Montagsdemos als Ausdruck einer neuen Wut?

Eine vergleichende Analyse der Montagsdemos von 1989 und 2008


Examensarbeit, 2008

116 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Theoretische Einführung
1.1 Begriffsklärung
1.2 Ursachen von sozialen Bewegungen
1.2.1 Gesellschaftliche Ursachen
1.2.2 Kollektives Handeln und individuelle Teilnahmemotivation
1.3 Typisierung sozialer Bewegungen

2 Betrachtung ausgewählter Bewegungen
2.1 Montagsdemonstration in der Deutschen Demokratischen Republik
2.1.1 Historische Ursachenbetrachtung
2.1.2 Einordnung in die Theorie
2.1.3 Darstellung der Vergleichserhebung von Mühler/Wilsdorf 1989
2.1.3.1 Das Instrument
2.1.3.2 Auswertung der Fragebögen
2.2 Aktuelle Montagsdemonstrationen
2.2.1 Historische Ursachenbetrachtung
2.2.2 Einordnung in die Theorie
2.2.3 Darstellung der Vergleichserhebung Rucht/Yang von 2004
2.3 Vergleichende Betrachtung der beiden Montagsdemonstrationsbewegungen

3 Darstellung der Befragung
3.1 Ziel der Untersuchung
3.2 Nachweis der gewählten Methode
3.3 Aufbau des Fragebogens
3.4 Pretest
3.5 Durchführung der Befragung
3.6 Auswertungsmethode

4 Ergebnisse der Befragung
4.1 Statistische Ergebnisse
4.1.1 Alter
4.1.2 Geschlechtsverteilung
4.1.3 Bildungsniveau
4.1.4 Verortung
4.1.5 Beschäftigungsstatus
4.1.6 Montagsdemonstration 1989
4.1.7 Themen der Montagsdemonstration 1989
4.1.8 Politische Aktivität 1989
4.1.9 DDR zurück
4.1.10 Teilnahme an den aktuellen Montagsdemonstrationen
4.1.11 Forderungen der aktuellen Montagsdemonstration
4.1.12 Individuelle Einstellungen
4.1.13 Politische Einstellungen
4.2 Hypothesenüberprüfung
4.3 Zusammenfassende Auswertung
4.4 Fehleranalyse

5 Schlussbetrachtung

6 Literaturverzeichnis

7 Abbildungsverzeichnis

8 Tabellenverzeichnis

9 Selbsterstellter Fragebogen

10 Statistische Tabellen zu der Auswertung unter 4. Statistische Ergebnisse
10.1 Alter
10.2 Geschlechtsverteilung
10.3 Bildungsniveau
10.4 Verortung
10.5 Beschäftigungsstatus
10.6 Montagsdemonstration 1989
10.7 Themen der Montagsdemonstration 1989
10.8 Politische Aktivität 1989
10.9 DDR zurück
10.10 Teilnahme an den aktuellen Montagsdemonstrationen
10.11 Forderungen der aktuellen Montagsdemonstration
10.12 Individuelle Einstellungen
10.13 Politische Einstellungen

11. Hypothesenüberprüfung
Hypothese 1
Hypothese 2
Hypothese 3
11.1 Nicht ausgewertete Fragen

Einleitung

Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sondern findet zu einem historischen Zeitpunkt, in einer bestimmten Entwicklungssituation der Gesellschaft, an einem bestimmten Ort und durch eine bestimmte Person statt (Friedrichs, 1980, 147). So ist es auch mit dieser Untersuchung.

Zunächst soll theoretisch geklärt werden, was unter einer sozialen Bewegung verstanden wird, und wie sie zustande kommt. Denn die Untersuchung beschäftigt sich mit einer aktuellen gesellschaftlichen Aktion. Da ein ähnliches gesellschaftliches Engagement für gesellschaftliche Veränderung vor noch nicht allzu langer Zeit (1989) in der Geschichte stattgefunden hat, ist es von Interesse Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Aktionen durch einen Vergleich herauszuarbeiten. Die theoretische Einführung soll hierfür eine Basis schaffen, auf der dann eine genauere Betrachtung der Montagsdemonstrationen von 1989 und der Montagsdemonstrationen von 2008 erfolgen wird. Des Weiteren habe ich eine Untersuchung der Montagsdemonstrationen von 2004 in der Literatur gefunden, die ich vergleichend heranziehe.

Hierzu werden beide Montagsdemonstrationen im historischen Kontext dargestellt, in die zuvor vorgestellte Theorie eingeordnet und dann verglichen. Sozialwissenschaftlich wurden die Montagsdemonstrationen bisher nur zur Zeit der größten Teilnehmerbeteiligung untersucht, 1989 und 2004. Eine Einordnung der aktuellen Montagsdemonstrationen in die Theorie konnte ich in der Literatur nicht finden, sodass ich diese selbstständig entwickelte.

In meiner Erhebung beschäftige ich mich mit den Unterschieden und Ähnlichkeiten der Montagsdemonstrationen. Es werden jedoch auch Theorieannahmen über die Beteiligungsgründe überprüft, wie z.B. die Annahme der Wut als Motivation teilzunehmen. Dies geschieht über Hypothesenbildung, die ich durch eine eigene empirische Erhebung (Befragung) überprüfen werde, was dann Aussagen über die aktuelle Montagsdemonstration zulässt. Die empirischen Untersuchungen von 1989 und 2004 berücksichtige ich vergleichend.

Ein Ende der aktuellen Montagsdemonstrationen ist den Aktivisten zu Folge nicht abzusehen, so ist eine weitere Forschung zu dem Thema möglich.

1 Theoretische Einführung

1.1 Begriffsklärung

Die Begriffsklärung von „neuen sozialen Bewegungen“ ist nicht so schnell abgeschlossen, wie bei der Darstellung einer Definition angenommen werden könnte. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Begriff „soziale Bewegung“ von mindestens drei geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen gebraucht wird. Diese sind die Geschichtswissenschaft, die Politologie und die Soziologie (Wilkinson, 1974, 9ff). Selbst innerhalb einzelner Disziplinen gibt es keinen Konsens zur Nutzung des Wortes (Wilkinson, 1974, 18). Ganz allgemein kann gesagt werden, dass der Begriff „Bewegung“ einen anhaltenden Wandel darstellt, in den er mündet (Raschke, 1988, 117). Durch das Hinzufügen des Adjektivs „soziale“ wird ausgedrückt, dass gesellschaftliche Kräfte eingreifen, wo sie ihre Bedürfnisse und Interessen blockiert sehen (Raschke, 1988, 11).

Die Historiker nutzen den Begriff zum einen für „kollektive Handlungstendenzen“ (Raschke, 1988, 76), da er den Beiklang von Dynamik, Stärke und Kraft assoziiert und zum anderen im Zusammenhang mit der Idee der politischen Demokratie (Wilkinson, 1974, 9). So stellt Wilkinson fest, dass der Begriff „Bewegung“ eine gewisse Autonomie impliziert, die den Anschein erweckt, eine aus sich selbst hervorgegangene und unabhängige Tätigkeit zu sein. Des Weiteren schließt er Kontrolle und Führerschaft, einen Organisationsmechanismus und disziplinierte Gefolgschaft, anstelle einer ungebändigten, anschwellenden Menge ein. Dabei haftet ihm der Beiklang von Würde, Rang und Selbstsicherheit an (Wilkinson, 1974, 10). Für den Soziologen Rucht ist der Begriff hauptsächlich positiv besetzt, da er meist mit Massenhaftigkeit, Kraft und Dynamik assoziiert wird (Rucht, 1994, 76).

Die Politologen hingegen verwenden den Begriff „soziale Bewegung“ in einer Weise, die sich kaum gegen Wörter wie Organisation, Assoziation, Gruppe oder Union abhebt (Wilkinson, 1974, 13). Sie neigen dazu die „soziale Bewegung“ von ihrer historisch einflussreichen Wirkung her zu sehen (Raschke, 1988, 76). Dabei schwingt mit dem Bewegungsbegriff schon fast der historische Wandel mit. Somit wird aus der Sicht der Politologen der soziale Wandel als Ursache und Funktion der „sozialen Bewegung“ betrachtet (Raschke, 1988, 18).

