Niederlassungsfreiheit und Sitzverlegung von Gesellschaften nach MoMiG

Gesellschafts- und kollisionsrechtliche Darstellung der Sitzverlegungsmöglichkeiten deutscher Gesellschaften im Rahmen der Niederlassungsfreiheit unter Berücksichtigung des MoMiG


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2009

59 Seiten, Note: 14


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Deckblatt

Literaturverzeichnis

Besprechungsspiegel zu den Leitentscheidungen des EUGH

Verzeichnis zum relevanten EG-Sekundärrecht

A. Einleitung

B. EG-rechtliche Grundlagen

C. Stand der Rechtsprechung des EUGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften
I. Die Rechtssache „Daily Mail“
II. Die Rechtssache „Centros“
III. Die Rechtssachen „Überseering“, „Inspire Art“ und „Sevic“
1. „Überseering“
2. „Inspire Art“
3. „SEVIC-Systems“

D. Konsequenzen für das deutsche Gesellschafts- und internationale Privatrecht
I. Überblick zum deutschen Gesellschaftskollisionsrecht
1. Gründungstheorie
2. Sitztheorie
3. Vermittelnde Lehren
II. Notwendigkeit der Unterscheidung in Fallgruppen
1. Die Begriffe: Primär- und Sekundärniederlassung
2. Der Begriff: „Zuzugsfall“
3. Der Begriff: „Wegzugsfall“
a) e.A. keine Unterscheidung wegen Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit notwendig
b) a.A. Unterscheidung schon erforderlich wegen Nichtanwendbarkeit der
Niederlassungsfreiheit
c) Stellungnahme
III. Zum Stand der Mobilitätsfähigkeit von Gesellschaften mit Bezug zum deutschen
Hoheitsgebiet
1. Fall des Zuzugs einer Sekundärniederlassung nach Deutschland
2. Fall des Wegzugs der Sekundär-NL einer deutschen Gesellschaft
a) Status Quo: wenn Zuzugsstaat der Gründungstheorie folgt
b) Status Quo: wenn Zuzugsstaat der Sitztheorie folgt
3. Verlegung des Satzung- oder Registersitzes einer Primär-NL
a) Satuts Quo: zum Zuzug einer Primärniederlassung
b) Status Quo: zum Wegzug der Primärniederlassung
(aa) e.A. identitätswahrender Wegzug bleibt unzulässig
(bb) a. A. identitätswahrender Wegzug ist zu ermöglichen
(cc) Stellungnahme

E. Zusammenfassung und Thesen

Anhang I. Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Besprechungsspiegel zu den Leitentscheidungen des EUGH

Die von der deutschen Jurisprudenz rezipierten Leitentscheidungen des EUGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften, gekennzeichnet als: R1 = Rs. „Daily- Mail“; R2 = Rs. „Centros“; R3 = Rs. „Überseering“; R4 = Rs. „InspireArt“; R5 = Rs. „SEVIC.“ In Fn. zitiert als „BS-Nr“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Verzeichnis zum relevanten EG-Sekundärrecht

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A. Einleitung

Die Rechtsprechung (Rspr.) des Europäischen Gerichtshofes (EUGH) zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften in den Rs. „Daily Mail“, „Centros“, „Überseering“, „Inspire Art“ und der in Folge proklamierte „Wettbewerb der Gesellschaftsrechte“ hat den deutschen Gesetzgeber dazu bewogen, sein nationales Gesellschaftsrecht anzupassen. Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) passierte am 23.05.2007 das Bundeskabinett und ist im November 2008 in Kraft getreten. [1] Die Bundesregierung will durch das Gesetz neben anderen vielfältigen Modernisierungen[2] des GmbH-Rechts insbesondere eine umfassende Mobilität von Gesellschaften ermöglichen.[3]

Als Wettbewerbsnachteil dt. Gesellschaften wurde empfunden, dass diese im Gegensatz zu einigen ausländischen Rechtsformen bislang nicht ihren tatsächlichen Sitz ins Ausland verlegen konnten.[4] Mit dem MoMiG soll es „durch die Streichung der § 5 Abs. 2 AktG und § 4a Abs. 2 GmbHG dt. Gesellschaften nunmehr ermöglicht werden, einen tatsächlichen Verwaltungssitz auch im Ausland zu wählen. Damit soll der Spielraum der Gesellschaften erhöht werden, ihre Geschäftstätigkeit auch außerhalb des dt. Hoheitsgebiets zu entfalten.“[5]

