Suizidale Krisen: Diagnostik und Umgang im therapeutischen Prozess


Hausarbeit, 2003

30 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Epidemiologie
2.1 Häufigkeit von Suizidhandlungen
2.2 Risikogruppen

3 Kurze Darstellung verschiedener Suizidtheorien
3.1 Psychiatrische Erklärung
3.2 Psychoanalytische Selbstmordtheorie
3.3 Psychosoziale Erklärungsmodelle
3.4 Verhaltenstherapeutische Erklärungsmodelle
3.5 Erklärungsmodell der Integrativen Therapie

4 Diagnostik der Suizidalität
4.1 Entwicklung von Suizidhandlungen
4.2. Präsuizidales Syndrom

5 Umgang mit suizidalen Krisen innerhalb der therapeutischen Arbeit
5.1 Zum Verständnis von Krisen allgemein
5.2 Erkennen einer suizidalen Krise
5.3 Interventionsmöglichkeiten im Rahmen des therapeutischen Prozesses
5.3.1 Der Rahmen und die Absprachen
5.3.2. Therapeutische Interventionsmöglichkeiten

6 Grenzen innerhalb des ambulanten therapeutischen settings
6.1 Kurzer Exkurs in rechtliche und philosophische Überlegungen
6.2 Eigene Haltung und Erfahrungen im Rahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes
6.3 Interventionsmöglichkeiten außerhalb des ambulanten therapeutischen settings
6.3.1 Zusätzliche ambulante Angebote und die Frage der Zwangseinweisung
6.3.2 Stationäre Angebote
6.3.3 Teilstationäre Angebote

7 Weitere therapeutische Arbeit nach einem Suizidversuch

8 Literatur

1 Einleitung

Dieser Arbeit liegt ein ganz persönliches Interesse von mir zugrunde. Ich arbeite seit 13 Jahren in psychiatrischen Arbeitsfeldern und davon seit 10 Jahren im Sozialpsychiatrischen Dienst. Ich habe im Rahmen dieser Arbeit ständig mit dem Thema Suizid und suizidale Krisen zu tun. Zum einen kenne ich das aus meiner Einzelarbeit mit unterschiedlichen Klienten, zum anderen aus der Sicht der akuten Krisenintervention.

Was die Krisenintervention anbelangt habe ich oft erlebt, dass ich von niedergelassenen ambulanten Therapeuten um Mithilfe gebeten wurde, weil Klienten suizidal waren. Zum Teil wurde der Wunsch nach einer zusätzlichen Anbindung geäußert, zum Teil aber auch nach Kontaktaufnahme zum Klienten, da dieser den Kontakt zum Therapeuten abgebrochen hat.

Was mich im Laufe der Jahre sehr beeindruckt hat, ist nicht die Tatsache, dass Therapeuten sich bei uns melden, sondern wie wenig einige über das Thema Bescheid wissen, bzw. wie hilflos sie in so einer Situation sind.

Meiner Meinung gehört dieses Thema zum Basiswissen eines jeden Therapeuten. Dies scheint jedoch nicht immer der Fall zu sein. Außerdem habe ich es so erlebt, dass sich viele Therapeuten erst sehr spät damit auseinander setzen, wo ihre eigenen Grenzen sind und was es noch an ergänzenden Interventionsmöglichkeiten gibt. Die Hilferufe geschehen dann häufig aus einer Panikhaltung des Therapeuten heraus.

Mir ist es wichtig, in dieser Arbeit einen Überblick über das Thema und das Problemfeld Selbstmordgefährdung zu geben. Dabei werde ich so vorgehen, dass ich einen kurzen theoretischen Hintergrund gebe und auf die Kriterien einer Krise allgemein eingehe und im Besonderen auf die Merkmale einer suizidalen Krise. Dann werde ich verschiedene Interventionsmöglichkeiten anführen und auch die Grenzen des ambulanten settings aufzeigen, sowie auf ergänzende Interventions- und Behandlungsmöglichkeiten hinweisen. Einige philosophische und rechtliche Fragen runden diese Arbeit ab.