In den Sozialwissenschaften wird Bezug auf die Definition von dem Soziologen Raschke genommen. Er schreibt:

„Soziale Bewegung ist ein kollektiver Akteur, der in den Prozess sozialen bzw. politischen Wandels eingreift.“ (Raschke, 1988, 76).

Mit kollektivem Akteur meint Raschke einen die Individuen einbindenden kollektiven Handlungszusammenhang, der sie aktiv in den Lauf der Dinge eingreifen lässt (Raschke, 1988, 76). Das Ziel der sozialen Bewegung ist es Einfluss zu nehmen, wobei hier der Akteur nicht durch eine spezifische Organisationsform charakterisiert werden kann. Die Akteure artikulieren ihre Interessen, obwohl ihnen der Zugang zur institutionalisierten Macht versperrt ist (Haunss, 2005, 30). Der Akteur soll auch keine Einheitlichkeit der sozialen Bewegung vortäuschen. Vielmehr sind in einer Bewegung meist eine Vielfalt von Tendenzen, Organisationen und Aktionseinsätzen zu erwarten (Raschke, 1988, 77). Raschke stellt weiterhin fest, dass die Ziele der Bewegung nicht unbedingt revolutionärer Art sein müssen. Das bedeutet, dass sie nicht das bestehende Gesellschaftssystem komplett umstürzen, sondern dass die Handlung von sozialen Bewegungen immer darauf gerichtet ist mehr oder minder relevante Strukturen der Gesellschaft zu verändern. Daraus ist zu schlussfolgern, dass die Definition von „sozialen Bewegungen“ zwei grundlegende Aspekte beinhalten muss: zum einen sollte sie etwas über die Struktur der sozialen Gruppe aussagen und zum anderen über deren Ziele (ebenda).

Die sehr ausführliche Begriffserklärung von „neuen sozialen Bewegungen“ durch Raschke stellt meines Erachtens die „Vieldimensionalität“ (Wilkinson, 1974, 25) von sozialen Bewegungen am prägnantesten dar. Da diese Definition alle bisher genannten Aspekte vollständig zusammenfasst, habe ich sie als Arbeitsgrundlage gewählt:

„Soziale Bewegungen sind bewusste kollektive Anstrengungen zur strukturellen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie umfassen einen Prozeß, der von strukturell verursachter Unzufriedenheit von Großgruppen zu kollektiven Aktionen führt, mit denen die Bewegung einer tendenziell feindlichen Umwelt gegenübertritt. Um in dieser Außenbeziehung handlungsfähig zu sein, muß das Kollektiv Ziele definieren, die dem Handeln eine Richtung geben, und Ressourcen mobilisieren, weil Ziele sich nicht ohne Macht durchsetzten.“ (Raschke, 1988, 117).

Soziale Bewegungen sind neben Parteien und Verbänden eine eigenständige politische Organisationsform (Raschke, 1988, 266). Sie unterscheiden sich von anderen kollektiven Akteuren wie z.B. Parteien dadurch, dass sie kein festgelegtes Programm haben und eine informelle, netzartige Organisationsstruktur besitzen. Sie verfolgen ihre Ziele nicht mit staatlichen Instrumentarien und bringen sich deshalb unkonventionell in den politischen Prozess ein (vgl. Raschke, 1987, 21 bei Lange, 2005, 43).

Im Folgenden soll die Frage geklärt werden, worin das „Neue“ der neuen sozialen Bewegungen besteht. Soziale Bewegungen sind schon seit der Bildung gesellschaftlicher Formationen bekannt. Meist thematisieren sie ein Kollektivgutproblem, wie z.B. die Sicherung der natürlichen Umwelt. Der Begriff „neue soziale Bewegung“ impliziert zwei Aussagen: Zum Einen, dass sie sich näher an der Gegenwart befindet, in der es eine andere gesellschaftlich-politische Aktivität gibt, als zuvor. Zum Anderen, dass diese gesellschaftlich-politische Aktivität gegenüber ihren historischen Vorläufern ihren grundlegenden Charakter verändert haben muss (Nelles, 1983, 83). Für Raschke beginnen neue soziale Bewegungen mit den Bewegungen der 60er Jahre und entfalten ihren Höhepunkt bis in die 80er Jahre. Raschke unterscheidet die „alte“ Arbeiterbewegung und die „neuen“ Bewegungen durch bestimmte Merkmale. Er nennt das Fehlen von einheitlichen und geschlossenen Ideologien, die thematische Vielfalt und den raschen Issuewechsel, als Merkmale. Er stellt einen geringen Grad an organisatorischen Strukturen und eine Abneigung gegen Führerstrukturen fest (Raschke, 1988, 412). Die gesellschaftlich veränderten Probleme führen zu ebenso veränderten Zielvorstellungen, sodass von „neuen“ sozialen Bewegungen auch neue Ziele formuliert werden (Nelles, 1983, 83). Die „neuen sozialen Bewegungen“ nach dem zweiten Weltkrieg zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Teilnehmer überwiegend aus dem Mittelstand kommen, und nicht mehr hauptsächlich von dem Klassendenken einer Arbeiterbewegung ausgehen. Eine grundlegendere Kritik an der gesamten Gesellschaftsordnung fand nicht mehr zwingend statt und zudem wurden die sozialen Bewegungen nicht unbedingt von neuen Gesellschaftsbildern/Ideologien getragen (Haasken et al., 1986, 182). Die „neuen sozialen Bewegungen“ richteten sich meist nur gegen bestimmte Teile des politischen Systems oder gegen einzelne politische Entscheidungen. Ein gutes Beispiel dafür sind Bürgerinitiativen, die bestimmte Errungenschaften in ihrer Umgebung sichern wollen, wie z.B. den Erhalt von Bäumen. Ein weiteres Beispiel ist die Ostermarschbewegung, die das Ziel der Abrüstung hatte um den Frieden zu sichern, ohne dass sie die Auflösung der beiden politischen Systeme in Deutschland vertrat. Die „neuen sozialen Bewegungen“ bauten sich vielfach nicht als eine dem demokratischen Staat konträr gegenüber stehende Bewegung auf (Haasken et al., 1986, 183). Zudem stellten sie die bestehenden Machtstrukturen nicht grundlegend in Frage (Haasken et al., 1986, 192).

Die „neuen sozialen Bewegungen“ blieben alle voneinander unabhängig auf ihr Themengebiet beschränkt. Nur wenige Akteure beteiligten sich an weiteren Bewegungen. Eine Strömung schaffte es, sich mit der Gründung der Partei „Die Grünen“ zu institutionalisieren und verlagerte damit den Protest erfolgreich von der außerparlamentarischen Ebene in das politische System der Demokratie (Haasken et al., 1986, 189). Ein sehr wichtiger Aspekt, auf den der Soziologe Kern hinweist, besteht darin, dass die aktuelle soziale Bewegung nicht mehr rein national begrenzt agiert, sondern sich global organisiert. Als Beispiel kann hier die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg genannt werden, bei der am ersten Angriffstag (15.02.2003) gegen den Irak weltweit demonstriert wurde (Kern, 2008, 15). Damit sind soziale Bewegungen in vielen Regionen der Welt zum integrativen Bestandteil des politischen Alltags geworden (Haunss, 2005, 33).

Rucht hat in seiner Übersicht die historische Entwicklung von Bewegungen auf mehreren Ebenen sehr gut nachvollziehbar zusammengefasst. In der Spalte „Neue soziale Bewegungen“ sind die oben dargestellten Gründe schlagwortartig aufgeführt. Die Tabelle ermöglicht eine detaillierte Übersicht über die historischen Bewegungen in Verbindung mit unterschiedlichen Ebenen einer sozialen Bewegung. In ihr können die Argumente in Bezug auf das Wort „Neu“ bei dem Begriff „soziale Bewegungen“ nachvollzogen werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Zusammenstellung über die Entwicklung von sozialen Bewegungen

Quelle: selbst erstellt nach Rucht, 1994, 151.

