zu ersten Missverständnissen und Verzerrungen der Kommunikation und die Polarisierung der Streitenden zu Gruppen ist eher spontan und wird als zufällig erlebt.

2. Phase: Debatte.

Hauptstrategie der kleinen Überlegenheit.

Schwelle zu Phase 3: Angst vor Intensivierung und davor, den gemeinsamen Boden zu verlieren.

Das Austragen von Argumenten ist verstärkt. Es geht immer noch „nur“ um die Sache, doch wird versucht dem Gegenüber nachzuweisen, dass man die besseren Argumente hat. Die eigene Sache wird verstärkt nach außen hin vertreten und eigene Absichten werden verborgen. Zwischen Verhalten und Absicht ist immer weniger Übereinstimmung vorhanden. Die Parteibildung wird deutlich und es kommt zur Oberhandsicherung, wodurch die Spannung zwischen den Streitparteien größer wird.

3. Phase: Misstrauen.

Hauptstrategie der Entschlossenheit.

Schwelle zu 4: von der Begrenzung auf die Ursprungsgruppe in die Ausweitung der sozialen Arena.

Das Gespräch wird zunehmend als sinn- und nutzlos erlebt. Die Kommunikation wird durch Taten i. S. von nonverbalen und symbolischen Verhalten bestimmt. Das gegenseitige Verständnis und die Dialogfähigkeit nehmen ab, da das Gegenüber vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Der Gruppenzusammenhalt steigt weiter bis hin zur Konformität. Gesteigertes Wir-Gefühl und Unterbindung des eigenständigen Denkens sind Ausdruck davon.

4. Phase: Koalitionen.

Hautstrategie der Imagewerbung.

Schwelle zu Phase 5: Sorge um das eigene Image, Zurückschrecken vor einem Gesichtsverlust.

Starke Kommunikationsbarrieren sind entstanden: Es geht immer stärker um Gewinn und Verlust, Machtspiele verschärfen sich, klare Feindbilder werden entwickelt und eigene destruktive Verhaltensweisen gerechtfertigt durch Verstärkung des negativen Fremdbildes. So kommt es zur vollständigen Verlagerung des Konfliktes von der Sachebene auf die Beziehungsebene. Kurzschlusshandlungen oder psychologische Spiele sind charakteristisch. Es wird versucht strategische Allianzen mit neutralen Außenstehenden zu bilden, die einen gemeinsamen Feind haben.

5. Phase: Entgleisung.

Hauptstrategie der Demaskierung.

Schwelle zu Phase 6: von Gesichtsverlust zu Gewaltandrohungen.

Hier wird das „wahre“ Wesen des Gegenübers in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Er wird somit demaskiert und seine Ehre mutwillig verletzt, hingegen der eigene Ruf damit rehabilitiert. Damit geht ein Starrer-Werden der Prinzipien und Ideologien einher. Zwischen den Parteien existiert inzwischen ein starker Vertrauensbruch, welcher von Ablehnung bis hin zu körperlicher Abscheu gegenüber dem Streitpartner führen kann. Das ursprüngliche Ziel ist irrelevant, es geht vordergründig um Gleichheit in der Schadenszufügung.

6. Phase: Drohung.

Hauptstrategie der Abschreckungsmanöver.

Schwelle zu Phase 7: Gebrauch von Gewalt.

Das Stressniveau steigt in dieser Phase sprunghaft. Der Konflikt wird als echte Krise erlebt. Die Komplexität des Konfliktes nimmt zu und der gegenseitige Druck[8] bzw. Zeitdruck wird erhöht. Der Rückfall in archaische Konfliktlösungsmuster (z.B. Konkurrieren und Vernichten) ist typisch. So herrscht die Strategie der Abschreckung vor, indem Ultimaten mit extremen Forderungen und schweren Folgen gesetzt werden. Die Androhung von Gewalt soll Gewalt verhindern. Es kommt zu ersten Zerfallserscheinungen innerhalb der Parteien, sodass Abtrünnige bestraft oder ausgestoßen werden.

7. Phase: Gewalt.

Hauptstrategie des Unschädlich-Machens und Schädigen.

Schwelle zu Phase 8: von gezielter begrenzter zu totaler Vernichtung.

Jede Konfliktpartei hat nur noch das eigene Überleben im Sinn, denn das Vertrauen und die Motivation zur friedlichen konstruktiven Konfliktlösung sind vollends zerstört. Diese Abschottung führt dazu, dass die Kommunikation nur noch einseitig ist, d. h. es kommt zu Statements und Bekundungen nur einer Streitpartei. Der Gegner wird verdinglicht und als seelenlose Einheit oder Objekt wahrgenommen. Die Zerstörung oder Zersplittung des Gegners soll dazu führen, ihn unschädlich zu machen. Doch ist lediglich die Lust am Zerstören die treibende Kraft, noch nicht der Wunsch der völligen Vernichtung. So steigern sich die beteiligten Konfliktparteien in eine Gewaltspirale hinein und Verluste des anderen werden als eigener Gewinn gedeutet.

8. Phase: Vernichtung.

Hauptstrategie des Um-Sich-Schlagens.

