Die Konstruktion medialer Realität in der Lokalzeitung - Eine vergleichende Untersuchung zur Themenselektion in der Kölner Lokalpresse


Magisterarbeit, 2003

101 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

I. EINFÜHRUNG

II. DER STAND DER WISSENSCHAFT
1. Medientheorien
1.1 Ursprünge der Medientheorien
1.2 Anfänge der Mediensoziologie in Deutschland
1.2.1 Max Webers „Vorbericht“
1.2.2 Weitere Perspektiven
1.3 Systemtheorie
1.3.1 Kommunikation als soziales System
1.3.2 Selbstreferenz vs. Fremdreferenz
1.3.3 Äquivalenz-funktionalistische Systemtheorie
1.4 Konstruktivismus
1.5 Handlungstheorie
1.6 Agenda-Setting-Theorie
2. Journalistisches Handeln
2.1 Selektion, Verarbeitung, Interpretation
2.2 Schwerpunkt Selektion
3. Lokaljournalismus
3.1 Vermeintliche Banalität des Lokalen
3.2 Lokalpresse als Gegenstand der Wissenschaft
3.2.1 Forschungsrichtungen
3.2.2 Funktionen des Lokalteils
3.3 Die Lokalredaktion
3.4 Lokale Themenlage
3.4.1 Von Kommunalpolitik bis „human interest“
3.4.2 Leserpräferenzen
3.5 Historischer Abriss der Untersuchungsobjekte

III. INHALTSANALYSE
1. Forschungsinteresse
1.1 Zielsetzung
1.2 Hypothesen
2. Theoretische Grundlage
2.1 Untersuchungszeitraum
2.2 Analyseeinheiten
2.3 Kategorien
2.4 Pretest
2.5 Reliabilitätstest
3. Ergebnisse
3.1 Formale Merkmale
3.1.1 Darstellungsformen
3.2 Inhaltliche Merkmale
3.2.1 Themengebiete
3.2.2 Handlungsträger
3.2.3 Objektivität
3.2.4 Interpretation
3.3 Nachrichtenfaktoren
3.3.1 Dauer
3.3.2 Relevanz
3.3.3 Überraschung
3.3.4 Struktur
3.3.5 Personalisierung
3.3.6 Prominenz
3.3.7 Interpretation

IV. BEFRAGUNG

V. FAZIT

Literaturverzeichnis

Anhang

I. EINFÜHRUNG

„Der erste Redakteur: Gestern hat er mich rufen lassen und hat gesagt, man muß dem Publikum Appetit machen auf den Krieg und auf das Blatt, das geht in einem.“[1] Wenngleich dieser Satz aus Karl Kraus’ Werk Die letzten Tage der Menschheit natürlich recht martialisch klingt, so verdeutlicht er dennoch im übertragenen Sinne den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Zunächst soll jedoch auch Niklas Luhmann zu Wort kommen: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Massenmedien. (...) Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können."[2] Ist dem wirklich so? Lassen die Erkenntnisse, welche die Wissenschaft auf dem Gebiet der Medienforschung erlangt hat, tatsächlich nur diese eine für die Medien verheerende Schlussfolgerung zu? Winfried Schulz ist da etwas anderer Ansicht.[3] Er wehrt sich gegen den gängigen Vergleich zwischen der von den Massenmedien dargestellten Realität sowie der faktischen Realität, beruht dieser doch auf der Annahme, „dass es die wichtigste Funktion der Nachrichten sei, reales Geschehen abzubilden, widerzuspiegeln, dem nicht unmittelbar beteiligten Rezipienten zu vermitteln.“ Die Frage danach, was wirklich geschah, ist – laut Schulz - letztlich metaphysischer Natur, eine intersubjektiv verbindliche Auskunft darüber erscheint ihm unmöglich. Nachrichten können die Umwelt nicht widerspiegeln, sie können sie lediglich interpretieren und letztlich auch konstituieren. Nachrichten sind eine mögliche Definition unter vielen, sie müssen aber nicht zwingend eine falsche Definition sein.

An wissenschaftlichen Erhebungen über das klassische Medium Zeitung und dessen ‚konstruierter Realität’ besteht mittlerweile kein Mangel mehr. Ob qualitative Befragungen, systematische Beobachtungen, repräsentative Stichprobenziehungen oder eingehende Inhaltsanalysen – das Repertoire wissenschaftlicher Methoden wurde in der Vergangenheit

reichlich ausgeschöpft. Klaus Schönbach untersuchte im Jahr 1976 die Trennung von Nachricht und Meinung anhand renommierter deutscher Funk- und Printmedien und Winfried Schulz interessierte sich im selben Jahr für die Wirklichkeitskonstruktion der medialen Nachrichtenproduktion. Zu nennen wäre auch Hanno Petras, der sich 1994 mit den Soziologismen in den Medien beschäftigte oder Stefan Schirmer mit seiner recht aktuellen Inhaltsanalyse über die Aufmacher der Bild-Zeitung im Wandel der Jahrzehnte. Wissenschaftliche Arbeiten, die sich speziell mit der Erforschung der lokalen Ebene auseinandersetzen, sind hingegen schon deutlich seltener zu finden. Die erste Studie, die sich mit einem äußerst anspruchsvollen inhaltsanalytischen Instrumentarium der Lokalzeitung annahm, war die sogenannte Wertheim-Studie. Die Basis dieser Untersuchung war dabei eine partizipatorische Demokratievorstellung, die davon ausgeht, dass ein fundamentales menschliches Interesse an politischer Selbstbestimmung besteht. Die Ergebnisse der Analyse stellten der Lokalpresse ein vernichtendes Zeugnis aus. Unter anderem wurde festgestellt, dass die Lokalteile der vier in Wertheim gelesenen Blätter sich untereinander sehr viel weniger unterscheiden als die überregionalen Teile. Die Autoren sahen den Vorwurf der Hofberichterstattung bestätigt. Theo Rombach forschte im Jahr 1983 in eine ähnliche Richtung – auch er interessierte sich für die Partizipation des Bürgers am Gemeindeleben und fragte sich welche Rolle die örtliche Presse dabei spielt. Matthias Kurp widmete sich indes 1994 dem Verhältnis zwischen den lokalen Medien und den kommunalen Eliten, Beate Schneider und zwei ihrer Kollegen im Jahr 2000 hingegen speziell dem Lokaljournalismus in den neuen Bundesländern.[4]