Es besteht jedoch in der Wissenschaft keine Einigkeit über die oben von Rucht und Haasken ausgeführten Argumente zum Begriff der „neuen sozialen Bewegung“. Brand definiert die „neuen sozialen Bewegungen“ als ablehnend gegenüber hierarchischen Strukturen und gegenüber dem Stellvertretertum. Sie versuchen jedoch durch die Ablehnung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen eine alternative Form zu gesellschaftlichen Verhaltensmustern aufzubauen (Brand, 1987, 33-34). Brand ordnet den Begriff „neue soziale Bewegungen“ den Bewegungen seit den 68ern zu. Rink hingegen schlägt aus seinem Verständnis heraus vor das Adjektiv „neu“ erst zur Charakterisierung der sozialen Bewegungen von 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu nutzen, da es für ihn dort zuvor noch keine sozialen Bewegungen gegeben hatte (Rink, 1999, 180). Meiner Meinung nach lässt Rink damit jedoch die Friedens- und Umweltbewegung als soziale Bewegung außer Acht, deren Einordnung aus seinem Aufsatz nicht hervorgeht.

Ich stimme Rucht und Haaskens Verständnis zur Definition des Begriffs „neue soziale Bewegung“ zu. In ihrem Begriffsverständnis Berücksichtigen sie eine Zeitdimension, stellen aber auch eine inhaltliche Veränderung der Bewegung fest. Diese Aspekte belegen beide meiner Meinung nach mit überzeugenden Aussagen, sodass ihre Argumentation schlüssig und vollständig erscheint. Die anderen angeführten Wissenschaftler begründen für mich ihre Argumente nicht ausreichend, sie erscheinen mir nicht durchdacht genug und damit auch nicht überzeugend.

1.2 Ursachen von sozialen Bewegungen

1.2.1 Gesellschaftliche Ursachen

Die Überlegungen zur Entstehung sozialer Bewegungen, die bis zum Wechsel von politischen Verhältnissen führen können, haben ihren Ursprung in der griechischen Antike. Die griechischen Philosophen sahen die Kohäsion der Eliten und die damit verbundenen instrumentellen Verfügungsgewalten des Repressionsapparates als wichtige Bedingung für die Vermeidung von sozialen Bewegungen. Heute würde von einer fehlenden Elitenlegitimation gesprochen werden. Raschke bezeichnet diese Ausgangslage als einen strukturanalytischen Ansatz, da davon ausgegangen wird, dass ohne strukturelle Gründe keine Unzufriedenheit entsteht (Raschke, 1988, 126). Aber auch wirtschaftliche Instabilitäten führen zu sozialen Bewegungen, die einen Systemwandel nach sich ziehen können. Jeder Regierungsreform oder Revolution geht immer ein innerer Dissens der herrschenden Eliten voraus, der es möglich macht die bestehende Ordnung zu verändern. Tritt die herrschende Elite mit einer geschlossenen Auffassung auf, ist die Mobilisierung zur Veränderung nicht so leicht, egal wie unterschiedlich das Größenverhältnis der jeweiligen Gruppen ist (Kitschelt, 1999, 153). Je größer die soziale Bewegung wird, desto schwieriger wird es für die Politiker die Handlungen der Bewegung abzuschätzen, was sie in eine schwierige Lage versetzt (Kern, 2008, 48). Gerade in instabilen Situationen können Missverständnisse zu Fehlverhalten führen (ebenda, 49). In der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie wird davon ausgegangen, dass sich soziale Bewegungen insbesondere dann bilden, wenn die Steuerungs- und Vermittlungsinstanzen bei der Bearbeitung von fundamentalen Problemen versagt haben (Raschke, 1988, 135). Es wird aktuell ein Systemvertrauensverlust und eine schwindende Akzeptanz demokratischer Entscheidungen festgestellt, da die Erwartungen der Einbeziehung der Interessen von Minderheiten in politische Prozesse in der Vergangenheit enttäuscht wurde und eine Verwirklichung ihrer Forderungen nicht erkennbar war (Feindt, 2001, 256).

Als Ursachen von sozialen Bewegungen können Fehlentwicklungen im gesellschaftlichen Gefüge herangezogen werden. Soziale Bewegungen nehmen eine Perspektive ein, der gegenüber das System blind ist, und publizieren diese dann (Kern, 2008, 182). Diesen Ansatz verfolgen die historisch näher liegenden bekanntesten Ideologien von Jean-Jacques Rousseau und Karl Marx, mit denen indirekt eine Erklärung dafür gegeben wird, wie es zur Entstehung von sozialen Bewegungen kommt, diese hier näher auszuführen würde den Rahmen der Arbeit sprengen.

Gesellschaftliche Umbrüche können als Ursprung für das Entstehen von sozialen Bewegungen angesehen werden. Inhaltlich verkörpern die heutigen sozialen Bewegungen kaum etwas, was nicht schon vorgedacht oder entwickelt ist (Rucht, 1999, 19). Sofern das Bestimmungsmerkmal von sozialen Bewegungen in der Intention besteht, die Gesellschaft neu zu gestalten (Rucht, 1999, 16), können für unsere Gesellschaft unterschiedliche Ausgangspunkte festgestellt werden. In unserer modernen Gesellschaft führen Entkopplungstendenzen zwischen Staat/Parteien und Zivilgesellschaft oft zu sozialen Bewegungen (Klein, 1999, 9). Die Entkopplungstendenzen werden von Roth mit politischer Patronage, Selbstbedienung und wachsender Korruptionsdichte beschrieben, was zu einem allgemeinen Vertrauensschwund in Politiker und zu politischen Parteien führt (Roth, 1999, 57). Hier durch entsteht eine aktive Bürgerschaft, die den demokratischen Protest als Komplement und/oder Korrektiv der repräsentativen Machtausübung organisiert (ebenda). Dabei besteht die typische Funktion der modernen sozialen Bewegungen nicht mehr in der Durchsetzung großer institutioneller Innovationen, wie z.B. dem Grundrechtskatalog, sondern aus einer dauerhaften Einmischung in die Politik (Rucht, 1999, 19). Die Möglichkeit der partizipatorischen Beteiligung der Bevölkerung an staatlichen Entscheidungen, führt zu einer Verringerung der sozialen Bewegungen und kann dazu beitragen, die Bildung von sozialen Bewegungen zu verhindern (Raschke, 1988, 145). Durch die komplexer werdende Gesellschaft steigt die Anzahl der Themen und Anlässe, sich an sozialen Bewegungen zu beteiligen, was dazu führt, dass in der Gesellschaft soziale Bewegungen immer mehr auf die Akzeptanz der Bürger stoßen (Kern, 2008, 15). So sind hier weiterhin globale Umweltthemen zu nennen, wie der Kampf zum Erhalt des Urwaldes oder des Erhalts des Lebensraums in der Polarregion, aber auch lokale Themen, wie der Erhalt der Bibliothek im Bezirk. In der Umfrageforschung kam heraus, dass die Gruppe der noch nie an einer Bewegung beteiligten Menschen immer mehr schrumpft (Rucht, 2001, 10), was eine ständig steigende Professionalisierung der sozialen Bewegungen zur Folge hat (Kern, 2008, 15).

Die neuen sozialen Bewegungen arbeiten mit einer starken partizipativen Öffnung von Verhandlungs- und Beratungsprozessen für alle Beteiligten. So wird in einer Mieterinitiative keine Hierarchie mehr praktiziert, sondern die Mitglieder arbeiten gleichgestellt mit. Die Teilnehmer verstärken ihre Partizipation, indem sie es nicht zulassen, dass sich Führer herausbilden (Feindt, 2001, 257). Das stärkere Verständnis „des Selbermachens“, drängt das Stellvertreter-/Führerverständnis beiseite und führt z.B. zu einer verstärkten Beteiligung auf der kommunalpolitischen Ebene, wie das z.B. bei dem Bürgerhaushalt in Berlin-Lichtenberg der Fall ist (Feindt, 2001, 258). Eine weitere Ursache kann die „Unregierbarkeit“ (Roth, 1999, 49) sein, was bedeutet, dass die Bürger ihren „Ungehorsam“ gegenüber der Politik in Form von sozialen Bewegungen zum Ausdruck bringen. Diesen Sachverhalt haben schon die Philosophen der Antike formuliert. In diesem Fall sind die Bürger mit dem Output der Politiker nicht mehr zufrieden und wollen darum ihre Interessen notfalls mit Druck selbst durchsetzten, wie das z.B. in der Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahren der Fall war. Eine Häufung von gleichgerichteten Problemen kann zu einer Radikalisierung in der Bewegung führen (Raschke, 1988, 145). Sowohl die Ziele als auch die Ursachen neuer sozialer Bewegungen sind in die Ursachenanalyse der Entstehung einzubeziehen, wie z.B. Missstände und Motive (Raschke, 1988, 125).