Die Parteien treiben unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Da sie dies spüren, schlagen sie nur noch blindlings um sich. Es werden keine Mittel gescheut und der eigene Untergang wird in Kauf genommen, wenn somit der Gegner erledigt werden kann.

Innerhalb der Eskalationsentwicklung des Konfliktes verlaufen die Übergänge zwischen den Stufen für die Beteiligten meist fließend, wobei die dargestellten Phasen als Tendenzen zu verstehen sind. Im Eskalationsprozess sind zwei markante Stellen hervorzuheben: Zuerst der Übergang von Stufe vier zu fünf. Ab hier ist der Konflikt so komplex und die Fähigkeit zur unverzerrten Wahrnehmung so reduziert, sodass bewusste Kontrolle und Steuerung der Situation durch die Beteiligten nicht mehr möglich ist. Es wird an dieser Stelle das Einschalten einer dritten Partei zur Konfliktlösung notwendig. Die zweite markante Stelle befindet sich bei Stufe sechs. Ab hier ist eine Umkehr selten, sodass die verselbstständigte Konfliktdynamik nur noch durch Machteingriffe von außen begrenzt werden kann. (vgl. Kreyenberg 2005: 89) Darüber hinaus integriert Kreyenbergs Modell der Eskalationsstufen die oben erwähnten vier grundlegenden Phasen des Konfliktverlaufs. In Abweichung von Kreyenbergs Darstellung sind in dem vorliegenden Modell den verschiedenen Phasen die entsprechenden Konfliktlösungen i. S. Glasls (1997: 216) zugeordnet: Die Stufen 1-3 führen zu „win-win“ Ergebnissen, die Stufen 4-6 zu „win-lose“ Ergebnissen und ab der Stufe 7 sind lediglich noch „lose-lose“ Ergebnisse möglich, in denen beide Streitparteien nur verlieren können (vgl. Kap. 1.1.5).

Diese Darstellung soll ermöglichen, einzelne Faktoren und Mechanismen anschaulich zu machen, sodass möglicherweise in konkreten Situationen Konfliktpotentiale früher wahrgenommen werden können. Folglich werden die Ursachen sichtbar und es können rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, die der Konfliktdynamik entgegensteuern, bevor der Konflikt auf eine Stufe eskaliert, auf der gegenseitige Angriffe stattfinden und das beiderseitige Vertrauen empfindlich belastet wird. Je weiter der Konflikt fortgeschritten ist, umso schwieriger wird es für den einzelnen, dem negativen Sog der destruktiven Konfliktdynamik zu entkommen. Letztlich ist vom Eskalationsgrad auch die Art der Konfliktintervention abhängig. So ist bei den Stufen 1-3 lediglich die Moderation von Nöten, da davon ausgegangen werden kann, dass die Parteien nach einigen Interventionen die Konflikte selbst lösen können. Moderation ist der sofortige Eingriff der Drittpartei zur Korrektur auftretender Probleme innerhalb der Interaktion. In den Stufen 3-5 empfiehlt sich die Prozessbegleitung, die an verfestigten Wahrnehmungen, Einstellungen, Intentionen und Verhaltensweisen der Konfliktparteien arbeitet, um diese zu lockern. Die Vermittlung – Mediation – ist für die sechste und siebte Phase angebracht, da die Parteien nicht mehr in der Lage sind, sich direkt zu begegnen und das Problem kooperativ zu lösen. So hat die Vermittlung einen akzeptablen Kompromiss, der alle Interessen berücksichtigt und die Koexistenz beider Parteien ermöglicht, zum Ziel. Wenn Vermittlungen gescheitert sind, bietet jedoch lediglich ein Schiedsverfahren (richterlicher Entscheid) bzw. ein Machteingriff die Beendigung des Konfliktes. (vgl. Glasl 1997: 361-366)

1.1.3 Konflikttypologie

Der Vollständigkeit halber soll eine Übersicht über Konfliktklassifikationen geboten werden, die in der Literatur sehr vielfältig dargestellt werden. Es soll versucht werden, möglichst differenziert diese Einteilungen wiederzugeben.

Altmann, Fiebiger und Müller (1999) unterscheiden nach dem wesentlichen Gegenstand der Auseinandersetzung:

1 Ziel-Konflikt: Zentral sind die unterschiedlichen Ziele und Wertvorstellungen der Konfliktparteien.
2 Mittel-(Wege-)Konflikt: unterschiedliche Mittel/Wege zur Erreichung des Ziels.
3 Verteilungskonflikt: Streit um Güter und Ressourcen, was Neid und Benachteiligung hervorruft.
4 Rollenkonflikt: Es werden an eine Person von verschiedenen Seiten unterschiedliche (Rollen-)Erwartungen gestellt.