Fast zeitgleich stellte der Rat für Internationales Privatrecht[6] (RfIPR) im Rahmen der 5. EU-Gesellschaftsrechts- und Corporate Governance-Conference am 27. und 28. Juni 2007 in Berlin seinen Vorschlag[7] zu einer „EU- Verordnung über das für Gesellschaften anwendbare Recht“ und parallele bzw. alternative Ergänzungen des dt. EGBGB einer europäischen Fachöffentlichkeit vor. Dabei traten erhebliche Differenzen zur Auffassung des EU-Kommissars McCreevy zutage, der offenbar gänzlich sowohl auf die Verabschiedung der 14. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie wie auch sonst auf weitere Harmonisierungsmaßnahmen in diesem Bereich verzichten will und vielmehr eine weitgehende Klärung mit dem anstehenden Urteil in der Rs. „Cartesio“ (C-210/06)[8] erwartet.[9]

Die nachfolgende Arbeit untersucht, inwieweit die im MoMiG ergriffenen Maßnahmen das Ziel einer umfassenden innereuropäischen Mobilität dt. Kapitalgesellschaften erreichen können bzw. welche Maßnahmen darüber hinaus mit Blick auf die vorgenannten Vorschläge des RfIPR notwendig wären.

Dazu wird zunächst der EG-rechtliche Regelungsrahmen der Niederlassungsfreiheit umrissen (B), sodann wird die bisherige Rspr. des EUGH zur Niederlassungsfreiheit im Bezug auf die Sitzverlegungsmöglichkeiten dargestellt (C). Im Anschluss wird die aktuelle Rechtslage für das Deutsche Gesellschafts- und Internationale Privatrecht im Hinblick auf die Wirksamkeit der im MoMiG ergriffenen Maßnahmen untersucht (D). Schließlich werden die Ergebnisse und ein Ausblick in Thesen zusammengefasst (E).

B. EG-rechtliche Grundlagen

Ein funktionierender Binnenmarkt ist das wohl wichtigste Integrationsziel des EG- Vertrages und umfasst nach Art. 3 I lit. c EG „die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten (MS.).“ In einer Reihe mit den in Art. 3 I lit. c EG genannten Grundfreiheiten stehen die Personenverkehrsfreiheit und als Unterfall die Niederlassungsfreiheit, die einen „fundamentalen Grundsatz des Vertrages“ darstellt[10]. Nach Art. 30 EG sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen der MS. mit gleicher Wirkung verboten. Nach der Grundsatzentscheidung des EUGH in der Rs. „Dassonville“ (8/74) stellt jede Maßnahme, die geeignet ist, den Handel zwischen den MS. unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung dar[11]. Nach dem Urteil in der Rs. „Rewe-Zentral“ (120/78),[12] dem sogenannten Cassis de Dijon- Urteil, werden Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich aus den nationalen Vorschriften ergeben, welche unterschiedslos für alle Erzeugnisse angewendet werden und sich aus einer fehlenden Harmonisierung der Rechtsvorschriften in den MS. ergeben, auch dann als verbotene Maßnahmen gleicher Wirkung angesehen, sofern sich die Anwendung dieser Vorschriften nicht durch einen Zweck rechtfertigen lässt, der im zwingenden Allgemeininteresse liegt und den Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht.[13] Demgegenüber ist aber die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten für Erzeugnisse aus anderen MS. beschränken oder verbieten, nicht geeignet, den Handel zwischen den MS. im Sinne der Dassonville- Formel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen MS. rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.[14]

Diese für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten Grundsätze der Beschränkungsverbote strahlen maßgeblich auch auf andere Grundfreiheiten, insbesondere die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 43 EG, aus.[15] Die in den Artt. 43 EG ff. garantierte Niederlassungsfreiheit erstreckt sich gemäß Art. 48 EG auch auf Gesellschaften, die „nach den Rechtsvorschriften der MS. gegründet und ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihre Hauptverwaltung innerhalb der Gemeinschaft haben.“ Diese sehr weite Formulierung erfasst also jede Personenvereinigung, die gegenüber ihren Mitgliedern soweit verselbständigt ist, dass diese unter eigenem Namen (Firma) handeln kann.[16] Somit sind auch die Gesellschaften erfasst, die keine juristischen Personen sind, denen aber dennoch nach nationalem Sachrecht Rechts- oder Teilrechtsfähigkeit zugestanden wird. Somit fallen in den Schutzbereich der Artt. 43, 48 EG beispielsweise die in Deutschland teilrechtsfähige Außen-Gbr[17] und die OHG.