Selbstverständlich könnte man jeden einzelnen Punkt dieser Arbeit noch mehr ausführen oder genauer beleuchten. Mir geht es dabei aber nicht um die Geschlossenheit der Arbeit, sondern um einen Überblick und um „Handwerkszeug“ für jemanden, der ambulant psychotherapeutisch arbeitet. Dabei finde ich es wichtig, auf die Grenzen der ambulanten Psychotherapie hinzuweisen.

Ich habe für mich durch die Gestalttherapieausbildung viel gelernt, was die konkrete Umgehensweise und therapeutische Arbeit anbelangt. Dies mit diagnostischen Kriterien für Suizid in Verbindung zu bringen, ist mein Ziel.

2 Epidemiologie

2.1 Häufigkeit von Suizidhandlungen

In Deutschland nahmen sich im Jahr 2000 nach Unterlagen des Statistischen Bundesamtes 8145 Männer und 2934 Frauen das Leben. Die Suizidrate betrug demnach für Männer 20,28 und für Frauen 6,97.[1]

Die Suizidgefährdung nimmt sowohl bei Männern als auch bei Frauen mit dem Alter signifikant zu.

Es sterben in Deutschland mehr Menschen durch Selbsttötung als im Straßenverkehr.

Laut dem Therapiezentrum für Suizidgefährdete am Universitätskrankenhaus Eppendorf starben in Hamburg in 2000 163 Männer und 80 Frauen.[2]

Zur Abschätzung des Suizidversuchsrisikos liegen keine offiziellen statistischen Angaben vor. Dies liegt u.a. auch an der Dunkelziffer. Laut Stichprobenuntersuchung schätzt die WHO (Weltgesundheitsorganisation), dass in Deutschland im Jahr 2001 auf je 100.000 Einwohner 108 Männer und 131 Frauen versucht haben, sich das Leben zu nehmen.[3]

2.2 Risikogruppen

Es gibt bestimmte Risikogruppen, bei denen Suizide und Suizidversuche besonders gehäuft vorkommen. Dies sind in entsprechender Reihenfolge:

1. Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige
2. Depressive
3. Alte und Vereinsamte
4. Menschen, die durch Suizidankündigung und
5. bereits vorangegangenen Suizidversuch auffällig wurden.[4]

Eine besondere Risikogruppe stellen auch psychisch Kranke dar, besonders solche, die an einer Psychose leiden.

Zur ökologischen Verteilung ist anzumerken, dass Suizide und Suizidversuche in der Stadt häufiger vorkommen, als auf dem Land. Suizidversuche sind in den unteren Schichten gehäufter, Suizide in den gehobenen und unteren.

3 Kurze Darstellung verschiedener Suizidtheorien

Im Folgenden stelle ich kurz dar, wie suizidales Verhalten erklärt wird. Diese Beschreibung soll jedoch nur als Einführung in die Thematik dienen und ist von daher nicht vollständig und umfassend.

3.1 Psychiatrische Erklärung

Hier wird Suizidalität als Phänomen im Rahmen von psychischen Erkrankungen gesehen. Unterstützt wird diese These dadurch, dass Suizidhandlungen auch gehäuft bei Menschen mit psychischen Erkrankungen vorkommen, so z.B. bei schweren Depressionen oder Psychosen. Es gibt demnach eine suizidale Tendenz, die einen Weg von der Suizidankündigung hin zu wiederholten Selbstmordversuchen und zum endgültigen Suizid beschreibt.[5]

3.2 Psychoanalytische Selbstmordtheorie

Diese Theorie beruht auf der psychoanalytischen Auffassung der Depression und geht und den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud zurück. Danach kommt suizidales Verhalten im Rahmen von Depressionen vor. Bei Depressionen trauert ein Mensch um ein geliebtes Objekt, kann diese Gefühle jedoch nicht zulassen.[6] Außerdem gibt es neben den liebenden Gefühlen auch aggressive und feindselige, die jedoch verdrängt werden müssen. Diese Gefühle richten sich dann nicht gegen die Person, die sie ausgelöst hat, sondern gegen das eigene Selbst, denn ein Kennzeichen des Depressiven ist ein strafendes und stark ausgebildetes Über-Ich, das die feindlichen Impulse nicht zulässt, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als sie gegen sich selbst zu richten. Suizidale Handlungen und Suizid stellen demnach ein Extrem auf der Skala der Selbstaggression dar.