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich zunächst mit der zu Beginn bereits angeschnittenen Frage danach, welche Art der Realität die Medien imstande sind zu konstruieren. Ein natürlich selektiver Überblick über die medientheoretischen Erkenntnisse der Sozialwissenschaften soll im ersten Teil dieser Arbeit eine vorläufige Antwort auf die Frage der medialen Realitätskonstruktion vermitteln. Aus den Erkenntnissen der Forschungsliteratur gefolgerte Hypothesen sollen dann einen direkten Bezug zum zweiten Teil und damit zu der durchgeführten Inhaltsanalyse herstellen. Diese widmet sich ausschließlich dem lokaljournalistischen Geschehen in der Stadt Köln. Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit beschränkt sie sich auf die Lokalteile der drei ansässigen Zeitungen Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau, Express und zusätzlich noch der örtlichen Ausgabe der Bild-Zeitung. Mit dem sozialwissenschaftlichen Instrument der Inhaltsanalyse soll dargestellt werden, in welcher Form eine lokale Realität konstruiert wird. Im Mittelpunkt steht dabei einerseits die Frage nach dem jeweiligen thematischen Schwerpunkt, andererseits jene nach der Gewichtung von sechs unterschiedlichen, die Selektion nachhaltig beeinflussenden Nachrichtenfaktoren. Aber auch Punkte wie Objektivität und Handlungsträger finden Berücksichtigung. Neben den zentralen Hypothesen wurde auch das Untersuchungsdesign aufgrund des im ersten Teil aufgeführten wissenschaftlichen – hierbei insbesondere des mediensoziologischen – Forschungsstandes erstellt. Durch die Auswertung schriftlich geführter Interviews mit den Lokalchefs der Kölnischen Rundschau sowie der Bild-Zeitung sollen auf der einen Seite die Ergebnisse der Inhaltsanalyse abgeglichen, auf der anderen Seite aber auch die Stellungnahmen der Interviewpartner zu mediensoziologischen Fragen gegenübergestellt werden.

II. DER STAND DER WISSENSCHAFT

1. Medientheorien

1.1 Ursprünge der Medientheorien

Parallel zur industriellen Revolution entwickelten sich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts erste Theorien der Massengesellschaft, die sich kritisch mit der zunehmenden Verbreitung von Massenkommunikationsmitteln auseinander setzten. Unter anderem Emile Durkheim oder Vilfredo Pareto befürchteten die Auflösung traditioneller Wertesysteme, die wachsende Isolation des Einzelnen und die Bildung einer Meinungs- und Herrschaftselite. Jürgen Habermas und andere Vertreter einer kritischen Theorie warnten davor, dass Massenkommunikation einen entscheidenden Beitrag zur Kommerzialisierung der Kulturgüter leisten wird. Vertreter der Theorie des historischen Materialismus gingen in eine ähnliche Richtung und kritisierten, dass die Massenmedien als ein wichtiger Teil der kapitalistischen Produktionsprozesse einzig der Sicherung einer Herrschaft des Kapitals dienen würden. Matthias Kurp bemängelt, dass diese kulturkritischen Theorien allesamt die Medienlandschaft als etwas Fremdartiges und nicht aus der Mitte der Gesellschaft Entstandenes bezeichnen.[5] Die Rezipienten werden als Opfer oder reine Verfügungsmasse der Medienkonzerne angesehen. Erst Anfang der 70er Jahre ging die Wissenschaft verstärkt dazu über, eine reine kommunikatorzentrierte Perspektive abzulehnen und vielmehr von einem aktiven Publikum auszugehen, das die Medien dazu gezielt nutzt, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen und Problemstellungen zu lösen. Nach Ansicht von Wissenschaftlern, die sich eher einem liberal-pluralistischen Ansatz verpflichtet fühlen, „dienen Massenmedien in demokratischen Gesellschaften also als Mittel zur Informations- und Meinungsvermittlung, das als kritisches Korrektiv funktionieren kann. Für die komplexen Willensbildungsprozesse moderner Gesellschaften spielen Massenmedien bei allen Rekrutierungs- und Kontrollprozessen eine wichtige systemerhaltende Rolle.“[6]

Laut Werner Faulstich gibt es vier Fachrichtungen, innerhalb der sich Wissenschaftler intensiv mit unterschiedlichen Medientheorien beschäftigt haben: die Medienwissenschaft, die Publizistik, die Kommunikationswissenschaft und nicht zuletzt natürlich auch die Soziologie[7]. Innerhalb der Medienwissenschaft findet man viele Einzelmedientheorien, von denen sich jede mit einem einzigen Medium beschäftigt; z.B. mit dem Radio, dem Fernse-

hen oder dem Film. Die Publizistik behandelt demgegenüber Themenfelder wie Medienpolitik und Medienwirtschaft auf der einen, sowie Medienformen und Medieninhalte auf der anderen Seite – immer ohne sich auf das ‚Gesamtsystem Gesellschaft’ zu beziehen. Die gesellschaftskritischen Theorien der Kommunikationswissenschaft beziehen den medialen Kommunikationsprozess in den übergreifenden Kontext von Kultur und Gesellschaft mit ein. Im Bereich der Soziologie hat sich indes ganz zentral die Fachrichtung der Systemtheorie zum Bereich Medien geäußert. Diese fasst den Kontext noch allgemeiner, sie begreift Kommunizieren als einen entscheidenden Teil des übergeordneten gesellschaftlichen Handelns auf. Die zentrale Frage der Systemtheorie lautet, in welcher Form Kommunikation erfolgreich sein kann, um soziale Systeme entstehen zu lassen.

Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun kritisieren jedoch, dass das gesellschaftliche Phänomen der Massenmedien von der soziologischen Forschung seit Kriegsende stets vernachlässigt worden ist:

„Aus Gründen, die noch der Erklärung bedürfen, und sträflicherweise, wie sich jetzt mit aller Deutlichkeit zeigt, fristet die Soziologie der Massenmedien seit Jahrzehnten ein vergleichsweise stiefmütterliches Dasein im Gesamtspektrum soziologischer Forschungsanstrengungen. Gemessen an den Aktivitäten in den anderen Bindestrich-Soziologien und vor allem gemessen an der – gerade von Soziologen immer wieder hervorgehobenen – tatsächlichen gesellschaftlichen Relevanz der Massenmedien für die Konstruktion sozialer Wirklichkeit schneidet die Medien- und Kommunikationssoziologie schlecht ab. (...) Die bereits konstatierte Trägheit und Rückständigkeit, die Wirklichkeitsverfehlungen soziologischer Medienforschung sind aus dem Grunde besonders paradox, weil die Soziologie jene Sozialwissenschaft zu sein beansprucht, die von Hause aus, d.h. von ihren Erkenntniszielen sowie ihren methodischen und kategorialen Voraussetzungen her eigentlich für die Analyse der Massenmedien verantwortlich zu sein hätte. (...) Massenkommunikation wirkt an der Produktion und Reproduktion der symbolischen Ordnung durch die Verwendung vor allem sprachlicher und bildlicher, auditiver und audiovisueller Bedeutungs-, Darstellungs- und Ausdrucksmittel mit. Diese spezifisch soziologische Perspektive von Massenkommunikation im Kontext der symbolischen Praxis einer Gesellschaft eröffnet den theoretisch und methodologisch sowie forschungspraktisch produktiven Weg einer Konzeptualisierung von Medien- und Kommunikationssoziologie als Kulturanalyse.“[8]

1.2 Anfänge der Mediensoziologie in Deutschland

1.2.1 Max Webers ‚Vorbericht’

Dass das Thema Massenmedien über weite Strecken von der Soziologie nahezu ausgeklammert wurde, ist umso verwunderlicher, da bereits im Jahre 1910 anlässlich des 1. Deutschen Soziologentages von bedeutender Seite auf die drängende Relevanz des Gebiets hingewiesen wurde. Max Weber beschäftigte sich im Vorfeld des vom 19. bis zum 22. Oktober in Frankfurt/Main stattfindenden Expertentreffens immer wieder mit einer von ihm geplanten Presse-Enquete. Gemeinsam mit den neben ihm anderen Vorstandsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – unter ihnen Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Werner Sombart – beabsichtigte Weber eine Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens. Weber bemühte sich, namhafte Vertreter der deutschen Zeitungsgilde für den geplanten Arbeitsausschuss, welcher während des Soziologentages konstituiert werden sollte, zu gewinnen. Außerdem kann man den Briefwechseln Webers aus dieser Zeit entnehmen, dass er auch intensiv um finanzielle Unterstützung warb – in erster Linie bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Die Akademie zeigte sich prinzipiell durchaus auch zahlungswillig. In einem Schreiben an Franz Eulenburg vom 12 Oktober, deutet Weber aber die schwerwiegenden Probleme an, mit denen er sich auseinander zu setzen hatte:

„Presse-Enquete und die Schwierigkeiten sind kolossal, – insofern natürlich können sie recht behalten und später sagen: ‚Sehen Sie wohl? Ich sagte es ja.’ Das weiß ich wohl, aber diese Sache muss auf die Hörner genommen werden und es wäre ein Eingeständnis der Impotenz der Soziologie, wenn sie erklären wollte: ‚Dies Gebilde spottet meiner Methoden’, was übrigens schon die bisherige zum Teil glänzende Literatur des Pressewesens widerlegt. Freilich: nicht ich kann diese Sache leisten, machen die dazu Berufenen nicht mit, so lege ich die Angelegenheit ruhig ad acta. Denn dass das Phänomen, um welches es sich handelt, nicht eindeutig formulierbar sei, ist richtig verstanden, ja gerade der Grund, weshalb hier Kollektivarbeit von Gehirnen am Platz ist: die Fragestellungsmöglichkeiten stehen zur Diskussion – während bei den Ausleseerhebungen die technischen Möglichkeiten das allein Problematische, die Fragestellung dem Wesen nicht dem Umfang nach aber klar ist.“[9]

Weber fühlte sich bei der Organisation dieser wissenschaftlichen Mammutaufgabe allein gelassen. Bei seinen monatelangen Bemühungen, die Arbeit in Gang zu bringen, stellte sich heraus, dass keine der Größen der soziologischen Forschung dieser Zeit dazu bereit war, Webers Bemühungen eigentätig zu fördern.

Weber wollte in seinem der wissenschaftlichen Nachwelt erhalten gebliebenen Vorbericht in provisorischer und auch unverbindlicher Weise aufzeigen, welche die für ihn entscheidenden Punkte sind, die seiner Ansicht nach die vorgeschlagene Erhebung aufgreifen und thematisieren sollte. Webers Bericht ist in zwei größeren Blöcken unterteilt. Zunächst widmete er sich dem reinen „Zeitungsgeschäft“, da „die Art des Funktionierens aller Kulturarbeit der Presse heute an die Existenzbedingungen privater Unternehmungen gebunden ist und sein muss“[10]. Als erster Schritt sollte nach dem Willen Weber eruiert werden, wie sich die Besitzverhältnisse von großen Blättern in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Ihn interessierten generell die Höhe des Kapitalbedarfs und des Umsatzes und spezieller die laufenden Produktions- sowie Personalkosten der Zeitungen. Sinnvoll erschien ihm hierbei stets der Vergleich mit den Verhältnissen im Ausland.