Besemer (1995) hingegen unterscheidet Konflikte nach dem Inhalt bzw. der Konfliktursache:

1 Sachverhaltskonflikte: Sachverhalte werden aufgrund unterschiedlicher, mangelnder oder falscher Informationen unterschiedlich eingeschätzt oder bewertet.
2 Interessenkonflikte: Konflikte aufgrund konkurrierender Interessen der Streitparteien.
3 Beziehungskonflikte: Starke Gefühle, Fehlwahrnehmungen, stereotype Einstellungen, mangelhafte Kommunikation und Missverständnisse lösen Konflikte aus.
4 Wertekonflikte: Konflikte zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen, Ideologien, Religionen, Lebensformen etc.
5 Strukturkonflikte: Unterschiedliche Verteilung persönlicher bzw. sozialer Ressourcen, ungleiche Macht und Autorität oder geographische, physische oder umfeldbezogene Faktoren, die eine Zusammenarbeit verhindern und durch Zeitzwänge ausgelöst werden.

Bendrath (o. J.) hingegen nimmt eine Dreiteilung der Konflikte bezüglich ihres Konfliktgegenstandes vor:

1 Herrschaftskonflikte: originär politische Konflikte, in denen um Über- und Unterordnung, also die soziale Rangfolge gestritten wird.
2 Interessenkonflikte: wirtschaftliche Konflikte, die auf der Verteilung knapper Güter basieren.
3 Wertekonflikte: kulturelle Konflikte, welche auf der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung einer Sache basieren.

Glasl (1997) nimmt eine Unterscheidung nach dem sozialen Konfliktrahmen bzw. der Arena vor , das heißt, auf welche Tragfläche sich Konflikte ausweiten:

1 Mikrokonflikte: Konflikte zwischen zwei oder mehreren Einzelpersonen oder innerhalb kleinerer Gruppen.
2 Mesokonflikte: Konflikte zwischen Gruppen, soziale Gebilde mittlerer Größenordnung.
3 Makrokonflikte: Konflikte zwischen Organisationen oder Gesellschaften.

Für die Bestimmung der Grenzen des Konflikt-Rahmens ist es von Relevanz, ob die Konflikthandlungen innerhalb eines kleinen Rahmens zum Tragen kommen oder ob sie die Funktionsfähigkeit eines größeren sozialen Feldes beeinträchtigen. Welchem sozialen Gebilde die Konfliktparteien angehören, ist dabei irrelevant. Für den Konfliktrahmen, in dem der Konflikt ausgetragen wird, gilt: je großräumiger er ist, desto komplexer wird die soziale Situation. (vgl. Glasl 1997: 61)

Bendrath (o. J.) nimmt eine weitere Klassifizierung bezüglich der Akteure vor:

1 interpersonaler Konflikt: Konflikt zwischen Einzelpersonen.
2 innergesellschaftlicher Konflikt: Konflikt zwischen gesellschaftlichen Gruppen.
3 internationaler Konflikt: Konflikt zwischen Staaten.

Diese Klassifizierung muss allerdings noch um die intrapersonale Ebene ergänzt werden. Dies sind, wie oben bereits erwähnt, persönliche Konflikte eines Individuums, die auch als intrapsychisch bezeichnet werden.

Darüber hinaus differenziert er einen Konflikt nach der Anzahl der Akteure:

1 bipolarer/ dyadischer Konflikt: Konflikt zwischen zwei Beteiligten.
2 multipolarer Konflikt: Konflikt, an dem mehrere Parteien beteiligt sind, entweder als direkte Konfliktteilnehmer oder als „Publikum“.

Es lässt sich auch eine Unterscheidung nach der Struktur des Konfliktes vornehmen (vgl. Bendrath o. J.). Durch die Betrachtung der Verteilung der Macht kann man zwischen folgenden Konflikten differenzieren:

1 symmetrischer Konflikt: Machtgleichgewicht in der Position der Parteien.
2 asymmetrischer Konflikt: Ungleichheit zwischen Konfliktparteien.

Weitere Kriterien bzw. Konflikttypen sind:

- manifester vs. latenter Konflikt: Von latenten Konflikten ist die Rede, wenn zwar Differenzen in den objektiven Positionen der Konfliktparteien und ihren Zielen vorhanden sind, diese jedoch nicht im feindseligen Verhalten münden. Der Konflikt ist vorhanden, aber noch nicht in Erscheinung getreten. Manifeste Konflikte hingegen äußern sich in Konfliktverhalten, das auf die Gegenpartei nachteilige Auswirkungen hat. (vgl. Pondy, zit. nach Glasl 1997: 49)
- intrakultureller vs. interkultureller Konflikt: Intrakulturelle Konflikte existieren bezüglich endogener Machtgefälle und der Diskrepanz zwischen Rollenzuschreibungen und Identifikationen und dazugehörigen Verhaltensweisen innerhalb einer Kultur. Dagegen sind interkulturelle Konflikte auf die geopolitische Ebene ausgeweitet. (vgl. Steiner 2005)
- heißer vs. kalter Konflikt: Heiße Konflikte sind durch die offene aktive Auseinandersetzung mit hoher Emotionalität gekennzeichnet, kalte Konflikte durch ihre Unterschwelligkeit und das fehlende Bewusstsein für den Konflikt. (vgl. Glasl 1997: 70ff.)
- objektiver vs. subjektiver Konflikt: Objektive bzw. unpersönliche Konflikte werden über Repräsentanten, Delegierte oder Mandatare ausgetragen. Bei subjektiven bzw. persönlichen Konflikten streiten die Konfliktparteien direkt miteinander. (vgl. ebd.: 52)
- primärer vs. sekundärer Konflikt: In primären Konflikten sind die Streitparteien direkt miteinander face-to-face konfrontiert. In sekundären bzw. indirekten Konflikten wird der Konflikt über Dritte ausgetragen. (vgl. ebd.: 52)
- exogener vs. endogener Konflikt: bei exogenen Konflikten existiert kein Supersystem, welches den Konflikt kontrolliert. Bei endogenen Konflikten hingegen sind die Konfliktparteien Teil des kontrollierenden Systems. (vgl. ebd.: 52)