3.3 Psychosoziale Erklärungsmodelle

Dies ist ein relativ umfassendes Erklärungsmodell, da es sowohl psychoanalytische Theorien mit gesellschaftlichen Faktoren verknüpft.[7]

Die zeitlich erste Suizidtheorie stammt von Durkheim, der die eigenen Ziele und Ideale in Verbindung zu den gesellschaftlichen Normen und Einrichtungen setzt.

Man unterscheidet hier zwischen dem egoistischen Suizid und dem anomischen.

Beim egoistischen Suizid ist die Basis eine geringe soziale Integration. Der einzelne Mensch löst sich aus strukturierten sozialen Beziehungen, so dass es vermehrt zur Isolation kommt und wenig psychologisch bedeutsame Beziehungen übrig bleiben. Hinzu kommt, dass dieser Mensch im Rahmen seines Sozialisationsprozesses eine suizidale Persönlichkeit ausgebildet hat, die durch ein strafendes Über-Ich und emotionalem Rückzug gekennzeichnet ist. Diese beiden Faktoren zusammen führen zur Depression und damit zum suizidalen Verhalten. Die Aggression gegen das introjizierte Objekt wird größer und damit nimmt der Wunsch zu töten bzw. der Wunsch getötet zu werden zu.

Wesentlich ist dabei, dass je geringer die soziale Integration ist, desto mehr wird dem Individuum die Erfüllung seiner Abhängigkeitsbedürfnisse versagt werden. Depression und Suizid hängen eng mit dem Rückzug aus dem sozialen Leben zusammen. Dabei ist es so, dass sich die aggressiven Impulse nicht nur gegen das eigene Selbst richten, sondern dass Suizidhandlungen auch einen Versuch darstellen, das geliebte Objekt zurück zu bekommen, bzw. einen Appell um Liebe und Vergebung darstellen und der Mensch darüber den Versuch unternimmt, in die Gesellschaft integriert zu werden. Jeder Suizidversuch löst eine Reihe von Reaktionen aus und dem Suizidenten wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Der anomische Suizid stellt einen anderen Aspekt desselben sozialen Zustandes dar. Hier ist die Ausgangslage eine geringe normative Integration. Die Gesellschaft gibt bestimmte Ziele vor und das betreffende Individuum spürt die Diskrepanz wischen den vorgegebenen Idealen einerseits und der tatsächlichen Realität andererseits. ( Spannung zwischen Ich-Ideal und Ich-Identität). Hinzu kommt auch hier der Erwerb einer suizidalen Persönlichkeit im Rahmen des Sozialisationsprozesses, so dass es zur Depression kommt, die eine Abwehr des Gefühls der Scham darstellt. Das suizidale Verhalten resultiert aus den Aggressionen gegen die unangemessene Ich-Identität und stellt den Versuch dar, sich über diese Grenze hinweg zu setzen.

3.4 Verhaltenstherapeutische Erklärungsmodelle

Von den Verhaltenstherapeuten wird suizidales Verhalten über die Theorie des operanten Lernens erklärt. Ohne dies moralisch zu bewerten wird Suizidverhalten als funktionales Verhalten gesehen. Schon vor dem Suizidversuch wird der Wunsch nach Veränderung geäußert. Der Mensch entdeckt den Suizid als Möglichkeit zur Beeinflussung seiner Umwelt. Bei mehreren Suizidversuchen besteht jedoch die Gefahr, dass eine Wiederholung nicht mehr den gewünschten Effekt hat, so dass die Versuche immer drastischer und bedrohlicher werden, bis auch Suizide in Erwägung gezogen werden.

Häufig werden suizidale Verhaltensweisen auch anhand des Modell- oder Imitationslernens übermittelt. Dies ist besonders häufig bei Jugendlichen der Fall.

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht sind Auslösebedingungen Krisensituationen und die Beeinflussung durch andere Personen. Hinzu kommt ein eingeschränktes Verhaltensrepertoire, das durch Inflexibilität, Hoffnungslosigkeit, negative Selbstbeurteilung und negative Zukunftsperspektiven gekennzeichnet ist. Weiterhin haben die Betroffenen ungenügende Problembewältigungsstrategien entwickeln können.