Ursprünglich wurde angenommen, dass die Niederlassungsfreiheit nur auf die Unterbindung von Diskriminierungen zwischen Inländern und EU-Ausländern im Sinne des „Bestimmungslandprinzips“ gerichtet sei.[18] In den Entscheidungen „Kraus“ vom 31.03.1993, (C-19/92), und „Futura“ vom 15.05.1995 (C-250/95)[19] sowie nachfolgend in der Entscheidung „Gebhard“ vom 30.11.1995 (C-55/94) [20] konkretisierte und übertrug der EUGH die für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten Grundsätze auch auf die Niederlassungsfreiheit.

Danach sind nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den EG-Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit behindern oder weniger attraktiv machen können, nur unter vier engen Voraussetzungen gerechtfertigt (sog. „Vier-Kriterien-Test“ oder „Gebhard- Formel“): 1. Sie müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, 2. aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein sowie 3. zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein, und sie dürfen 4. nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.[21]

C. Stand der Rechtsprechung des EUGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften

I. Die Rechtssache „Daily Mail“

In der Entscheidung zur Rs. „Daily Mail“ vom 27.11.1988 (Rs. 81/87)[22] hat der EUGH ausgeführt, Gesellschaften können von ihrer Niederlassungsfreiheit entweder durch Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften oder dadurch Gebrauch machen, dass sie ihr Kapital vollständig auf eine neu gegründete Gesellschaft übertragen.[23] Sie hätten aber im Gegensatz zu natürlichen Personen jenseits ihrer jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regeln, keine Realität.[24] Der Vertrag habe die kollisionsrechtlichen Unterschiede im Recht der MS. hingenommen und die Lösung der damit verbundenen Probleme zukünftiger Rechtsetzung vorbehalten.[25] Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung zu Grunde. Die Klägerin „Daily Mail and General Trust PLC“ war Klägerin in einem Ausgangsverfahren gegen das britische Finanzministerium, in dem festgestellt werden sollte, dass es für die Verlegung ihres Sitzes aus dem Vereinigten Königreich in die Niederlande keiner Zustimmung Kraft des britischen Steuerrechts bedarf. Das britische Gesellschaftsrecht gestatte einer Gesellschaft wie der Klägerin, die nach britischem Recht gegründet wurde und im Vereinigten Königreich ihren satzungsmäßigen Sitz hat, ihre Geschäftsleitung (registered office) außerhalb des Vereinigten Königreichs einzurichten, ohne ihre Rechtspersönlichkeit oder ihre Eigenschaft als Gesellschaft britischen Rechts zu verlieren. Nach dem anwendbaren britischen KöStG unterliegen nur die Gesellschaften der Körpersschaftsteuer, die ihren steuerlichen Sitz im Vereinigten Königreich haben. Der steuerliche Sitz ist als Ort des Sitzes der Geschäftsleitung definiert. Das britische KöStG von 1970 verbietet in Section 482 (1), (a) den Gesellschaften mit steuerlichem Sitz im Vereinigten Königreich, diesen Sitz ohne Zustimmung des Finanzministeriums aufzugeben.

Die Klägerin beantragte 1984 die vorgenannte Zustimmung zur Verlegung des Sitzes ihrer Geschäftsleitung in die Niederlande. Nach erfolglosen Verhandlungen erhob die Kläger im Jahre 1986 schließlich Klage zum High Court of Justice, Queen' s Bench Division. Dort machte sie geltend, die Artt. 52, 58 EWG-Vertrag (heute Artt. 43, 48 EG) gäben ihr das Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung ohne vorherige Zustimmung in einen anderen MS. zu verlegen, oder eine solche Zustimmung ohne Bedingungen zu erhalten. Der EUGH folgte dem nicht, sondern stellte fest, dass es keinen Anspruch auf identitätswahrende Sitzverlegung gäbe.[26]