Diese Typologie von Konflikten ist jedoch lediglich nur eine idealtypische Unterscheidung, denn Konflikte kommen im Alltag stets als Mischformen vor. Durch die Klassifikation des Konfliktes können wichtige Informationen bezüglich dessen Bearbeitung gewonnen werden. So lassen sich beispielsweise Struktur, (Rahmen)Bedingungen und Dynamiken des Konfliktes ableiten, die bei der Intervention bzw. Bearbeitung berücksichtigt werden müssen.

1.1.4 Konfliktursachen

Bei der Bearbeitung eines Konfliktes und der Suche nach den zugrunde liegenden Interessen bzw. Bedürfnissen und Problemen kann eventuell diagnostiziert werden, dass der offenkundige Konflikt zwar der Auslöser, aber nicht die Ursache des Zwiespaltes ist. Zur befriedigenden, langfristigen konstruktiven Lösung des Konfliktes ist es demzufolge notwendig, dessen Hintergründe mit zu berücksichtigen und zu bearbeiten. Konfliktursachen treten nicht bzw. sehr selten separat auf, sondern bilden meist ein Konglomerat (Abb. 2), in dem sie sich gegenseitig beeinflussen und von einander abhängig sind. Das heißt, dass Missverständnisse beispielsweise auch negative Gefühle, Beziehungsprobleme oder Sachkonflikte bedingen können. Aufgrund dessen spricht Besemer (1995: 30) von der Beliebigkeit des Ausgangskonfliktes, da es auch an anderer Stelle zum Ausbrechen des Konfliktes kommen kann. Doch ist der Ausgangskonflikt insofern nicht beliebig, als dass er das aktuelle vordringliche Problem darstellt, welches ernst zu nehmen gilt und gelöst werden muss. Aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit der Konfliktfaktoren wirkt jedoch auch eine positive Einflussnahme auf einen Faktor ebenso auf die anderen beteiligter Faktoren. Wenn also Bedürfnisse befriedigt werden, verändern sich damit auch die Gefühle und das Beziehungsproblem kann sich in Luft auflösen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Eisberg-Modell von Konflikten (Besemer 1995: 28)

Das Eisbergmodell (Abb. 2) veranschaulicht die latente – verdeckte - und manifeste – offene - Ebene eines Konfliktes: An der Oberfläche ist die Spitze des Eisbergs bzw. des Konfliktes als Sachkonflikt wahrnehmbar, doch die Hintergründe bzw. Hintergrundkonflikte ruhen im Verborgenen und sind wesentlich für die Dynamik des Konfliktes. So gilt es, die zugrunde liegenden Interessen bzw. Probleme des sichtbaren Konfliktes, die tatsächlichen Ursachen des Konfliktes zu erkennen, um ihn langfristig konstruktiv bearbeiten zu können. Doch weist Besemer (ebd.: 29) darauf hin, dass die Konfliktursachen nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch überschneiden können, sodass bestimmte Doppelungen eintreten können. Es verhält sich beispielsweise so mit den Werten und Sichtweisen, welche äquivalent sein können. Darüber hinaus ist der sichtbare Konflikt nicht notwendigerweise ein Sachkonflikt und ein emotionales Problem nicht zwangsläufig ein Hintergrundkonflikt. Prinzipiell kann jedes Problem als aktueller, sichtbarer Konflikt in den Vordergrund treten, wobei die anderen Bereiche automatisch in den Hintergrund als potentielle Hintergrundkonflikte rücken.

1.1.5 Typen von Konfliktlösungen

Zur beispielhaften Erläuterung der möglichen Konfliktlösungen stelle man sich folgende, oben genannte Situation vor: Zwei Schwestern streiten sich über eine Orange, die beide haben wollen. Im Folgenden werden fünf Ergebniskategorien nach Montada & Kals (2001) unterschieden.