3.5 Erklärungsmodell der Integrativen Therapie

Die Integrative Therapie bietet meiner Meinung nach das umfassendste Erklärungsmodell für das Entstehen von Krankheit, da sie den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit erfasst. Es werden nicht nur biographische Aspekte berücksichtigt, sondern es wird der Mensch auch in seinen aktuellen Beziehungen und seiner sozialen Lebenssituation gesehen. Das Krankheitsmodell vollständig zu erläutern, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, so dass ich nur einige für mich relevante Punkte herausgreifen werde.

Die Integrative Therapie erklärt die Entstehung von Krankheit anhand von zwei Einflüssen, dem beziehungstheoretisch begründeten Stressmodell und dem entwicklungstheoretisch begründeten Strukturmodell. Es geht also um die Einflüsse von Kontext und Kontinuum.[8] Von daher ist das Auffinden eines speziellen Traumas nicht entscheidend, denn es kommt nur dann zur Entstehung von Krankheit, wenn es einen Verlauf von negativen Ereignisketten gibt. Dabei spielen die persönlichen Umstände des Betroffenen ebenso eine Rolle und auch seine subjektive Zukunftserwartung. Von daher ist krankhaftes Verhalten bzw. Störung auch nur innerhalb einer prozessualen Diagnostik zu verstehen, da es sich durch aktuelle Anlässe und neue Beziehungsgestaltungen immer wieder verändern kann.

Bei dem Versuch, ein aktuelles Problem eines Klienten einschätzen zu können, geht es darum, herauszufinden, wo die Ursachen in erster Linie liegen. Dies würde auch dabei eine Rolle spielen, wenn es um suizidale Klienten geht. Es ist wichtig zu verstehen, ob das hinter der Suizidalität liegende Problem in dem Klienten selbst oder in seiner Umgebung begründet liegt. Außerdem spielt es eine Rolle, wie fest, der Klient in seinen Ich-, Selbst und Identitätsstrukturen ist. Fraglich ist auch, wie sehr der Klient in der Gegenwart lebt und wo er in der Vergangenheit festgehalten ist. Ein weiteres diagnostisches Merkmal ist die Frage nach den Kontaktzyklen, also die Frage, mit welchen Seiten seines Selbst er mit der Umwelt im Kontakt ist und die Frage, in welchen Beziehungsmustern er sich bewegt. Als letztes dann noch die Fragen nach den Abwehr- und Bewältigungsmechanismen.[9]

Demnach gibt es in der Integrativen Therapie keine allein- und allgemeingültige Erklärung für suizidales Verhalten. Nur im Rahmen von prozessualer Diagnostik und innerhalb des therapeutischen Prozesses ist erkennbar, wie ein bestimmter Klient in eine suizidale Krise gelangen konnte und wie es auch Wege wieder daraus gibt. Diese Erklärung ist dann auch nur für diesen einen bestimmten Klienten gültig und auf keine anderen Klienten übertragbar. Alle theoretischen Erklärungsmodelle aus anderen therapeutischen Richtungen sind nur Suchraster, aber keine Gesetzmäßigkeiten.

[...]


[1] vgl.: Schmidtke in Psycho

[2] vgl.: Leitlinien Suizidprävention im Klinikum Nord

[3] vgl.: Schmidtke in Psycho

[4] vgl.: Sonneck

[5] vgl.: Tölle

[6] vgl.: Menzos

[7] vgl.: Dörner / Plog

[8] vgl.: Rahm u.a.

[9] vg.: Rahm u.a.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Suizidale Krisen: Diagnostik und Umgang im therapeutischen Prozess
Note
gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
30
Katalognummer
V13591
ISBN (eBook)
9783638192057
Dateigröße
598 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Abschlussarbeit der Gestalttherapieausbildung am HIGW (Hamburger Institut für gestaltorientierte Weiterbildung).
Schlagworte
Suizidale, Krisen, Diagnostik, Umgang, Prozess
Arbeit zitieren
Michael u. Britta Bech (Autor:in), 2003, Suizidale Krisen: Diagnostik und Umgang im therapeutischen Prozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13591

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