Der überwiegende Teil der Literatur in Deutschland sah in dem Urteil eine Bestätigung der in Deutschland geltenden Sitztheorie.[27]

II. Die Rechtssache „Centros“

In der Entscheidung zur Rs. “Centros” vom 9.03.1999 (Rs. C-212/97)[28] hat der EUGH jedoch die Weigerung einer dänischen Behörde beanstandet, die Zweigniederlassung einer Gesellschaft im Handelsregister einzutragen, die im Vereinigten Königreich wirksam gegründet worden war. Es war sehr umstritten, welche Folgerungen aus dieser Entscheidung für die Anknüpfung im Falle einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung zu ziehen sind, weshalb eine sehr ausführliche und kaum zu überblickende Auseinandersetzung in der Literatur stattfand.[29]

Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung zu Grunde. Ein dänisches Ehepaar gründete in England die „Centros Private Limited Company“ mit Satzungssitz in England und einem Gesellschaftskapital von 100,- £ (Pfund). Ziel der Gründung war von Anfang an die Einrichtung einer Zweigniederlassung der Gesellschaft in Dänemark. Eine Geschäftstätigkeit in England war nicht beabsichtigt, es existierte lediglich eine Postanschrift. Offensichtliches Ziel war es, die dänischen Regelungen über das Mindestkapital von Kapitalgesellschaften (damals 200.000,- Kronen) zu unterlaufen.[30] Das dänische Handelsregister wendete zwar die Gründungstheorie an,[31] weigerte sich jedoch trotzdem, dem Antrag der Eheleute auf Eintragung der Zweigniederlassung in das dänische Handelsregister zu entsprechen und begründete dies mit dem Argument, es solle keine Zweig-, sondern eine Hauptniederlassung errichtet werden, was auf eine Umgehung der dänischen Vorschriften zum Mindestkapital hinausliefe.[32] Der EUGH sah in der Verweigerung einer Eintragung für die Zweigniederlassung einen Verstoß gegen die Artt. 43, 48 EG. Der EUGH stellt dazu zunächst fest: „dass Gesellschaften im Sinne des Art. 58 EGV unmittelbar aus den Artt. 52, 58 EGV das Niederlassungsrecht zustehe.“[33] Der Gemeinschaftsbezug sei ohne Weiteres gegeben, weil die Gesellschaft nach dem Recht eines anderen MS. gegründet worden sei.[34] Einer Gesellschaft, die nach englischem Recht gegründet wurde, steht das Recht auf Gründung einer Zweigniederlassung in Dänemark zu, auch wenn dies auf eine „Umgehung“ strengerer gesellschaftsrechtlicher Regeln des Zuzugsstaates hinauslaufe, denn in der Ausnutzung des Niederlassungsrechts an sich könne noch keine missbräuchliche Ausnutzung gesehen werden.[35] Das gelte auch dann, wenn die Gesellschaft ihre Geschäftstätigkeit ausschließlich im MS. der Zweigniederlassung ausübt. Der EUGH prüfte im Weiteren auch eine mögliche Rechtfertigung der dänischen Regelungen zum Mindestkapital,[36] lehnte jedoch die Vorschriften im Ergebnis als unverhältnismäßig ab, da die dänische Registerbehörde nach eigenem Vorbringen die Zweigniederlassung eingetragen hätte, wenn die „Centros Ltd.“ auch in England Geschäftstätigkeit entfaltet hätte; dann aber seien die Gläubiger genauso gefährdet wie in dem Fall, dass die Zweigniederlassung eingetragen wird. Die Maßnahme sei also schon ungeeignet für das erstrebte Ziel des Gläubigerschutzes.[37] Die grundsätzliche Frage, ob das Ziel des Gläubigerschutzes als Rechtfertigungsgrund taugt, lässt der EuGH in dieser Entscheidung noch offen.