1 Gewinner-Verlierer-Lösung [win-lose]: Eine Partei erzielt der anderen gegenüber ein vorteilhafteres Ergebnis. So gewinnt die eine Partei, was die andere verliert. (vgl. ebd.: 199) Es bekommt nur eine der Schwestern die Orange, da eine möglicherweise verzichtet.
2 Einfache Kompromisse: Das Ergebnis liegt ungefähr in der Mitte der anfänglichen Verhandlungsziele bzw. Ausgangsforderungen der Parteien. (vgl. ebd.: 199f.) Die Orange wird in irgendeiner Form geteilt: gepresst, halbiert oder geschält und ihre Stücke zerlegt und gerecht unter beiden Schwestern aufgeteilt.
3 Gewinner-Gewinner-Lösung [win-win]: Alle beteiligten Parteien gewinnen subjektiv mehr, als sie verlieren. Es überwiegen die Vorteile gegenüber den Nachteilen für die Parteien. Vorraussetzung ist meist das Ausweiten des Verhandlungsraumes bzw. Betrachtungsraumes und das Einbeziehen weiterer Anliegen, um Kompensationen zu ermöglichen. (vgl. ebd.: 269) Die Methode der Transzendenz[9] versucht eine Lösung zu finden, indem der Konflikt aus seiner Umgebung herausgenommen und anschließend an einer anderen Stelle verankert wird. So definiert Transzendenz eine neue Situation bzw. das über den Konflikt hinaus denken. (vgl. Galtung o. J.) Mithilfe dieser Methode wird der Betrachtungsraum für die Konfliktlösung ausgeweitet. Durch das Erweitern der Perspektive ist es möglich, eine Gewinner-Gewinner-Lösung zu finden. So wird festgestellt, dass die eine Schwester die Schale zum Backen benötigt und die andere Schwester gern das Fruchtfleisch essen möchte. Folglich kommen beide auf ihre Kosten.
4 Verlierer-Verlierer-Ergebnis [lose-lose]: Entweder haben beide Parteien eine Alternative und wenden sich voneinander ab, ohne dass das Problem ausgetragen wird, oder sie gehen zur Lösung des Problems Kompromisse ein, die ihnen beiden schaden. (vgl. Montada/ Kals 2001: 201f.) Hier streiten sich die Schwestern so lange, bis darunter die Orange gelitten hat und zerquetscht wurde. Demzufolge kann keine der beiden Gebrauch von der Orange machen.
5 Abbruch ohne Ergebnis: Es kommt zu keiner Einigung, da die Verhandlung einseitig oder im allseitigen Einvernehmen abgebrochen wird. (vgl. ebd.: 201) Keine der Schwestern bekommt die Orange. Sie würde in diesem Falle wieder in den Kühlschrank gelegt werden.

1.2 Konflikt und Kultur

Ein jeder Kampf dreht sich um unterschiedliche Blickwinkel, die allesamt dieselbe Wahrheit beleuchten. (Mahatma Gandhi)

Wächst mit dem Grad der kulturellen Differenz die Schwierigkeit der Verständigung und damit die Wahrscheinlichkeit von Konflikten, so benötigen kulturelle Unterschiede besondere Aufmerksamkeit. Doch führen nicht die Unterschiede als solche zu Konflikten, sondern ihre Handhabung: Eine wichtige Funktion kultureller Differenzen ist deren kulturelle sowie individuelle Identitätsstiftung[10]. Damit kann das Problem der Ausgrenzung und Abwertung anderer - kulturell verschiedener Menschen - mit einer starken kulturellen Selbstbehauptung einhergehen. Durch Verunsicherungen und Ängste wiederum entstehen Feindbilder, die durch kulturelle Unterschiede manifestiert werden, wobei nicht die Unterschiede selbst zu Konflikten führen, sondern die individuellen Zuschreibungen. Fremdheit wird wechselseitig konstruiert, indem die eine Kultur die andere als vom eigenen fremd wahrnimmt. Die Konstruktion einer kulturellen Identität durch kulturelle Selbstvergewisserung ist ein Grundbedürfnis von Individuen und Gruppen, um die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft zu sichern und sich in der Welt orientieren zu können. Deshalb ist in einer sich ständig verändernden Welt die Besinnung auf die eigene Kultur nicht selten ein Mittel der individuellen Krisenbewältigung. (vgl. Heimannsberg 2000: 13f.) Harald Müller (1999, zit. nach ebd.: 14f.) unterscheidet fünf idealtypische Reaktionsweisen auf die Konfrontation mit Fremden:

1 Totale Anpassung: Das Brechen mit den eigenen Werten.
2 Synthese: Verknüpfung der eigenen Tradition mit der neuen Kultur.
3 Kompromiss: instabile Identität durch ein Hin-und-her-Schwanken zwischen Kulturen.
4 Vergewisserung des Althergebrachten: Verteidigung der kulturellen Identität (Widerbelebung von Orthodoxien und Fundamentalismen).
5 Überhöhung der eigenen kulturellen Identität und aggressive Ausgrenzung des Fremden.