Unter der „Entgrenzung des Politischen“ (Roth, 1999, 50) versteht Roth die Aufhebung von starren Grenzen zwischen politischen und privaten Themenbereichen/Themenfeldern. So schaffte es die Frauenbewegung durch diese Entgrenzung, die im privaten/intimen und öffentlichen Bereich ausgeübte männliche Gewalt zu verändern. Diese Entgrenzung führte zu neuen Themen in den Politikbeständen, wie z.B. in der Frauenpolitik oder in der Umweltpolitik (ebenda). Die Möglichkeiten der eigenen Partizipation wurden eingefordert und genutzt (Roth, 1999, 55).

1.2.2 Kollektives Handeln und individuelle Teilnahmemotivation

Bewegungen müssen nicht durch Parteien oder Organisationen und/oder deren Akteure präsent sein, um in eine Interaktion mit dem Rest der Gesellschaft zu treten (Raschke, 1999, 84). Raschke stellt fest, dass die Aussage eine weit verbreitete, scheinbar selbstevidente Annahme voraussetzt, die darin besteht, dass soziale Bewegungen durch Unzufriedenheit entstehen und zusammengehalten werden. Doch ist dies kein Automatismus, denn es entstehen weit weniger soziale Bewegungen, als es Unzufriedenheit gibt (Raschke, 1988, 146). Eine Bewegung entsteht nur dann, wenn Unzufriedenheit gebündelt in kollektivem Handeln vereint wird. So kann ein Wertewandel, Betroffenheit, Identifizierung mit den Betroffenen, Wut über Entscheidungen, die nicht beeinflusst werden können oder eine kollektive Umorientierung zu einem Grad an Unzufriedenheit führen, der in kollektives Handeln mündet (Raschke, 1988, 153). Kollektives Handeln muss mit Solidarität verbunden sein, sodass jedes Mitglied sich als Teil einer sozialen Einheit fühlt und diese weiterhin erhalten möchte. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Kompromisse geschlossen werden können. Diese soziale Einheit wird, z.B. durch das Überschreiten von Grenzen, die als verträglich gelten, hergestellt (Melucci, 1999, 115), und auch weil die Akteure davon ausgehen, dass die Verwirklichung des Ziels allen zugute kommt (Kern, 2008, 112). Die Akteure behandeln die soziale Ordnung so, als wenn sie ein Produkt ihres Willens wäre und beziehen sich dabei auf die Idee der Selbstbestimmung (Kern, 2008, 57). Die Motivation zur Partizipation an kollektivem Handeln ist für jedes Individuum unterschiedlich: Entweder ist das Ziel der Bewegung als erfolgreich einzustufen oder der einzelne Akteur hat von seiner aktiven Teilnahme einen Vorteil (Melucci, 1999, 123). Dies besagt, dass kollektives Handeln durch politische Vermittlung oder Entscheidung niemals voll repräsentiert werden kann, da die Beweggründe für aktive Beteiligung an einer Bewegung zu vielfältig und individuell unterschiedlich sind (Melucci, 1999, 127). Die existierenden Entscheidungsverfahren und institutionellen Arrangements komplexer Gesellschaften konnten bisher die Forderungen neuer sozialer Bewegungen nicht voll repräsentieren (Melucci, 1999, 130). Dies enttäuscht die Akteure oft, sodass ein erneutes Engagement nur durch besonders starke Gefühle, wie Empörung oder Betroffenheit hervorgebracht werden kann (Raschke, 1999, 77). Die unterschiedlichen Motivationsgründe der Mitglieder von sozialen Bewegungen können wert-rational, affektuell-emotional, traditional, oder zweckrational sein. Dabei kann gesagt werden, dass der Nutzen jedes Einzelnen mit der Anzahl der Beteiligten zunimmt. Je mehr Menschen sich der Bewegung anschließen, desto größer ist demnach der Nutzen Aller (Kern, 2008, 115). Die jeweiligen Beweggründe der Einzelnen müssen auch auf der Mikroebene festgestellt werden (Raschke, 1988, 106). Die Kosten-Nutzen-Annahme stammt aus der Rational Choice Theorie, die besagt, dass die Teilnahme von dem Abwägen dieser beiden Faktoren abhängt. Des Weiteren besagt sie, dass die Bewegungen zwar von Organisationen unterstützt werden, was jedoch durch das Eingreifen des Staates beeinflussbar ist, wie z.B. durch die Erhebung von Gebühren zur Durchführung von Informationsständen. Weiterhin besagt sie, dass zur Mobilisierung von Ressourcen ein Mindestmaß an sozialer Koordination benötig wird (Kern, 2008, 122), was wieder auf die Annahme, dass kollektives Handeln mit Solidarität verbunden ist, schließen lässt. Die gemeinschaftlich erlebten Momente führen zu sozialer Anerkennung, Freundschaft und Befriedigung von Aktionsbedürfnissen, sodass die Teilnahme viele positive Gefühle freisetzt (Raschke, 1988, 202). Hinzu kommt, dass ein schneller Aufstieg und ein genauso schneller Absturz der Bewegungen in den Medien auf die Teilnehmer eine Auswirkung hat, die entweder zur Motivation beitragen kann, oder sich nachteilig auf die Bewegung auswirkt. So üben die Medien einen direkten Einfluss auf die Motivation der Akteure aus (Raschke, 1999, 70). Meistens ist in jeder sozialen Bewegung eine theoretische Erklärung der gesellschaftlichen Probleme vorherrschend. Aber ohne die Mitwirkung wenigstens eines Teils der Aktiven an der Zieldefinition, deren Aneignung und deren Vermittlung, sind neue soziale Bewegungen nicht funktionsfähig (Raschke, 1988, 87). Die Mehrzahl der Aktivisten beteiligt sich an sozialen Bewegungen, wenn sie gewaltfrei sind, eine dramatische Symbolik nutzen und den Rahmen des zivilen Ungehorsams nicht verlassen. Sie stehen im Zusammenhang mit der Politikverdrossenheit und den Krisen der Massenparteien, in den westlichen Demokratien. Die Beteiligung erfolgt aus einer Suche heraus nach alternativen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten in den Demokratien (Kern, 2008, 55-56), was die Aussage von Raschke stützt, die besagt, dass soziale Bewegungen meist eine theoretische Erklärung der gesellschaftlichen Probleme haben (Raschke, 1988, 87).

Das Aktivwerden in sozialen Bewegungen bedeutet nicht mehr sich lebenslang an eine Bewegung zu binden, sondern kann situationsabhängig erfolgen (Rucht, 1999, 20). Die Bewegungen der heutigen Gesellschaft haben sich derart spezialisiert, dass das individuelle Engagement nach sehr punktuellen und individuellen Interessen durchgeführt werden kann. Dabei spielen nicht immer die Inhalte als Hauptmotivation eine Rolle. So kann jedes Mitglied auf seine Weise etwas in die Bewegung einbringen: z.B. durch Spendengelder ohne aktive Selbstbeteiligung in der Bewegung oder durch die Organisation spektakulärer, medienwirksamer Aktionen oder durch die Übernahme der Gestaltung der Plakate, die über Ziele und Inhalte der Bewegung aufklären sollen (Rucht, 1999, 23).

In der nachstehenden Grafik hat Rucht die einzelnen relevanten Ebenen des Handelns und die in ihnen möglichen Bewegungen sehr prägnant zusammengefasst. Er hat in die Tabelle die oben dargelegten Argumente übersichtlich zusammengestellt und die Erklärungstheorien für soziale Bewegungen eingefügt, die anzeigen in welcher soziologischen Erkenntnistheorie sie eingeordnet werden können. Als eine Art Zusammenfassung stelle ich die Tabelle hier dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Die verschiedenen Handlungsebenen in sozialen Bewegungen

Quelle: Teildarstellung nach Rucht, 1994, 48.

1.3 Typisierung sozialer Bewegungen

Die Bewegungsforschung ist noch eine junge Forschung, deren unterschiedliche sozialwissenschaftliche Entwicklung in Nord-Amerika und in Europa sich erst seit Kurzem aufeinander beziehen. In die europäische Bewegungsforschung sind gesellschaftstheoretische Ansätze der soziologische Klassiker, vor allem Marx eingeflossen, während die Bewegungsforschung in den USA stärker von der europäischen Massenpsychologie beeinflusst wurde, die erklärt, wie es zu kollektivem Handeln kommt (Rucht, 1994, 71). In der Literatur ist die Rede von einem niedrigen Forschungsgrad, der dazu führt, dass die Bewegungstypen nicht gut abgegrenzt und vereinheitlicht sind (Raschke, 1988, 105).