III. Die Rechtssachen „Überseering“, „Inspire Art“ und „Sevic“

1. „Überseering“

In der Entscheidung zur Rs. „Überseering“ vom 05.11.2002 (C208/00)[38] hat der EUGH einerseits entschieden, dass der aufnehmende Mitgliedsstaat nach den Artt. 43, 48 EG verpflichtet ist, eine Gesellschaft hinsichtlich ihrer Rechts- und Parteifähigkeit so zu achten, wie dies dieser Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats zusteht,[39] andererseits aber auch bestimmte Feststellungen aus der Rs. „Daily Mail“ bekräftigt, was das Urteil besonders interessant machte und ebenfalls zu einer umfänglichen Diskussion führte.[40] Dem Ausgangsverfahren lag ein Vorlagebeschluss des BGH zugrunde. Die „Überseering BV,[41] eine Gesellschaft niederländischen Rechts mit beschränkter Haftung, hatte aus dt. Sicht ihren Verwaltungssitz von den Niederlanden nach Deutschland verlegt, da inzwischen zwei deutsche Privatpersonen sämtliche Geschäftsanteile der Klägerin erworben hatten und die Gesellschaft von Deutschland aus leiteten. Die „Überseering BV“ wollte ein Bauunternehmen aus werkvertraglicher Mängelgewährleistung gerichtlich in Deutschland in Anspruch nehmen. Im Einklang mit der damals h. M.[42] hatte das OLG Düsseldorf die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Klägerin sei als Gesellschaft niederländischen Rechts mit Verwaltungssitz in Deutschland nicht parteifähig. Der EUGH stellte zunächst klar, dass im vorliegenden Fall die Regeln, die Deutschland auf die Klägerin anwendet, nicht dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entzogen wären. Insbesondere ergibt sich nichts anderes aus Art. 293 EG. Es kann kein Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung der vollen Wirksamkeit der Artt. 43, 48 EG daraus abgeleitet werden, dass bis heute keine Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften auf der Grundlage des Art. 293 EG geschlossen worden ist.[43] Hinsichtlich der Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass von Richtlinien nach Art. 44 EG wird festgestellt, dass diese keinen Rechtssetzungsvorbehalt begründet.[44] Im Bezug auf das Urteil „Daily Mail“ wird festgestellt, dass diesem nicht die Aussage entnommen werden kann, die Frage der Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines MS. gegründet worden ist und welcher dort Rechtspersönlichkeit zuerkannt wird, unterliege nicht den Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit. Dies gilt selbst dann, wenn von dem Recht des MS. -in dem die Niederlassung ihren Sitz hat- angenommen wird (Zuzugsstaat), dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat.[45] Zum Vorliegen einer zulässigen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit wird festgestellt, dass ein Erfordernis, dieselbe Gesellschaft im Zuzugsstaat neu zu gründen, einer Negierung der Niederlassungsfreiheit gleichkomme.[46] Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass zwingende Gründe des Gemeinwohls, wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, nach Maßgabe des „4 Kriterien- Tests“ Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können,[47] eine Maßnahme jedoch wie die Aberkennung der Rechts- und Parteifähigkeit, kommt einer Reduzierung der Niederlassungsfreiheit auf Null gleich und bedeute in jedem Fall eine unzulässige Behinderung der Grundfreiheit.[48] Die Entscheidung führte in Deutschland zur Anwendung der Gründungstheorie für ausländische Zweigniederlassungen aus der EU beim Zuzug nach Deutschland.[49]

2. „Inspire Art“

In der Entscheidung zur Rs. „Inspire Art“ vom 30. 09. 2003 (C-167/01)[50] knüpft der EUGH unmittelbar an die Vorentscheidung „Überseering“ an. War dort die Reichweite des Kollisionsrechts, namentlich der sog. Sitztheorie, im Verhältnis zum EG-Recht ausgelotet worden, ging es nun um die Frage der Zulässigkeit sachrechtlicher Auflagen, denn das anwendbare Recht beurteilte sich vorliegend bereits nach dem Satzungssitz (Gründungstheorie).[51] Die Entscheidung klärt für den Zuzugsstaat, welcher Gestaltungsspielraum dem nationalen Gesetzgeber verbleibt, wenn die ausländische Gesellschaft einmal hinsichtlich der Rechts- und Parteifähigkeit anerkannt ist. Insbesondere dieser Aspekt führte wieder zu einer intensiven Auseinandersetzung in der Literatur.[52] In der Sache ging es um eine nach englischem Recht gegründete und dort registrierte private company limited by shares, [53] die ihre gesamte Geschäftstätigkeit in den Niederlanden ausübte. Die Handelskammer von Amsterdam beantragte beim zuständigen Kantongerecht die Eintragung eines Hinweises, dass es sich bei „Inspire Art“ um eine „formal ausländische Gesellschaft“ gemäß Art. 1 WFBV[54] handelt. Der EuGH lässt im Ergebnis nur diejenigen Vorschriften des WFBV bestehen, die sich als richtlinienkonforme Umsetzung der Publizitätsrichtlinie für Zweigniederlassungen[55] darstellen.