Dabei muss daraufhin gewiesen werden, dass diese Verhaltensweisen im Alltag ineinander übergehen, sich abwechseln oder parallel verlaufen und bestimmte Konflikte in sich bergen. (vgl. ebd.: 13ff.) Doch ist erst eine Begegnung möglich, wenn das Eigene mit seinen kulturellen Prägungen anerkannt und nicht mehr verleugnet wird. Dies ist die Voraussetzung, um fremde kulturelle Prägungen anzuerkennen und anderen Menschen zu begegnen. (vgl. Schmidt-Lellek 2000: 27)

Interessanterweise geht die dialektische Perspektive der Sozialwissenschaft davon aus, dass kulturelle Differenzen durch das Streiten überwindbar sind. Demnach verbindet Streiten, denn „Gemeinsamkeiten (auch eine gemeinsame Meta-Kultur) können sich darüber entwickeln, dass Werte und Normen strittig sind und ausgehend davon ein gemeinsamer Sinnzusammenhang konstruiert werden muss.“ (Heimannsberg 2000: 17) Somit werden interkulturelle Konflikte zum Potential der interkulturellen Verständigung. Hier kommt das Ziel der interkulturellen Mediation zum Tragen, die das Kreieren einer neuen gemeinsamen, tragfähigen und temporären Kultur fordert. Diese ist letztlich Vorraussetzung für die konstruktive Vermittlung. (vgl. Liebe 1996: 53)

1.2.1 Konflikte in interkulturellen Kontexten

Kultur ist als ein Bezugsystem zu begreifen, welches kulturelle Codes[11] beinhaltet und die (kulturelle) Identität des Einzelnen und der Gruppe sichert. Mayer & Boness (2004: 22f.) formulieren es folgendermaßen: „Kultur stellt […] das gegenseitige, grundlegende Verstehen der gleichen Kulturgemeinschaft sicher, indem sie gemeinsame Wertesysteme und Normen zur Verfügung stellt, die sich wiederum in Regulierungen in Interaktionen, Kommunikation und Verhalten ausdrücken können.“ Interkulturalität kann als Form der Interaktion und des Kontaktes zwischen Individuen und Gruppen unterschiedlicher kultureller bzw. ethnischer Zugehörigkeit verstanden werden. (vgl. Busch 2005: 41) Dazu gehören die in Abbildung 3 unterschiedene Kultur I, die alle alltagsweltlichen Phänomene umfasst, und die Kultur II, die die kulturell verschiedenen Wertorientierungen und Wertkonstellationen wie Normen, Beziehungsdefinitionen oder Einstellungen zu Macht, Zeit und Raum (vgl. Kap. 1.2.2) beinhaltet. (vgl. Mayer/ Boness 2004: 21)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Eisberg-Modell von Kultur (Mayer/ Boness 2004: 20)

Da die Definition interkultureller Konflikte von dem Verständnis von Kultur abhängen, sind darunter alle Konflikte zwischen Streitparteien unterschiedlicher Kultur zu verstehen. Seien sie unterschiedlicher Sprache, unterschiedlicher Religion oder unterschiedlicher ethnischer Herkunft. So können selbst Konflikte zwischen Bayern und Friesen als interkulturelle Konflikte verstanden werden, da sie sich in Sprache sowie regionalkulturspezifischen Wertorientierungen unterscheiden. (vgl. ebd.: 21) Je grundlegender die Differenzen in den Wertorientierungen (z.B. zwischen Afrikanern und Südamerikanern) sind, desto größer sind die kulturellen Einflüsse, die in dem entsprechenden Konflikt wirken. Doch selbst „[…] wenn die Konfliktparteien über eine unterschiedliche nationale Herkunft verfügen, ergibt sich aus dieser Konstellation nicht notwendigerweise ein interkultureller Konflikt.“ (Liebe 1996: 9) Es handelt sich nur dann um einen interkulturellen Konflikt, wenn die Unterschiede des beobachteten Verhaltens der Konfliktpartner sich auf deren Zugehörigkeiten zu einer bestimmten Kultur zurückführen lassen. Darüber hinaus muss dieses unterschiedliche Verhalten die Bearbeitung des Konfliktes erheblich beeinflussen. Dabei werden die kulturellen Unterschiede von Liebe als nationalkulturelle Unterschiede begriffen. Es können meines Erachtens allerdings auch die in jeder der nationalen Teilgruppen vorhandenen ethnischen oder anderen möglichen Differenzierungen hinzugezählt werden. (vgl. ebd.: 9)

Personen verschiedener kultureller Angehörigkeit besitzen voneinander differenzierte kulturelle Bezugssysteme. (vgl. Liebe/ Haumersen 1999, zit. nach Schramkowski 2005: 83) Diese kulturellen Systeme sind als Rahmen der subjektiven Lebenswelten zu verstehen, die auch Einfluss auf Gefühle, Einstellungen und Verhalten des Individuums haben. Durch kulturell bedingte Einstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen können systematische Perspektivdivergenzen, Missverständnisse zwischen den Angehörigen verschiedener kultureller Bezugssysteme entstehen. Die Gefahr der Eskalation des Konfliktes liegt jedoch nicht nur in den Missverständnissen selbst, sondern auch darin, dass diese meist unbemerkt bleiben. (vgl. Weiß 2005: 202) Amrein, Lüscher, Nydegger und Reist (1999: 61f.) haben drei Ebenen kultureller Differenzen unterschieden, auf denen sich interkulturelle Konflikte ergeben können:

1 Kommunikationsebene: Es handelt sich um Konflikte, die sich aus dem Unterschied zweier oder mehrerer Kulturen ergeben können und auf kommunikativen – verbalen bzw. nonverbalen – Missverständnissen basieren.
2 Ideologische Ebene: Kulturspezifische Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Werte führen u. a. zu Fehlinterpretationen von einzelnen Ausdrücken, Gesten und Verhaltensweisen der fremden Kulturen. Aus diesen Fehlinterpretationen können sich ideologisch begründete Konflikte ergeben.
3 Verhaltensebene: Dies sind Konflikte, die sich aus diesen falsch interpretierten Verhaltensweisen der ideologischen Ebene ergeben können und auf Missverständnissen bezüglich Reaktionen bzw. Handlungen basieren.