Einen eigenen Unterpunkt räumte Weber der Frage nach der „Art der Stoffbeschaffung“[11], also der Thematisierung ein. Dabei schlug er vor, die damals dominierenden Nachrichtendienste Associated Press, Havas, Reuter und Wolff einer vergleichenden Analyse zu unterziehen. Insbesondere die Verbindungen zu Partei- und sonstigen politischen Korrespondenzen sowie amtlichen und offiziellen Stellen sollten bezüglich der Versorgung mit thematischem Stoff und einer möglicherweise einhergehenden politischen Beeinflussung analysiert werden. Neben einer eingehenderen Untersuchung der Darstellungsform des Leitartikels, beabsichtigte Weber auch die Rolle des zunehmenden Amerikanismus in Bezug auf die Verteilung des Stoffes, die relative Bedeutung einzelner Rubriken und des importierten „Spitzmarkenwesens“ zu klären. Ein Problem, dass an Aktualität im Laufe der Jahrzehnte nie eingebüßt zu haben scheint, ist die Frage nach den Interessenskonflikten zwischen dem redaktionell erarbeiteten Teil einer Zeitung und den abgedruckten Annoncen namhafter Unternehmer. Der Gefährdung der inhaltlichen Integrität steht hierbei die durch finanzielle Zuwendungen mögliche Erhöhung der Qualität gegenüber. Zweifelsohne ein aus der Sicht Webers wichtiger Punkt, denn dem Annoncengeschäft widmete er auffallend viel Platz. So interessierten ihn auch mögliche Unterschiede in der Konjunkturbedingtheit des Annoncierens, Differenzen in der Stetigkeit der Rentabilität sowie mögliche Verschiebungen der Bedeutung der unterschiedlichen Anzeigenkategorien. Auch die Frage nach drohenden vertikalen oder horizontalen Medienkonzentrationen erschien bereits zu Anfang des letzten Jahrhunderts als wesentlich. In welcher Form Zeitungsbesitz kombiniert war, ob zwischen einzelnen Blättern Betriebsmittelgemeinschaften bestanden, inwieweit Zeitungen durch Konkurrenzprodukte aufgekauft oder mit ihnen verschmelzt wurden, ob und wenn ja in welcher Form die groß- bzw. die hauptstädtischen Zeitungen das Land beherrschten – alle diese Fragen sollte die einzusetzende Kommission klären. Aber auch die Berufsbedingungen der Journalisten sollten keinesfalls ausgeklammert bleiben. Weber schlug vor, die Entwicklung der einerseits ökonomischen und andererseits sozialen Position des Journalistenstandes, die Lebenseinstellungen und Lebenschancen dieser Zunft sowie das oft schwierige Verhältnis zwischen Zeitungsgeschäft und seriösem Journalismus zu analysieren.

Der zweite große Block widmet sich Fragen nach der „Zeitungsgesinnung“. Dabei steht auf der einen Seite der Einfluss von äußeren Faktoren auf den Geist der Zeitung, auf der anderen Seite die Wirkungen des Blattes auf den einzelnen Journalisten sowie auf die Förderung der öffentlichen Meinungsbildung. Zunächst ging es Weber um die Klärung, inwieweit die mehr oder minder parteilosen „Nachrichten-Zeitungen“ vordringen und welche Rollen bürgerliche „Familien-Zeitungen“ und nationale Blätter spielen. Genauer sollten dann erstens die katholische (nach Kriterien wie Art der Finanzierung, Leitung und Beeinflussung), zweitens die sozialdemokratische (Beziehungen zur Parteispitze, zu den Gewerkschaften und anderen Interessengruppen), drittens die bürgerliche und viertens die formal freie Presse (und deren Verhältnis zu den politischen Parteien) wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Der Produktion öffentlicher Meinung durch die Presselandschaft widmete Weber ein eigenes Kapitel:

„Vergleichende Analyse der Art der Zeitungslektüre im Ausland (z.B. Amerika, Frankreich) und bei uns, sowohl quantitativ wie qualitativ (hierfür besonders: qualitative Analyse der Lokalblätter im Auslande, im Süden, Osten und Westen Deutschlands). Stilisierung der Zeitungslektüre selbst durch die Art der Anordnung des Drucks, die Zunahme und Art der telegraphischen Berichterstattung und der dabei möglichen größeren oder geringeren Betonung und Färbung bestimmter Inhalte der Nachrichten. (...) Welche Art von Personen macht die Presse ‚berühmt’ oder einflussreich? Reiz des Zeitungsruhms für wen und was? Von wem und was schweigt die Zeitung und aus was für, in ihrer Eigenart und den Bedürfnissen ihres Publikums liegenden Gründen?“[12]

Sicherlich interessant sind auch Webers Überlegungen dazu, inwieweit die Alltagssprache durch die Presse beeinflusst wird und in welcher Form diese Beeinflussung auch die Schrift- und Literatursprache betrifft. Die Schar der Rezipienten soll dann nach Art der Ansprüche an den Zeitungsinhalt je nach Geschlecht, Beruf und soziale Schicht kategorisiert werden. Auch nach dem „Maß der Diskretion“ will Weber die massenmedialen Untersuchungsobjekte abtasten: Die, nach seinen Worten, „Schund- und Revolverpresse“ soll nach Quantität sowie nach Qualität einem auch hier wieder internationalen Vergleich unterzogen werden.

Erst im Anschluss an diese grundlegenden Fragen würden „die eigentlich großen Kulturfragen der Bedeutung der Presse, ihr Anteil an dem materiellen Inhalt der modernen Kulturgüter und ihr ubiquisierender, uniformierender, versachlichender und dabei doch kontinuierlich emotional gefärbter Einfluss auf die Gefühlslage und Denkgewohnheiten des modernen Menschen, auf den politischen, literarischen, künstlerischen Betrieb, auf die Bildung und Zersetzung von Massenurteilen und Massenglauben zu erörtern sein.“[13]

Die Autobiographien großer zeitgenössischer Blätter sollten dabei lediglich ersten Vorarbeiten dienen. Als entscheidendes Erhebungsmaterial sah Weber hingegen neben dem Handelsregister insbesondere Fragebogen über einzelne präzise formulierte Fragen sowie die gründliche Durcharbeitung von Zeitungen. Außerdem wären Studienaufenthalte im Ausland von im Journalismus besonders sachkundigen Mitarbeitern zu organisieren.

Weber entwickelte also einen Forschungsplan, der in vielfältiger Form immer wieder aktuelle Bezüge aufweist. Müller-Doohm und Neumann-Braun schreiben:

„Die von Max Weber immer wieder herausgehobene Kulturbedeutung der Massenmedien kommt erstens in ihrem meinungswirksamen, publizistischen Potential zum Ausdruck. Sie manifestiert sich in den spezifischen Machtverhältnissen, die mit ihrer zugleich privilegierten und professionalisierten Einflussnahme auf die politische Öffentlichkeit gegeben ist. Als Forschungsfrage resultiert daraus die Untersuchung der Massenmedien als ‚agenda setter’, die Untersuchung der massenmedialen Inszenierungsmuster und internen Selektionsmechanismen von propagierten Themen und unterschlagenen sowie ausgegrenzten Kommunikationsprozessen. (...) Zweitens sind die publizistischen Medien aufgrund der spezifischen Veränderungen bedeutsam, die sie innerhalb der Alltagskommunikation bewirken. Hier vermutet Weber, dass sie zur ‚Urbanisierung des platten Landes in der Kleinstadt’ beitragen und ‚durch die zugleich sachliche und emotionale Stilisierung’ zu einer ‚formalen Änderung der Ausdrucks- und Denkweisen’ führen.“[14]

1.2.2 Weitere Perspektiven

Im Jahr 1916 richtete Karl Bücher an der Universität Leipzig das erste deutsche Institut für Zeitungskunde ein. Bücher verstand seine Tätigkeit als Direktor dieser Einrichtung als eine kulturpolitische Funktion, die auf die Bewahrung eines volkserziehenden Qualitätspressewesens abzielte.