Zur Vereinbarkeit des WFBV mit der 11. Richtlinie trifft er im Wesentlichen drei Feststellungen: 1. stellt er klar, dass nationale Bestimmungen, die im Einklang mit EG-Sekundärrecht stehen, keine Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit darstellen,[56] 2. müssen die MS. das ihnen von einer Richtlinie eingeräumte Ermessen derart ausüben, dass ausländische Gesellschaften nicht gegenüber inländischen Gesellschaften benachteiligt werden,[57] 3. stellt der EuGH fest, dass die durch die 11. Richtlinie herbeigeführte Harmonisierung abschließend ist.[58] Somit ist jede darüber hinausgehende nationale Regelung im Sachrecht ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit.

[...]


[1] Presseerklärung des Referats Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BMJ am 23.05.2007, http://www.bmj.bund.de/enid/newsletter/ , Stand: 08/07.

[2] z.B. die Herabsetzung des Mindestkapitals, Gründungsvereinfachungen durch eine Mustersatzung und die Rückkehr zur Bilanzbetrachtung bei Gesellschafterdarlehen, u.v.m..

[3] S. 37 der Begründung zum RefE, http://www.bmj.bund.de/files//1236/RefE%20-MoMiG.pdf , Stand:08/07.

[4] Ausführlich dazu unter Pkt. D; Triebel/Otte, ZIP, 2006, 1321-1326; kritisch Flesner, NZG, 2006, 641 f.

[5] wie Fn. 1.

[6] 1954 gegründetes Sachverständigengremium zur Beratung des BMJ in Fragen des internationalen Privatrechts; mehr in Kegel/ Schurig, 205.

[7] Sonnenberger, RIW 2006, 4.

[8] Rs. Cartesio, Ersuchen des Szegedi Ítélőtábla; Ungarn, ABI. C. 165 vom 15.07.2006, 17.

[9] Bericht zur Konferenz unter: www.bdi.eu/company-law-cobference2007 (Stand 8/07)..

[10] EUGH, Rs. „Reyners“, Slg. 1974, 631, Tz. 42f; Rs. „Watson”, Slg. 1976, 1185, Rn. 16; Rs. „Kraus“ v. 31.03.1993, (C-19/92), Slg. 1993, I-1663,Tz. 29.

[11] EUGH, Urteil v. 11.07.1974 in der Rs. (8/74), „Dassonville“, Slg. 1974, 837, Tz. 5.

[12] EUGH, Urteil v. 20.02.1979 in der Rs. (120/78), „Rewe-Zentral“, Slg. 1979, 649.

[13] Wie vor 2. Leitsatz.

[14] EUGH, Urteil vom 24. 11.1993 in den verbundenen Rs. (C-267/91). und (C-268/91)., „Keck und Mithouard“, Slg. 1993, I-6097, Tz. 16.

[15] Tietje, § 10 II 3, 291, Rn. 19.

[16] Tietje, § 10 V 310, Rn. 62.

[17] vgl. BGHZ 116, 86, 88; 136, 254, 257; auch schon BGHZ 79, 374 (378 f)., MDR 1981, 561; Soergel- Hadding, vor § 705 Rn. 21; MüKo- Ulmer § 705 Rn. 128-136; Habersack, JuS 1993, 1 ff.; Hadding in FS-Rittner, 133, 134; Schwark in FS-Heinsius, 753 ff; Wiedemann in FS-Kellermann, 529 ff; Zöllner in FS- Gernhuber, 563 ff.

[18] Tietje, § 10 III 1, 303, Rn. 5, 48.

[19] „Kraus“ Fn.10 und EUGH, Urteil vom 15.05.1997, Rs. „Futura Participations SA“ (C-250/95), Slg. 1997, I-2471, 2500, Tz. 24; Euzw 97, 443.

[20] EUGH, Urteil vom 30.11.1995, Rs. „Gebhard“ (C-55/94), Slg. 1995, I-04165.

[21] Wie vor, jedoch Tz. 37 unter Bezugnahme auf Rs. „Kraus“, Fn. 19, Tz. 32.