Typologien haben eine strukturierende, instrumentalisierende Funktion. Sie ordnen den Gegenstand nach einigen markanten Dimensionen (Raschke, 1988, 105). Je nach den Ausgangskriterien für eine Typologie kann entweder die angestrebte Veränderung als strukturierendes Merkmal angeführt werden oder die in der Ausgangslage vorherrschenden Bedingungen. Es können aber auch Anhaltspunkte im Persönlichen oder in der Struktur der Gesellschaft angesetzt werden. Oder die strategische Ausrichtung der sozialen Bewegung wird zum Kriterium: das Ziel der Reform oder der Revolution. Entweder herrscht in der Bewegung eher die Konsensbildung oder die Konfliktbereitschaft vor. Beides kann als Ansatzpunkt für die Definition einer Typologie dienen.

Es kann gesagt werden, dass Bewegungstypen ausgehend von den Ursachen, nach ihrer inneren Struktur und nach ihrer Wechselwirkung mit dem Rest der Gesellschaft klassifiziert werden können. Die konservative oder progressive ideologische Prägung der Bewegung und deren offensive oder defensive Forderungen, können ebenfalls als Ansatzpunkte genutzt werden. Alle diese Ansatzmöglichkeiten sind auch in Kombination miteinander möglich (Rucht, 1994, 82). Doch bleiben die Theorien sozialer Bewegungen mit Blick auf die grundlagentheoretischen Entscheidungen und Erklärungsansprüchen meist unscharf (Rucht, 1994, 74). Die erhöhte Komplexität der Gesellschaft vereinfacht es nicht gerade die Unschärfe der Typologien zu beseitigen (Kern, 2008, 26).

Die oben genannten Versuche soziale Bewegungen zu typisieren, hält Raschke jedoch nicht für sonderlich gelungen, da sie zu stark analytisch vorgehen und die komplexen historischen Zusammenhänge außer Acht lassen (Raschke, 1988, 107). Er schlägt daher einen historisch-systematischen Ansatz vor, da in ihm die Kontextabhängigkeit besonders ersichtlich wird. In bestimmten Entwicklungsphasen bilden - Raschke zufolge - die Bewegungen interdependente Merkmalskonstellationen aus, die besonders in den Dimensionen der Mobilisierung und des Problembezugs auftreten. Damit begründet Raschke seine Überlegung das geschichtliche Beziehungsgeflecht nicht zu zerschneiden, um es dann in einzelnen Merkmalen kombiniert wieder hinzuzufügen (Raschke, 1988, 109). Er setzt die Bewegungstypologisierung in drei geschichtlich unterschiedlichen Entwicklungsphasen an: der vorindustriellen (bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), der industriellen (Kapitalismus als bestimmende gesamtgesellschaftliche Struktur) und der nachindustriellen (nach 1960) Phase (Raschke, 1988, 110).

Jede Entwicklungsphase ist durch ihre jeweils prägnanten, zentralen gesellschaftlichen Widersprüche in Form ihrer dominanten Bewegungen gekennzeichnet, was eine Beeinflussung jedoch nicht ausschließt. Abgesehen von ihrer historischen Verortung sind soziale Bewegungen durch ihre strategischen Grundintentionen charakterisiert. Sie haben somit einen engen Zusammenhang mit den Mobilisierungs- und Aktionsformen. Raschke unterteilt die Bewegungen nach macht- und kulturorientierten Bewegungen. Unter machtorientierten Bewegungen versteht Raschke “politische und/oder sozioökonomische Subsysteme“ (Raschke, 1988, 110), die im Vordergrund ihres Interesses die Erringung der staatlichen politischen Macht haben. Machtorientierte Bewegungen werden durch Theorien untermauert, in der ihre Anhänger Lösungen der Protestursachen sehen. Machtorientierte Bewegungen, die gesellschaftspolitisch relevant sind, sind immer Massenbewegungen (Raschke, 1988, 230). Machtorientierte Bewegungen nutzen Krisen zur Anhängermobilisierung und daraus folgend nutzen sie diese zur Veränderung der Machtverhältnisse (Raschke, 1988, 364).

Hingegen werden die kulturorientierten Bewegungen primär durch Werte- und Verhaltensänderungen bestimmt (Raschke, 1988, 231) und sind darauf ausgelegt Selbsthilfe zu geben (Raschke, 1988, 178), wodurch ihr Handeln im soziokulturellen Bereich angesiedelt werden kann. Sie bringen meist einen Wertewandel in der Gesellschaft zustande. Da es bei ihnen jedoch nicht immer nur um die Veränderung von Werten geht, wäre hier der Begriff wertorientierte Bewegung nicht angebracht (Raschke, 1988, 112). Einige Bewegungen vermischen diese klare Trennung und enthalten dann sowohl macht- als auch kulturorientierte Elemente, was klar aus der im Folgenden abgebildeten Tabelle hervorgeht (Raschke, 1988, 114).

Die nachstehende Abbildung soll anhand von konkreten Beispielen von bekannten Bewegungen die beiden Unterscheidungsarten nach Raschke verdeutlichen. Dazu werden die Bewegungen nach ihrem zentralen Medium zur Zielverfolgung unterteilt: Der Macht- und der Kulturorientierung (Raschke, 1988, 110).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Durch den Schwerpunkt das kollektive Handeln als Ausgangspunkt der Bewegungstypologisierung zu sehen, ergeben sich in der US-amerikanischen Forschung andere Ansätze von Typologien, als die von Raschke. Die unterschiedlichen Ansätze der US-amerikanischen Forschung beschäftigen sich eher mit den sozialen Beziehungen in den einzelnen Bewegungen und begründen daraus ihre jeweilige Idee einer Typisierung. In seinem Aufsatz „Paradigmen der Bewegungsforschung“ stellt Hellmann eine breite Palette der aktuelleren, nordamerikanischen Forschungsansätze dar, der für die folgenden Ausführungen die Grundlage bildet (Hellmann, 1999, 98ff):