1930 fand in Berlin der 7. Deutsche Soziologentag statt. Die beiden Heidelberger Professoren Carl Brinkmann und Hans von Eckhardt stellten drei unterschiedliche Perspektiven des soziologischen Interesses am modernen Zeitungswesen in den Mittelpunkt ihrer Vorträge: „1. die Implikatoren der privatwirtschaftlichen Struktur für die innere und äußere Pressefreiheit; 2. die Funktion und Wirkungsweise der Massenpresse in der sozio-politischen Auseinandersetzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schließlich 3. die kulturverändernde Wirkung eines primär auf die Faktoren ‚Leser’, ‚Inserenten’ usw. fixierten Massenpressewesen.“[15] Brinkmann sieht die Presse als einen Konstrukteur einer Öffentlichkeit, deren Bestimmung darin besteht, selbst ausgewählte Themenbereiche zu Massenangelegenheiten zu erklären. Die einzige Legitimation der Presse ist der in den Zeitungen und ihren Themen widerspiegelnde Bezug auf die Massen. Brinkmann vermisst am modernen Pressewesen eine unmittelbar politische Zielsetzung und eine auf gesellschaftliche Wertsysteme ausgerichtete Orientierung. Im Mittelpunkt steht alleine das Diktat der Masse, das seinen Ausdruck vor allem in unzähligen Unterhaltungsmaterien findet.

Dem gegenüber macht sich Eckhardt Gedanken über die „Führerfunktion“ der Massenmedien. Er sieht eine Verlagerung des politischen Machtkampfes:

„Nicht mehr die einst dominanten Parteien sind in der Lage, die Massen dauerhaft in diese Auseinandersetzung zu integrieren, da sich ihre Funktion auf die Wahrnehmung von Aufgaben in einem genau definierten und institutionalisierten Verfahren verschoben hat. Diese Aufgabe kommt vielmehr der Presse im Verbund mit dem seinerzeit neuen Medium ‚Radio’ zu. Zugespitzt bedeutet dies, daß in der modernen Massengesellschaft nicht mehr die Parteien die Politik, sondern die Presse die Parteien macht.“[16]

Die soziologischen Analysen dieser Zeit beschränkten sich allerdings weitgehend auf die gesellschaftliche Funktion der Presse. Ausgeklammert blieben Überlegungen über den damals schon feststellbaren ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandel und dessen direkte Folgen auf das Bewusstsein der Rezipienten. Allesamt Überlegungen, die Max Weber in der von ihm konzipierten und letztlich gescheiterten Enquete weiterführen wollte.

1.3 Systemtheorie

1.3.1 Kommunikation als soziales System

Die Systemtheorie hat ihren Ursprung in dem Widerspruch, dass das denkende Ich zwar die Vorstellung von Totalität entwickeln konnte, sich dabei aber selbst auszuschließen schien. Das Ganze ist aber ganz offensichtlich mehr als nur die Summe seiner Teile, doch wo liegt der Rest?

„Die Systemtheorie bot hier Lösungsmöglichkeiten dadurch, dass der Ich-Welt-Gegensatz oder die Differenz von Ganzem und der Summe der Teile aufgelöst wurde durch die System-Umwelt-Differenz. Ein System bezeichnet Elemente oder Objekte, die durch bestimmte Merkmale und Attribute in Beziehungen zueinander, in Interaktionen miteinander und damit in einen Sinnzusammenhang gebracht werden. Außerhalb des Systems liegt die Umwelt, die wiederum aus Systemen bestehen kann. Das gesamte Universum wird als Ansammlung von Systemen gedacht, wobei das einzelne System je nach Betrachterperspektive unterschiedliche Schnittstellen mit der Umwelt aufzeigen kann. Indem das Ich oder der Mensch bestimmte Funktionen in einem System übernimmt, wird er zum Systemelement. Die Frage, was ein System ausmacht, bzw. die Abgrenzung von System und Umwelt und die Funktion des Systemelements Mensch in diesem vernetzten Interaktionsfeld stehen im Zentrum dieses Zugriffs.“[17]

Die Systemtheorie geht von bestimmten Sozialsystemen aus, die exklusiv für die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme zuständig sind. Diese Exklusivität können die sozialen Systeme jedoch nur erhalten, wenn sie vier bestimmten Leitkriterien entsprechen: ihrer gesellschaftlichen Funktion, einer gewissen Problemorientierung, symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (wie Wahrheit, Eigentum, Liebe, Geld, Macht und Recht) sowie binärer Codes. Entlang dieser Leitkriterien entstanden Funktionssysteme wie die Politik, mit der Aufgabe verbindliche Entscheidungen herbeizuführen oder das Rechtssystem, mit der Funktion der Streitregulierung. Den Systemen entsprechende Codes sind dann z.B. Entscheidung/Nicht-Entscheidung für die Politik und Recht/Unrecht für das Rechtssystem. Diese Codes ermöglichen dann jedem einzelnen System klare Grenzen gegenüber anderen Systemen und der Umwelt zu ziehen.[18]

Kommunikation muss immer einen Urheber haben, dem eine Ausgangsaussage zugerechnet werden kann. In der Systemtheorie wird diese weithin verbreitete Vorstellung kritisiert. Nicht der Mensch, sondern nur die Kommunikation als ein von der menschlichen Wahrnehmung weitgehend unabhängiges Geschehen kann kommunizieren. Menschen stellen zwar eine wichtige Voraussetzung für Kommunikation dar, Einfluss auf Inhalte und Verlaufsformen können sie jedoch nicht nehmen. Systemtheoretiker begreifen Kommunikation als ein operativ geschlossenes soziales System, das seine Einheiten selbst produziert. Parallel existiert in der Umwelt des kommunikativen Geschehens das Bewusstsein als ein weiteres operativ geschlossenes System. Das Bewusstsein hat jedoch nicht die Möglichkeit dazu, einen direkten Zugang zu einem anderen Bewusstsein zu finden. Die Gesellschaft stellt als Artikulationshilfe das System der Kommunikation zur Verfügung. Somit bleibt es den technischen Medien vorbehalten, den Umbau der gesellschaftlichen Strukturen maßgeblich zu beeinflussen.