Ein interkultureller Konflikt kann also als eine Auseinandersetzung oder ein Zusammenstoss unterschiedlicher Realitäten und Wertvorstellungen verstanden werden. (vgl. Mayer/ Boness 2004: 28) In diesem Zusammenstoß liegt für Lederach (1988) die Chance von interkulturellen Konflikten, nämlich unterschiedliche Realitäten wahrzunehmen: „Conflict situations are those unique episodes when we explicitly recognize the existence of multiple realities and negotiate the creation of a common meaning.” (zit. nach ebd.: 28) Da Konflikte kulturell und individuell geformt, individuell erfahren und kulturell geprägt werden, geben sie einen Einblick in die soziale Rekonstruktion der Wirklichkeit einer Kultur. „Konfliktverhaltensweisen sind kulturspezifisch, denn jede Kultur konstruiert sich ihre Repertoires von Konfliktverhalten, Wertehierarchien und Rechtsauffassungen selbst.“ (ebd.: 30)

Dennoch ist Kultur nur eine Variable unter vielen Einflusskomponenten, die einen Konflikt auslösen können, auch wenn die Konfliktparteien unterschiedlicher kultureller Herkunft sind. Somit ist es möglich, dass Konflikte infolge von kulturellen Differenzen entstehen können. (vgl. Schramkowski 2005: 86) Aufgrund dessen sollte der kulturelle Hintergrund als Einflussgröße mit einbezogen werden. Wird dieses Kriterium jedoch vorzeitig als Erklärung herangezogen, so können die eigentlichen Konfliktursachen, die oftmals in Frustration menschlicher Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Partizipation liegen, eventuell unerwähnt bleiben, obwohl sie zur Lösungsfindung notwendig sind. (vgl. Ropers 1995: 21f.).

1.2.2 Kategorien kultureller Unterschiede

Die Situation verkompliziert sich demzufolge dadurch, dass es nicht einfach ist, die tatsächliche Bedeutung kultureller Unterschiede für die Konfliktsituation herauszufiltern. (vgl. Schramkowski 2005: 86) Doch ist es notwendig, die möglichen kulturellen Differenzen zu kennen, um sie innerhalb der Konfliktintervention berücksichtigen zu können.

Im Allgemeinen unterscheiden sich Kulturen nach Baumer (2002, zit. nach Kreyenberg 2005: 212f.) in folgenden grundlegenden Systemunterschieden:

1 Wesen der menschlichen Natur: Philosophien und Religionen haben zentralen Einfluss (z.B. Humanismus: Menschen sind von Natur aus gut).
2 Beziehung zwischen Mensch und Natur: Unterwerfung des Menschen unter die Natur, Beherrschung der Natur oder im Einklang mit der Natur.
3 Zeitorientierung: Orientierung auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.
4 Aktivitätsorientierung: Orientierung auf das „Sein“, das „Sein im Werden“ oder das „Sein im Tun“. Es können drei Gruppen von Kulturen unterschieden werden: a) linear-aktive: Planung, Organisation, Datenorientierung; b) multi-aktive: spontane persönliche Kontakte, parallele Aktivitäten, fehlende Prioritäten c) reaktive: Höflichkeit, Respekt, Einfühlungsvermögen, Balance.
5 Beziehungsorientierung: Bindung an biologisch-soziale Gegebenheiten (z.B. Familie), Einbettung in ein größeres soziales System oder Betonung der persönlichen Autonomie. (Individualismus vs. Kollektivismus)

[...]


[1] Im jüdischen Glauben ist der Tempelberg der Nabel der Welt, von dem aus sie geschaffen wurde. Doch ist er nach islamischer Auffassung auch Ausgangspunkt der Himmelsreise des Propheten Mohammed. Dies gilt dem Islam als Begründung für einen Anspruch auf die Stadt, sodass Palästina die volle Souveränität über das arabische Ostjerusalem einschließlich des Tempelberges fordert. In der Bibel ist Aron erster Besitzer des Tempelbergs oberhalb Jerusalems.

[2] Westlich ist ein Attribut, um den kulturspezifischen Kontext einzugrenzen, da Mediation nicht in allen Kulturen und Kontexten gleich ist und wirkt. Die Abgrenzung erfolgt politisch und ideologisch: Zum westlichen werden Staaten und Gesellschaften Westeuropas, Nordamerikas und Australiens dazugezählt. Dies ermöglicht die Abgrenzung der eigenen „westlichen“ Kultur gegenüber fremden Gesellschaften wie große Teile Osteuropas, Asiens, Afrikas und Südamerikas. (vgl. Busch 2005: 18f.) Westliche und nicht-westliche Kulturen unterscheiden sich stark in Religion, Riten, Wertesystemen, Verhaltensnormen etc.