- Der Structural Strains-Ansatz (SS-Ansatz) stellt die Frage, in wieweit die Gesellschaftsstruktur selbst Anlass für eine soziale Bewegung und deren Protest ist. Des Weiteren fragt er, in wieweit die sozialstrukturelle Mobilisierungsbasis der sozialen Bewegung von Bedeutung ist (ebenda). So führen der soziale Wandel und die Modernisierung der Gesellschaft zu gesellschaftsstrukturellen Spannungen, die auf Verlusterfahrungen, Verunsicherungen oder Nachteilswahrnehmungen beruhen (Hellmann, 1999, 99). Das führt dann gleichzeitig zu der Frage, ob die sozialstrukturelle Mobilisierungsbasis auch der Ursprung der sozialen Bewegung ist. Laut Hellmann geht dieser Forschungsansatz darauf nicht weiter ein. Er beschäftigt sich mehr mit den Anhängern, die meist schon vor dem Protest in einem sozialen Netzwerk aktiv waren. Die Art der Netzwerke ist von Bewegung zu Bewegung unterschiedlich, z.B. Freundescliquen, Vereinsmitgliedschaft, etc., es werden explizit keine Parteien aufgeführt (ebenda).
- Ein weiterer Ansatz ist der Collective Identity-Ansatz (CI-Ansatz). Er stellt den Identitätsaspekt als Mobilisierungsanreiz dar und beschäftigt sich nicht nur mit ihrer Organisation, sondern hauptsächlich mit der Handlungsfähigkeit und der Selbststeuerung einer Bewegung als solche. Die CI entsteht über die Formulierung der Ziele und deren Kommunikation, um auch Unorganisierte zu erreichen und einzubinden. Es soll eine Einheitlichkeit hergestellt werden, um die Einzelakteure zu einem Ganzen zu verbinden und eine Bewegungsperspektive herzustellen (Hellmann, 1999, 99). Es wird eine klare „Wir/Die“-Perspektive eröffnet (Hellmann, 1999, 100), um sich abzugrenzen und Anhänger zu binden. Die Bewegung hat oftmals einen Gründungsmythos und zeigt durch eigene Rituale, Symbole oder Mode ihre Zusammengehörigkeit (ebenda). Initiativen und produktive Basen sind meist Bewegungsorganisationen. Im Mittelpunkt steht der Einbezug Aller auf ein Ziel. Es steht daher der Innenbezug der Bewegung im Mittelpunk der Betrachtung. Die Annahmen des CI-Ansatzes führen zu einem kollektiven Handeln und einer kollektiven Identität (ebenda).
- Bei dem Resource Mobilization-Ansatz (RM-Ansatz) steht im Mittelpunkt der Merkmale die politische Rationalität der Bewegung. Entscheidend ist der Mobilisierungserfolg, der von den Ressourcen abhängig ist. Er wird durch die Bewegungsorganisation gesteuert, die den bewegungsinternen Handlungsträger ausmacht. Der RM-Ansatz untersucht, in wieweit Organisationen in der Bewegung über die Art und den Umfang der Mobilisierung bestimmen können und somit das Entscheidungs- und Handlungszentrum beeinflussen. Dies führt zu einem eigenen Antriebssystem der Bewegung (Hellmann, 1999, 102-103).
- Im Political Opportunity Structures-Ansatz (POS-Ansatz) wird der Blick auf die externen Bedingungen der Bewegung gelegt. Der Protest dieser Bewegungen muss nicht unbedingt politisch sein, stößt aber meist auf politische Entscheidungsebenen, in denen die vorgebrachten Forderungen umgesetzt werden sollen. Der POS-Ansatz beschäftigt sich mit dem politischen System und hinterfragt, an welchen Punkten es für politischen Protest offen ist. Es findet ein internationaler Vergleich der Zugänglichkeit der unterschiedlichen politischen Systeme statt (Hellmann, 1999, 104).
- Im Framing-Ansatz werden konstruktivistische Züge der sozialen Bewegung betont. Er konzentriert sich auf die Produktion und Reproduktion kultureller Deutungsstrukturen, mit denen Anhänger mobilisiert werden (Kern, 2008, 142). Der Bedeutungsrahmen der Bewegung ist für sie die Legitimation ihres Handelns. Der Gesellschaft gegenüber stellt er eine Legitimation des Protestes dar. Der Ansatz versteht die Inszenierung eines Protestthemas als Grundlage, weshalb in der Bewegung die Besetzung der Deutungskompetenz oder Definitionsmacht besonders wichtig ist. Meist versuchen mehrere kollektive Akteure diese Machtposition an sich zu reißen. Die einzelnen Akteure beziehen sich daher eher nach außen und nicht wie beim CI-Ansatz auf den Innenzusammenschluss (Hellmann, 1999, 101).

Die gesamten dargestellten Ansätze, kollektiven Handelns zu typisieren und damit kategorisierbar zu machen, erscheinen mir einseitig. So ist der Ansatz Raschkes nur auf den Schwerpunkt der selbst gestellten Zielsetzung gerichtet (Raschke, 1988, 396). Die Mobilisierung sowie die Bewegungsursache bleiben damit außen vor. Er ordnet zwar den machtorientierten und den werteorientierten Bewegungen unterschiedliche Mobilisierungsstrategien zu, doch die einzelnen Bewegungen werden dadurch auf ihre sichtbare (von Außen erkennbare) Form reduziert. Die Frage, warum dieses kollektive Handeln jetzt auftritt, ist damit noch nicht gestellt oder untersucht (Melucci, 1999, 120).

Anders ist es bei den nordamerikanischen Typologien, die hier durch Hellmann vorstellt wurden. Sie beschränken sich auf die innere Struktur jeder einzelnen Bewegung. Es wird in ihrer Typologisierung die Frage behandelt, welche Beziehungen zu der Bewegung führen oder welche Mobilisierungsstrategien umgesetzt werden können. Dadurch werden die Ursachen der Bewegung und teilweise ihre Ziele außer Acht gelassen. Ich möchte fast meinen, dass hier die internen Machtstrukturen den Hauptschwerpunkt bilden.

Beide Ansätze stehen meiner Meinung nach in Verbindung, wobei es sich hierbei um eine Sichtweise handelt, die bisher in der Forschung noch nicht vertreten wurde. So sind beide Ansätze für eine Typologie der sozialen Bewegungen wichtig. Einzeln genommen sind sie jedoch lückenhaft und stellen nicht die gesamte Verbindung aller nötigen Faktoren für eine Typologisierung von sozialen Bewegungen her. Es muss meiner Meinung nach hier noch theoretische Arbeit geleistet werden, die nicht in den Rahmen meiner Arbeit passt.

Ich werde mich im Folgenden auf beide Typologieansätze beziehen, da ich hoffe, auf diese Weise ein vollständigeres Bild zeichnen zu können, als es mit nur einem Ansatz möglich wäre.

2 Betrachtung ausgewählter Bewegungen

2.1 Montagsdemonstration in der Deutschen Demokratischen Republik

2.1.1 Historische Ursachenbetrachtung

Dem sich Ende 1989 herauskristallisierenden Volksprotest geht eine lange Phase der Entwicklung des Widerstandes voraus. Ich beschränke meine Darstellung auf die Zeit nach 1968. In dieser Zeit verlagerte sich der öffentliche Fokus nach dem Arbeiteraufstand am 17.06.1953 hin zu den Protesten der Intelligenz, darunter Robert Havemann und Rudolf Bahro. Die Kirchen gründeten 1973 den Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und stellten sich somit nicht mehr dem politischen Regime der DDR entgegen, sondern begannen eine Zusammenarbeit, die sich als „Kirche im Sozialismus“ verstand (Thaysen, 1990, 157). Die Gruppen aus dem künstlerischen Milieu forderten in Veröffentlichungen die Einlösung von mehr Bürgerrechten (Fehr, 1996, 204), was bereits mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 zugebilligt hätte werden müssen. Diese Forderung deutet auf ein oben genanntes Merkmal zur Entstehung von sozialen Bewegungen hin, nämlich der Entkopplungstendenz zwischen dem Staat der DDR und der Zivilgesellschaft (Klein, 1999, 9). Sie konnte durch Selbstbedienung und wachsender Korruptionsdichte entstehen, was zu einem allgemeinen Vertrauensschwund in den Staat und die politischen Parteien der DDR führte. Aus den Kontroversen zwischen dem Staatsapparat der DDR und Wolf Biermann kristallisierten sich Kernthemen wie die Garantie der Menschenrechte und die freie Meinungsäußerung heraus (Fehr, 1996, 205). Ein Höhepunkt der Auseinandersetzungen war die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, was als offener Bruch zwischen der Elite des Landes und der Bevölkerung einzustufen ist. Die Ausbürgerung löste Protestaktionen und einen offenen Brief aus, der von mehreren bekannten Künstlern unterzeichnet und an die Presseorgane der DDR und Westeuropa verschickt wurde. Die Ausbürgerung führte zudem zu Solidaritätsbekundungen außerhalb des Schriftsteller- und Künstlermilieus und damit zu einer stärkeren Beschäftigung mit den kontrovers diskutierten Themen. Der Protest ging in den 70ern von einer punktuellen Interaktion zu einer Beteiligung Mehrerer über (ebenda, 319), die Zahl der Beteiligten stieg dann 1989 noch einmal um ein Vielfaches.