„Ein Kommunikationssystem hat, folgt man der Systemtheorie, keinen unmittelbaren Kontakt zu seiner Umwelt. Es kann nicht mit Ereignissen in seiner Umwelt kommunizieren. Es kann nur über Ereignisse kommunizieren. (...) Realität ist uns nur durch den Vorgang des Beobachtens und der Beschreibung gegeben. Sie ist zwar nicht (...) mit dem Vorgang ihrer Auszeichnung zu verwechseln, gleichwohl ist sie ein Strukturmoment des Beobachtens selbst, also etwas, auf das wir uns beziehen können, was ohne den Vorgang des Auszeichnens, also ohne den Gebrauch entsprechender Unterscheidungskriterien gar nicht erfahrbar wäre. Solche Kriterien sorgen für die erforderliche Selektivität bei der Aneignung der Wirklichkeit. Sie lassen bestimmte Ereignisse in den Vordergrund treten, während sie alles andere in den Hintergrund drängen. (...) Beschreibungen der Wirklichkeit, wie sie in Kommunikationssystemen angefertigt werden, sind keine Abbilder außerkommunikativer Sachverhalte, sondern symbolische Erzeugnisse, die sich zwar auf etwas außerhalb der Kommunikation beziehen, jedoch immer nur innerhalb des Systems Sinn ergeben.“[19]

Medien sollen jedoch nicht vollkommen abgeschottet und unabhängig von anderen Gesellschaftsbereichen aus operieren. Systemtheoretiker bestreiten lediglich, dass die Gesellschaft über einen direkten Zugriff auf die Medien verfügt. „Soziale Systeme funktionieren auf der Basis von Selbstorganisation und Selbstreferenz. Das heißt, sie erzeugen ihre internen Strukturen selbst und sie erzeugen ihre jeweiligen Zustände wesentlich durch ihre eigenen Bestandteile und nicht so sehr durch Einflüsse ihrer Umwelt. Sie sind also bis zu einem gewissen Grade autonom. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass solche Gesetze auch für die Medien und den Journalismus gelten: Je mächtiger, größer und komplexer Systeme werden, desto irrelevanter werden Normierungen, die von außen an das System herangetragen werden.“[20] Doch obwohl das System der Medien wie alle anderen Systeme auch selbstreferentiell und autopoietisch ist, unterliegt es dennoch in hohem Maße Interdependenzen zu anderen Systemen und zur Umwelt. So müssen beispielsweise Fragen des Medienrechts mit Vertretern des Rechtssystems oder der Politik erörtert werden. Soziale Systeme können nicht von außen gesteuert werden, das heißt sie sind operationell geschlossen. Informationell sind sie dagegen offen, sie sind in der Lage, gegebenenfalls eigene Operationen abzuändern, um so auf mögliche Zustandsveränderungen in der Umwelt reagieren zu können.

1.3.2 Selbstreferenz vs. Fremdreferenz

Nach Luhmann konstruieren die Medien zwei unterschiedliche Formen der Realität. Luhmann unterscheidet zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Das Konstrukt Selbstreferenz zielt dabei auf das ‚System Massenmedium’, die Fremdreferenz hingegen auf die Umwelt, also den Lebensraum der Rezipienten.

„Das System setzt sich selbst, ohne durch die eigenen Operationen erreichbar zu sein, als selbsterzeugte Irritation voraus und befasst sich dann mit der Umarbeitung von Irritation in Information, die es für die Gesellschaft (und für sich selbst in der Gesellschaft) produziert. Eben deshalb ist die Realität eines Systems immer ein Korrelat der eigenen Operationen, immer eigene Konstruktion.“[21]

Als Repräsentanten der Gegenseite, also der Fremdreferenz, sieht Luhmann die Themen der Kommunikation. Themen organisieren nicht nur das Gedächtnis der Kommunikation, sondern bündeln auch Beiträge zu Komplexen des Zusammengehörigen. Der Rezipient muss erkennen können, ob ein Thema beibehalten und fortgesetzt oder ob es gewechselt wird. „Auf thematischer Ebene kommt es deshalb zu einer laufenden Abstimmung von Fremdreferenz und Selbstreferenz innerhalb der systemeigenen Kommunikation.“[22] Themen haben zudem die Aufgabe die strukturelle Kopplung der Massenmedien mit anderen Gesellschaftsbereichen aufrechtzuerhalten, können doch die Medien mit Hilfe des äußerst breitgefächerten Themenkomplexes die unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche erhalten und so auch auf sie Einfluss nehmen. Entscheidend sind aus systemtheoretischer Sicht jedoch weniger die konkreten Inhalte der Medienkommunikation, sondern weit mehr die Tatsache, dass ein bestimmtes Thema überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Luhmann unterscheidet zwischen Themen der Kommunikation auf der einen Seite und Funktionen der Kommunikation auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung entspricht der Unterscheidung zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz. Mit ihr gewinnt der Medienschaffende Freiheiten in der Wahl der Themen und vor allem im Weglassen von Informationen. Wenn der Journalist alleine die Funktion im Auge hat, finden schon mal Meldungen, die zwar falsch sind, aber einen hohen Sensationswert haben, den Weg ins Blatt. Der Code des Systems ist dabei die Unterscheidung von Information und Nichtinformation. Information ist dabei der Wert, mit dem das System die Möglichkeiten seines eigenen Operierens bezeichnet. Damit das System aber eine eigene Selektion zu organisieren imstande ist, bedarf es der Möglichkeit, etwas nichtinformativ halten zu können. Die Medien produzieren allerdings automatisch auch selbst immer wieder Nichtinformationen, werden doch Informationen mit dem Zeitpunkt ihrer Übermittlung umgehend zu Nichtinformationen, denn mit ihrer Wiederholung behält diese Nachricht zwar ihren Sinn, aber ihr Informationswert ist dann natürlich gleich Null. Zwei wesentliche Faktoren stehen hinter dem Begriff Information: Information kann auf der einen Seite nur in Form einer Überraschung auftreten, da die Gesellschaft in geradezu neurotischer Manier den Wunsch nach immer Neuem verspürt. Auf der anderen Seite muss die Information aber auch immer als Komponente von Kommunikation zu verstehen sein. Um eine Meldung also als neu erkennen zu können, benötigt der Leser vertraute Kontexte wie Affären, Reformen aber auch Unfälle und Katastrophen. Aufgabe der Massenmedien ist es nun, im Hinblick auf breite Empfängerkreise für eine möglichst leichte Verständlichkeit der Information zu sorgen.