[3] Es existieren allerdings eine Reihe von Überblicksarbeiten. Beispielsweise Glasl (1999) „Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater.“ und Bonacker (1996) „Konflikttheorien. Eine sozialwissenschaftliche Einführung mit Quellen.“

[4] Innerhalb der Mediation sind die intrapersonellen bzw. intrasubjektiven sowie die interpersonellen Konflikte von Bedeutung: Persönliche Konflikte sind nicht Gegenstand der Mediation, sondern vielmehr die einer individuellen Beratung. Doch sind die intrapsychischen Konflikte möglicherweise Gründe, „weshalb eine Partei bezüglich ihrer Ziele, Wünsche oder Ansprüche ambivalent, zögerlich, inkonsistent oder schwankend erscheint.“ (Montada/ Kals 2001: 60) So können sie innerhalb der Mediation auch konstruktiv genutzt werden, denn durch die Bewusstmachung eines inneren Konfliktes ist es möglich, eine Blockade im sozialen Konflikt aufzulösen. (vgl. ebd.: 61).

[5] Diese Grenzziehung dient der Identitätsbildung des jeweiligen Systems - der Konfliktpartei. So ist diese sinnstiftend für alle Systemmitglieder, indem sie ihre jeweilige Zugehörigkeit sichert und damit das ganze System stärkt.

[6] Es kann möglicherweise zur Symptomverschiebung i. S. Paul Watzlawicks kommen. Dabei werden affektive Strebungen nicht direkt geäußert, sondern ins Unbewusste verdrängt oder unbewusst auf den Körper verschoben, was zu psychosomatischen Störungen führt, die wiederum auf die zwischenmenschliche Beziehung wirken können.

[7] Dieses aufgeführte Achtphasenmodell hat Kreyenberg (2005: 88ff.) in Anlehnung an Glasls neunstufiges Eskalationsmodell entwickelt. So teilt Glasl (1997: 218f.) den Eskalationsverlauf in folgende Phasen ein: 1. Verhärtung der Standpunkte, 2. Debatte, 3. Taten, 4. Images, Koalitionen, 5. Gesichtsverlust, 6. Drohstrategien, 7. begrenzte Vernichtungsschläge, 8. Zersplitterung und 9. Gemeinsam in den Abgrund. Die Phasen 1- 7 entsprechen den Phasen Kreyenbergs. Sie hat jedoch Glasls 8. und 9. Phase in ihrer 8. Phase zusammengefasst.

[8] Nach Bendrath (o. J.) werden unter Zeitknappheit die Möglichkeiten, komplex und langfristig zu denken, radikal reduziert. So spielt die Wahrnehmung von Zeit eine wichtige Rolle bei der Eskalation zur Gewalt. Innerhalb des Golfkrieges wurde durch das Ultimatum eine künstliche Zeitverknappung eingeführt, die den Konflikt erst zur Krise eskalieren ließ.

[9] transzendent ‹lat.›: die Grenzen der Erfahrung überschreitend (Duden)

[10] „Kultur sichert (…) nicht nur die Reproduktion des Alltags, sondern auch die Sozialisation und den Schutz der Identität.“ (Waldow 2005a: 39) Identität meint nach Waldow ein internes personales und kulturelles Handlungsfeld, welches sich in der kulturellen und sozialen Gruppenzugehörigkeit niederschlägt. (vgl. Waldow: 2005a: 4, 21) Jedoch ist die kulturelle Identität keine natürlich gegebene Unterscheidung, sondern wird sozial konstruiert und ist somit prinzipiell veränderbar. (vgl. Heimannsberg 2000: 14)

[11] Kulturelle Codes sind „oft nicht ausgesprochene, aber gelebte Konventionen, die aufgrund von gemeinsamen Erfahrungen, Bedürfnissen oder Interessen das individuelle und […] kollektive denken (sic!), empfinden (sic!), verhalten (sic!) und handeln (sic!) beeinflussen.“ (Steiner 2005) Beispielsweise Sprache, Werte und Normen, Rituale, Genderrollen etc. (Abb. 3)

Ende der Leseprobe aus 128 Seiten

Details

Titel
Konflikt und Frieden - Interkulturelle Mediation und Mahatma Gandhi
Untertitel
Der Weg zu einem friedlichen Miteinander
Hochschule
Hochschule Zittau/Görlitz; Standort Görlitz
Note
1
Autor
Jahr
2006
Seiten
128
Katalognummer
V136013
ISBN (eBook)
9783640435333
ISBN (Buch)
9783640435029
Dateigröße
1611 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mediation, Interkulturelle Mediation, Mahatma Gandhi, Konfliktforschung, Friedensforschung, Konflikt, interkulturelle Konflikte, Hinduismus, Gewaltfreiheit
Arbeit zitieren
Alexandra Mietusch (Autor:in), 2006, Konflikt und Frieden - Interkulturelle Mediation und Mahatma Gandhi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136013

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