Der schrittweise Verlust der Macht und der Legitimität des Staatsapparats zeichnete sich in den verstärkt gegründeten Gruppen ab. So sind hier die jugendliche Gegenkultur, die Friedens- und die Umweltinitiativen zu nennen (Fehr, 1996, 203). Das Verschieben der Realisierung der kommunistischen Utopie in ungewisse Ferne machte einen Konflikten in der Gesellschaft deutlich (Meuschel, 1991, 22). Die Jugend beschäftigte sich vorwiegend mit der Militarisierung/Aufrüstung und veröffentlichte ihre Meinung z.B. in Form des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ (Fehr, 1996, 207). Die Militarisierung/Aufrüstung war durch die Einführung des Wehrkundeunterrichts 1978 für die Schüler spürbar geworden. Vielerorts gründeten sich zwischen 1980 und 1985 Friedensgruppen, die nicht nur christlicher, sondern auch anarchistischer, linkssozialistischer oder pazifistischer Überzeugung waren (Fricke, 1984, 190). Ihre Treffen fanden aber meist unter den Dächern der Kirchen als Orte für unabhängige Öffentlichkeit statt (Fehr, 1996, 306). In ihnen wurden demokratische Verhaltensformen praktiziert und relativ offene Dialoge geführt (Urich, 2006, 65). Im Binnenraum kirchlicher Öffentlichkeit konnten Fähigkeiten wie die Bildung politischer Urteile geübt und praktiziert werden (Fehr, 1996, 226). Dass dies im großen Masse nur in den Kirchen möglich war, deutet auf eine fehlende Pluralität gesellschaftlicher und politischer Institutionen sowie auf fehlende Demokratie hin (Meuschel, 1991, 23). Die 1981 begonnenen wöchentlichen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche wurden Ende der 80er zu Kristallisationspunkten der Auseinandersetzungen zwischen den Basisgruppen (Fehr, 1996, 227). Dadurch, dass der Staatsapparat dazu überging die Oppositionsgruppen zu tolerieren (Meuschel, 1991, 23), konnten einige der Gruppen 1989 auf ältere Organisationsstrukturen aus den 70ern zurückgreifen (Fehr, 1996, 209) und 1989 mit einer größeren Effektivität arbeiten. Das legale Oppositionsverständnis wurde von den Kirchen 1989 forciert, um von ihrer politischen Stellvertreterrolle entlastet zu werden (Knabe, 1990, 21).

In den Jahren von 1987 bis 1989 lassen sich in der DDR Ansätze für Protestzyklen unabhängiger Initiativen feststellen, die dann im Herbst 1989 zu kollektiven Massenprotesten auf der Straße führten (Fehr, 1996, 335). Die Verhaftung der Schlüsselpersonen der Umweltbibliothek im Winter 1987 kann zu einer erhöhten Bedeutung von politischem Raum für eine Teilöffentlichkeit außerhalb der Kirche (Fehr, 1996, 221) gezählt werden. Zu Beginn des Jahres 1988 fanden erneute Protestversuche in Berlin statt, wie z.B. während der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, die mit Verhaftungen endete. Diese Protestversuche wiederholten sich ein Jahr später auch in Leipzig.

Im November 1988 verbot die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die deutsche Ausgabe der russischen Zeitschrift „Sputnik“ (ebenda, 320), was den Bruch zwischen der Elite in der Sowjetunion und der DDR zeigt. Die erstarkenden Proteste in der DDR sind eng verknüpft mit den Veränderungen in der Sowjetunion. Seit 1986 leitete Michail Gorbatschow einen Prozess zum Umbau und zur Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems in der Sowjetunion ein. In diesem Zuge teilte die russische Führung den Machthabern in der DDR mit, dass sich die Rote Armee nicht einmischen werde. Dies verlieh den Demonstranten Mut, sich verstärkt zu beteiligen (Kuhn, 1992, 27 und 29). 1989 protestierte eine Vielzahl an Menschen in der DDR, die sich nicht mehr einfach verhaften ließen (Fehr, 1996, 290). Auf diese Weise eigneten sich die Menschen den öffentlichen Raum wieder an und konnten dadurch ihren politischen Initiativen nachkommen (ebenda, 289). Die erste Montagsdemonstration fand am 04.09.1989 gegen 17:00 Uhr in Leipzig statt, der Montag wurde gewählt, da die Menschen so nicht der Arbeit fern bleiben mussten und die Läden in der Leipziger Innenstadt noch geöffnet waren und so noch viele Menschen sich dort aufhielten, die einen gewissen Schutz vor Übergriffen der Polizei gaben. Ein wichtiger Aspekt war noch, dass der Zeitpunkt vor den Hauptnachrichten der BRD-Sender lag und diese so immer aktuell darüber informieren konnten (Kuhn, 1992, 15).

Zum Ende der DDR fehlte der SED eine politische Diagnosefähigkeit, die eine richtige Einschätzung der Proteste verhinderte um für die veränderte Situation im Land eine Perspektive zu entwickeln. Sie verblieb bei dem rituellen Sprachgebrauch und auch bei ihren Repräsentanten (ebenda, 320). Die Sprachlosigkeit der Führung und ihre Konzeptlosigkeit in der Situation (Kuhn, 1992, 25), gestatteten es der SED nicht mehr die Legitimität der Herrschaft zu beanspruchen (Meuschel, 1991, 22), was die Krisentendenz und die Erosion der Legitimität noch sehr verstärkte (Fehr, 1996, 318). Hier ist auch die Lebensfremdheit der Führungsebene der DDR zum Volke zu nennen, wodurch sie nicht in der Lage war, die Situation richtig einzuschätzen (Kuhn, 1992, 17).

Als ausschlaggebender Punkt wird in der Literatur die Kommunalwahl im Mai 1989 angesehen. Denn sie zeigte, dass die Unzufriedenheit immer größere Kreise der Bevölkerung erfasst hatte und die kritischen Gruppen nicht mehr länger isoliert werden konnten. Die Unzufriedenheit nahm überhand und die Menschen verloren allmählich ihre Angst vor Repressionen (Knabe, 1990, 25), im Gegenteil, diese Angst schlug in Ablehnung, Hass und Wut um (Kuhn, 1992,19). Als Beispiel kann hier der Vorgang der Wahlen in zwei Wahlbezirken in Weißensee herangezogen werden, da in ihnen plötzlich heftige Diskussionen auf den zuvor kaum beachteten Nominierungsversammlungen der Kandidaten entbrannten, woraufhin die Nominierungsversammlungen gar nicht erst bekannt gegeben wurden. Die kirchlichen Gruppen riefen die Bürger auf an der Wahl nicht teilzunehmen oder mit „Nein“ zu stimmen. Es wurden in verschiedenen Städten flächendeckende Beobachtungen der Auszählungen organisiert, sodass Anzeige wegen Wahlbetrugs von den Beobachtern gestellt werden konnte, als in einem Vergleich die öffentlich bekannt gegebenen Stimmergebnisse nicht mit den beobachteten Ergebnissen übereinstimmten (Knabe, 1990, 25). Auf diese Weise konnte es den Gruppen gelingen aus ihrer Stellung der gesellschaftlichen Marginalität herauszutreten (Meuschel, 1991, 24). Die offenkundige Manipulation der Wahlergebnisse führte zu starken Protesten in der Bevölkerung, die sich einen breiten innergesellschaftlichen Dialog erhoffte. Doch die Reaktion der DDR-Regierung bestand in der Unterdrückung des Themas „Wahlen“ und dem Ignorieren der eingegangenen Anzeigen. Die Reaktion der Regierung hatte zur Folge, dass die Bevölkerung ein immer größeres Interesse an dem Thema der Wahlmanipulation entwickelte (Fehr, 1996, 233).

Die Ausreisewelle ab Sommer 1989 führte zu einer verstärkten Diskussion über Themen wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit (Fehr, 1996, 234f). Sie bildete den Anfang der friedlichen Revolution (Mühler et al., 1991, 37). Die Pluralisierung der kritischen Sichtweise der Bevölkerung in Bezug auf verschiedene Themen führte zu Massendemonstrationen auf dem Gebiet der gesamten DDR und drücke auf diese Weise das gewachsene Selbstverständnis der mündigen Bürger und die innergesellschaftlichen Veränderungen in der DDR aus (Fehr, 1996, 236). Die Bürger erwachten aus ihrer politischen Apathie. Sie betrachteten den Staatssozialismus als Barriere auf dem Weg ihre Ziele zu erreichen (Mühler et al., 1991, 37).

Der größte Einfluss der Kirchen auf die Demonstranten ist an der Friedfertigkeit der Demonstrationen erkennbar. Die kirchlichen Gruppen lehnten jede Gewaltanwendung ab (Fehr, 1996, 244), was sich in dem Proteststil der Menschen widerspiegelte (ebenda, 306). Sie prägten den Protest entscheidend durch ihre strikte Gewaltlosigkeit (Knabe, 1990, 23).