[22] EUGH Urteil vom 27. 09. 1988, Rs. „Daily Mail”, (81/87), Slg. 1988, 05483; NJW 1989, 2186.

[23] Wie vor Tz. 18.

[24] Wie vor Tz. 19 und Tz. 24.

[25] Wie vor Tz. 21.

[26] Wie vor Tz. 24, 25.

[27] Rezeption der deutschen Jurisprudenz im Besprechungsspiegel markiert durch R 1.

[28] EUGH Urteil vom 9. 03. 1999, Rs. “Centros”, (C-212/97), Slg. 1999 Seite I-01459; NJW 1999, 2027.

[29] Rezeption der deutschen Jurisprudenz im Besprechungsspiegel markiert durch R2.

[30] Erik Werlauff, ZIP 1999, 867-870, BS-Nr. 259.

[31] Robert Freitag, EuZW 1999, 267-270, BS-Nr.- Nr. 67; Kieninger ZGR 1999,725-726, BS-Nr.- Nr. 123; Werlauff, BS-Nr.- Nr. 259; a. A. wohl Großfeld in Staudinger Rn. 154.

[32] Fn. 27, Tz. 23.

[33] Fn. 27, Tz. 20.

[34] Fn. 27, Tz. 27.

[35] Fn. 27, Tz. 27.

[36] Troberg in Groeben/Thiesing/ Ehlermann, Art 58, Rn. 9.

[37] Fn. 27, Tz. 35.

[38] Urteil vom 5. 11. 2002, „Überseering” (C-208/00), Slg. 2002 Seite I-09919.

[39] Wie vor Tz. 57.

[40] Rezeption der deutschen Jurisprudenz im Besprechungsspiegel markiert durch R3.

[41] „BV“ = „Besloten Vennootschap met beperkte aansprakelijkheid“.

[42] BGHZ 53, 181, 183; BGHZ 78, 318, 334.

[43] Fn. 37, Tz. 54.

[44] Wie vor Tz. 55.

[45] Wie vor Tz. 73.

[46] Wie vor Tz. 93.

[47] Wie vor Tz. 92.

[48] Wie vor Tz. 93.

[49] BGH, Urteil vom 13.3. 2003, VII ZR 370/98.

[50] Urteil vom 30. 09. 2003, „Inspire Art”, (C-167/01), AG, 2003, 680,

681, = Slg. 2003 Seite I-10155.

[51] Art. 2, Wet conflictenrecht corporaties, Staatsblad, 1997, 699.

[52] Rezeption der deutschen Jurisprudenz im Besprechungsspiegel markiert durch R4.

[53] „companies limited by shares“= Kapitalgesellschaft, bei der die Haftung der Gesellschafter auf ihre Einlage begrenzt ist gem. Companies Act 1985, jetzt in wesentlichen Teilen geändert durch den Companies Act 2006, der bereits ab 01.10.2007 in Teilen und vollständig bis zum 1.10.2008 in Kraft tritt; vgl. zur Rechtslage des CA 1985, Triebel/Hodgson/Kellenter/Müller, 215 f.; Diersmeier, 1996, 31.

[54]Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen” = Gesetz über formal ausländische Gesellschaften vom 17.12.1997, Staatsblad, 1997, 697.

[55] RL- Nr. 8.

[56] Fn. 49, Tz. 55–58.

[57] Wie vor Tz. 58–64.

[58] Wie vor Tz. 65–72.

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Niederlassungsfreiheit und Sitzverlegung von Gesellschaften nach MoMiG
Untertitel
Gesellschafts- und kollisionsrechtliche Darstellung der Sitzverlegungsmöglichkeiten deutscher Gesellschaften im Rahmen der Niederlassungsfreiheit unter Berücksichtigung des MoMiG
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
14
Autor
Jahr
2009
Seiten
59
Katalognummer
V135593
ISBN (eBook)
9783640417711
ISBN (Buch)
9783640409839
Dateigröße
714 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Daily Mail, Centros, Überseering, Inspire Art, SEVIC-Systems, Zuzugsfall, Wegzugsfall, Gründungstheorie, Sitztheorie
Arbeit zitieren
Raoul Kirmes (Autor:in), 2009, Niederlassungsfreiheit und Sitzverlegung von Gesellschaften nach MoMiG, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135593

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