Luhmann fragt sich, welche Gesellschaft entsteht, wenn sie sich laufend und dauerhaft durch die Massenmedien über sich selbst informiert.

“In der Darstellung der Gesellschaft erscheinen (dann) vor allem die Brüche – sei es auf der Zeitachse, sei es im Sozialen. Konformität und Einvernehmen, Wiederholung immer derselben Erfahrungen und Konstanz der Rahmenbedingungen bleiben entsprechend unterbelichtet. Unruhe wird gegenüber Ruhe aus Gründen des professionellen Könnens der Mediengestalter bevorzugt. Dass überhaupt diese Achse für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft gewählt wird und nicht irgendeine andere, ist bedenkenswert, und wenn sie gewählt wird, ist kaum eine andere Option möglich als für die Seite, ‚where the action is’. Mit dieser Art Selbstbeobachtung reizt die Gesellschaft sich selbst zu ständiger Innovation. Sie erzeugt ‚Probleme’, die ‚Lösungen’ erfordern, die ‚Probleme’ erzeugen, die ‚Lösungen’ erfordern. Sie reproduziert eben damit zugleich Themen, die die Massenmedien aufgreifen und in Informationen transformieren können.“[23]

Nach Luhmann präferieren Massenmedien moralische Wertungen. Was als Realität nicht ausreichend zur Geltung kommen kann, wird aus moralischen Beweggründen gefordert. Die Medien bestimmen die Art und Weise, wie die Welt zu lesen ist. Die unaufgeregte Normalität wird gänzlich ausgeklammert, die Medien sind ständig auf der Suche nach Konflikten, die es zu schlichten gilt. Moral dient als Ergänzung zur Selektivität. Der ‚Ist-Zustand’ wird laufend reproduziert, um ihm dann entgegenzusetzen, wie es eigentlich sein sollte. „Allgemein handelt es sich beim Aussagenentstehungssystem Journalismus um ein soziales System mit der zentralen Funktion, aktuelle Informationen aus verschiedenen Wirklichkeitsbereichen oder sozialen Systemen zu sammeln, zu selektieren und komprimiert sowie transformiert der sozialen Umwelt wieder zur Verfügung zu stellen.“[24]

1.3.3 Äquivalenz-funktionalistische Systemtheorie

Als ein herausragender Vertreter einer äquivalenz-funktionalistischen Systemtheorie, der die Leistungen des Journalismus im Sozialsystem der Gesellschaft zu erklären versucht, gilt Manfred Rühl, den Achim Baum in seinem Werk Journalistisches Handeln zitiert. Rühl hat die „Vorstellung eines sozialen Systems, das aus sinnvoll zusammengehörigen faktischen Handlungen besteht. Bei diesem Systemverständnis handelt es sich nicht um ein reines Begriffssystem, sondern um ein Aktionssystem, das sich auf empirisch zu ermittelnde Handlungsabläufe bezieht.“[25] Die innerhalb einer Redaktion tätigen Journalisten sieht Baum als „Handlungssysteme“, die einzelne Person gilt hingegen als systemextern. Der Sinn des redaktionellen Handelns liegt in der „Ordnung von Erwartungen“. Die Redakteure erwarten von der Umwelt bestimmte und bestimmbare Ereignisse, auf welche sie dann reagieren können, um wiederum bestimmte Erwartungen zu hegen. „In diesem ständigen Interaktionsprozess zwischen Redaktion und Umwelt sollen sich die Strukturen des sozialen Systems dynamisch stabilisieren und so eine Leistungseinheit bilden, die permanent Informationen und Handlungen aus vielfachen, unüberschaubaren Umwelten selektiert, kurz: Komplexität reduziert.“[26] Die Funktion einer journalistisch arbeitenden Redaktion sieht Rühl in einem durch systeminternen Prämissen gesteuerten Entscheidungshandeln, das an Fakten, Normen und Zwecken interessiert ist. Drei unterschiedliche Strukturgebilde stabilisieren die Grenze zwischen dem System Journalismus und seiner Umwelt: die Techniken der Recherche oder des Redigierens sowie Darstellungsformen als sachliche Struktur, journalistische Werte und Normen als zeitliche Struktur und zuletzt die Rollen und Positionen als soziale Struktur. Baum sieht aber die Problematik, jedes Geschehen auf der lokaljournalistischen Ebene, streng nach systemtheoretischen Gesichtspunkten zu beurteilen: „Ob (...) etwa die Versuche einzelner Bürgermeister, Einfluss auf die Berichterstattung der örtlichen Presse zu nehmen, mit dem Parameter der System/Umwelt-Rationalität nicht überinterpretiert werden, ist zumindest eine offene Frage.“[27] Eines der wichtigsten Prinzipien Rühls – nämlich die Unpersönlichkeit des modernen Journalismus – stellt Baum infrage. Gerade freie Journalisten, die überwiegend von der lokalen Presse Aufträge erhalten, beharren oftmals auf ihrem autonomen Status und setzen sich gegen eine Einbindung in redaktionelle Strukturen zur Wehr. Auch wenn ein Redakteur beschließen sollte, auf eigene Faust investigativ arbeiten zu wollen, sieht Baum die systemtheoretische Erklärung, dass lediglich einzelne Journalisten sich nicht in jedem Fall an den Erwartungen orientieren, als verfehlt an.