Die scheinbare Führungslosigkeit der Großdemonstrationen fand mit der Gründungswelle von Parteien und Organisationen in der DDR ihr Ende (Musiolek et al., 1991, 17). Sie einte der Konsens, das Land friedlich und gewaltfrei zu verändern (Urich, 2006, 67). Es entstand in kürzester Zeit ein pluralistisches Parteien- und Gruppenspektrum, die zunächst die anvisierten Wahlen als Ziel hatten (Musiolek et al., 1991, 17). Wobei die unterschiedlichen Parteien und Gruppen nicht unbedingt aus programmatischen Unterschieden heraus entstanden, sondern sich eher aus Differenzen zwischen Personen, Gruppen und Regionen bildeten (Knabe, 1990, 26). Durch die Umstände, dass beinahe nur die Kirchen als Ort für Treffen zur Verfügung standen, verwundert es nicht, dass Oppositionsparteien vornehmlich aus Kirchenmitarbeitern gegründet wurden (Knabe, 1990, 22-23).

In der zugespitzten Existenzkrise des Sozialismus, formierte sich das Volk als Souverän und nahm seine Verantwortung für das Land wahr. Spätestens seit September 1989 hatte sich eine „Kundgebungsdemokratie“ (Thaysen, 1990, 181) etabliert. Die Massenflucht über die ungarische Grenze, zeigte das schwindende Vertrauen von Millionen Menschen in den Staatsapparat der DDR (Musiolek et al., 1991, 13). Die SED war bestrebt über die so genannten „Reformen von oben“ (Eckert et al., 1995, 125) das System zu stabilisieren, und das entstandene institutionelle Machtvakuum zu füllen (Fehr, 1996, 328). Dies wurde durch die Installierung der Gespräche am Runden Tisch (begonnen am 07.12.1989 bis zum 12.03.1990) versucht umzusetzen. Die Gesprächspartner waren die neu gegründeten Parteien und Gruppen und die „alten“ Machthaber (ebenda, 325). Wobei sich die DDR-Führung zunächst nicht in der Pflicht fühlte, diesen Gesprächen zuzustimmen, da es sich ihrer Meinung nach um staatsfeindliche Organisationen handle und keine gesellschaftliche Notwendigkeit dazu bestehe (Knabe, 1990, 26). Dennoch widersprachen die Parteien und Gruppen zunächst nicht dem Sozialismus als weitere Staatsform (ebenda, 28), sondern arbeiteten für seine Erneuerung und Demokratisierung (Neuert, 1991, 29). Sie forderten die Reformation und Erweiterung des Sozialismus durch Kommunikationsfreiheit, durch die politische Wertorientierung (Partizipation), durch den Dialog und den Pluralismus und durch eine Kompromissbildung (Fehr, 1996, 314). Durch die Schaffung eines Rechtsstaats sowie einer effektiven, demokratischen, kontrollierbaren, ökologischen und sozialen Wirtschaftsstruktur (Knabe, 1990, 29) und durch die Befreiung von stalinistischen Deformationen (Knabe, 1990, 26). Diese Ziele wurden am Runden Tisch ausgearbeitet und in einem Verfassungsentwurf formuliert und beschlossen (Fehr, 1996, 327). Durch die öffentlichen und im Fernsehen übertragenen Sitzungen wurde gleich das Ziel der freien Meinungsäußerung praktiziert (ebenda, 331), sodass der basisdemokratische Charakter in der Bewegung erhalten bleiben und weiterhin als wichtigstes Mittel der Verständigung und Auseinandersetzung genutzt werden konnte (Musiolek et al., 1991, 13). Die Methode des Runden Tisches fand Nachahmung in vielen Bürgerkomitees oder sonstigen Versammlungen und half auf diese Weise eine politische Kultur zu schaffen. Zuvor ermöglichte die Methode politischen Laien das politische Geschäft in die Hand zu nehmen (Thaysen, 1990, 174). Der basisdemokratische Charakter konnte so das Partizipationsdefizit kompensieren und die Regionen von Repressionen befreien (Schulz et. al., 1991, 384). Die Teilnehmer der Gespräche am Runden Tisch repräsentierten eine neue Gegen-Elite (ebenda, 343), die in der letzten Phase der DDR zu einem Nebeneinander der alten und der neuen Elite führte (ebenda, 371), bis sie dann im Elitenwechsel mündete (ebenda, 374). Dieser vollzog sich zunächst mit den ersten freien Wahlen des Parlaments im April 1990 (Musiolek et al., 1991, 7) und endete mit der Wiedervereinigung am 03.10.1990.

Der Fall der Mauer am 09.11.1989 veränderte die Rahmenbedingungen der Bürgerbewegung grundlegend. Seit dem war nicht mehr die Rede von Reformen, sondern von der Wiedervereinigung. Die Gegen-Elite vom Runden Tisch war aber nicht Willens oder in der Lage die Wiedervereinigung umzusetzen, weshalb die Bewegung auseinander fiel und die Vertreter ihre Legitimation sowie ihre Massenbasis verloren (Urich, 2006, 70). Aufgrund der Kommunikationslosigkeit zwischen der Basis und der Spitze, blieb es von der Führung unbemerkt, dass die Basis nach und nach aufhörte zu arbeiten und sich stetig verkleinerte (Urich, 2006, 69). Die von unten nach oben anvisierte Demokratie wurde nicht in die Tat umgesetzt, was die Abwendung der Basis von der Führung noch verstärkte (Urich, 2006, 68). Durch die Gründung von Parteien erhoffte sich die Bewegung eine Legitimation zur Teilnahme an Wahlen und unterstützte so den Weg in die Parteiendemokratie (Urich, 2006, 71).

Es existieren jedoch auch kritische Stimmen in der Literatur, die fragen, inwieweit die Vertreter am Runden Tisch aus der Opposition noch die Demonstrierenden auf der Straße repräsentierten (Thaysen, 1990, 16). Denn der Runde Tisch war die einzige Institution, die die Kräfte der Opposition vereinte und zu einer Art parlamentarischen Opposition machte, die im Ansatz mit den „alten“ Machthabern gleichberechtigt diskutierte. Später gegründete Oppositionsgruppen fanden nur begrenzt Zugang zum Runden Tisch. Sie erhielten jedoch einen so massiven Zulauf, dass Zentren der politischen Aufmerksamkeit sich auch außerhalb des Runden Tisches bildeten, wie z.B. Mitglieder der Deutschen Sozialen Union (DSU), die den Runden Tisch als von der Regierung kontrolliertes Instrument ansahen und ihn als ein regimestabilisierendes Gremium verstanden und ablehnten. Der Runde Tisch verlor so an Akzeptanz und auch an Aufmerksamkeit (Thaysen, 1990, 177-178).

Mühler stellt in seinem Aufsatz zur Meinungsforschung fest, dass sich seit November 1989 „ein neuer Geist der Intoleranz“ (Mühler et al., 1991, 38) in der Bewegung bemerkbar machte und bezeichnete die Akteure als „Import-Republikaner“ (ebenda). Eine eingeleitete DDR-weite Kampagne gegen rechts stehende Parteien vereinte die unterschiedlichen Kräfte stärker, konnte aber nicht verhindern, dass sich die neu gegründete NPD in Leipzig lautstark in die Demonstrationen seit dem 09.01.1990 einmischte. Sie dominierten verbal die Demonstrationen durch Zwischenrufe und Rednerbeleidigungen. Die demokratischen Kräfte kapitulierten und riefen am 28.02.1990 zum Rückzug aus der Bewegung auf (ebenda). So schrumpfte die Bewegung in Leipzig in wenigen Monaten von ca. 300.000 Akteuren im November auf einige Tausend zusammen. Die breit gefächerten Teilnehmermotive, bei denen die demokratischen Ziele besonders betont wurden, verengten sich zu einer eindimensionalen Forderung: „Deutschland einig Vaterland“ (ebenda). In anderen Städten hatten die Rechtsextremisten Schwierigkeiten damit Parteien aufzubauen und konnten sich dadurch nicht so extrem in den Vordergrund drängen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Montagsdemos als Ausdruck einer neuen Wut?
Untertitel
Eine vergleichende Analyse der Montagsdemos von 1989 und 2008
Hochschule
Universität Potsdam  (Lehrstuhl Methoden der Empirischen Sozialforschung)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
116
Katalognummer
V135523
ISBN (eBook)
9783640428403
ISBN (Buch)
9783640424672
Dateigröße
1046 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Montagsdemos, Ausdruck, Eine, Analyse
Arbeit zitieren
Susan Burger (Autor:in), 2008, Montagsdemos als Ausdruck einer neuen Wut?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135523

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