Die Strukturen des Systems der Massenmedien betreffend, geht Klaus-Dieter Altmeppen auf seinen Kollegen Bernd Blöbaum ein:

„Blöbaum hält es für zweckmäßig, von Journalismus erst dann zu reden, wenn hinreichend Strukturen vorhanden sind. Zu diesen Strukturen gehören für ihn journalistische Rollen, journalistische Programme und Vermittlungsformen und journalismusspezifische Organisationen. Zu den Rollen gehören vor allem die Journalistinnen und Journalisten in ihrer Berufsrolle, aber auch Verleger und Rezipienten werden nach Blöbaum über Rollen in das System integriert. Journalistische Programme bestehen aus den Darstellungsformen und den Arbeitstechniken, die journalistischen Organisationen sind Zeitungen und Redaktionen. Seine Handlungs- und Entscheidungsprogramme entwickelt der Journalismus (...) entlang des Codes informativ/nicht informativ.“[28]

Mit der Definition des Codes stimmt Blöbaum folglich mit Luhmann überein.

1.4 Konstruktivismus

Werner Faulstich sieht den Konstruktivismus als eine interessante Spielart des systemtheoretischen Denkens, die den Versuch unternimmt, den Begriff des technischen Mediums (aus den kommunikationstheoretischen Ansätzen) und den des sozialen Mediums (nach Luhmann) wieder zusammenzudenken.

Der Konstruktivismus geht in seiner radikalen Form davon aus, dass „alle Erkenntnisse und Wahrnehmungen nicht auf unmittelbaren Einflüssen aus einer Umgebung beruhen. Und dass Wahrnehmungen und Theorien nichts als Konstruktionen des Gehirns bzw. der Gehirne der Wissenschaftler sind – erst einmal ganz unabhängig von einer irgendwie gearteten objektiven Wirklichkeit und nur entlang der inneren Prozesse und Reproduktionsbedingungen, der Autopoiesis, der Selbstkonstruktion der Gehirne und der sie tragenden Organismen.“[29] Die Autopoetisierung besteht auf dem hier behandelten Gebiet in der Selbst-Reproduktivität des Journalismus. Das heißt, dass journalistische Quellen im zunehmenden Maße andere journalistische oder aber virtualisierte Quellen sind und nicht-journalistische Quellen wie Politiker oder Künstler eher abnehmen. Stefan Weber geht allerdings in seinem Text[30] davon aus, dass der Radikale Konstruktivismus in der Fragestellung danach, wie die Kommunikation der Massenmedien funktioniert, nur wenig hilfreich ist. Nachbartheorien des Konstruktivismus, wie die bereits angerissene autopoietische Systemtheorie Luhmanns, können aber durchaus dazu beitragen, das Systemfeld der Medienkommunikation zu bestimmen. Zentral ist hierbei die Unterscheidung zwischen dem Begriff der Publizistik auf der einen Seite und dem der Öffentlichkeit auf der anderen Seite zu sehen. Innerhalb des Subsystems der Publizistik hat sich dabei ein weiteres Subsystem ausdifferenziert: das des Journalismus. Während unter Publizistik jenes System verstanden wird, das generell Informationen veröffentlicht, ist das journalistische System jenes, das aktuell Informationen preisgibt. Diese Aktualität ist einerseits über das Dual neu/alt codiert, andererseits über alle situativ relevanten Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwerte. Unter Öffentlichkeit wird die Seite der Konsumenten der Publizistik verstanden, Publikum ist dabei jener Teilbereich der Öffentlichkeit, der die journalistischen Endprodukte beobachtet, das heißt die Rezeption sowie Konstruktion aktueller Informationen. Weber sieht mit Hilfe der Systemtheorie das Feld der Medienkommunikation präzise abgesteckt. Die Frage die ihn nunmehr beschäftigt, ist jene danach, ob den Medien eine Wirklichkeit vorausgeht, aus der gezielt selektiert wird, oder konstruieren sie diese Realität? Steht das Ereignis vor oder nach den Medien? Das realistische Modell der Nachrichtenselektion steht dem konstruktivistischen Modell der Nachrichtenkonstruktion gegenüber. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht darin: „Während es konstruktivistisch operierenden Medien um die eigene Wirklichkeit, um die Unterscheidung zu anderen Medienangeboten, kurz: um die Differenz, um etwas anderes geht, beabsichtigen realistisch operierende Medien, dasselbe vor den anderen Medien zu berichten: es geht ihnen also um Identität, Aktualität und Informationsvorsprung.“[31] Dieses Modell der aktiven Konstruktion von Realität sieht Weber hauptsächlich in den Boulevardmedien, die realistische Denkrichtung eher bei den sogenannten „Qualitätsmedien“ verankert. Auffällig ist die konstruktivistische Tendenz besonders in der strategischen Planung von Themen-Kampagnen über längere Zeiträume. Anhand des Nachrichtenfaktors Dauer soll diese Beobachtung in der folgenden Inhaltsanalyse näher untersucht werden. Die steigende Kommerzialisierung bringt es aber mit sich, dass sich beide Ansätze mehr und mehr vermischen.

Zudem sieht auch Weber (wie bereits angesprochen) eine zunehmende Autologisierung; das heißt Themen entstehen immer weniger durch Inputs aus der Außenwelt und mehr durch Eingaben innerhalb der journalistischen Zirkel oder aber durch das Phänomen der Virtualisierung über das Internet. Doch Medien bedienen sich bei ihrer Themensuche nicht nur immer häufiger bei der Konkurrenz, sie beschäftigen sich auch verstärkt thematisch mit den anderen Anbietern – Weber spricht in diesem Zusammenhang von Metamedialisierung. Unter Kybernetisierung versteht man die Tatsache, dass sich journalistische Arbeitsroutinen verstärkt auf andere journalistische Arbeitsroutinen und weniger auf die Schar der Rezipienten beziehen. Interessant ist, was die Journalisten selbst interessiert. Gerade im Fernsehen, aber auch in den Printmedien ist zusätzlich ein Trend hin zur Fiktionalisierung zu erkennen. Medienangebote sind auch und gerade dann fiktional, wenn reine Realitätsabbildung suggeriert wird. Der Konstruktivismus geht von einer steigenden Autonomie und gleichzeitig einer geringer werdenden Interdependenz des Journalismus mit anderen Umweltsystemen aus. Luhmann ist der Überzeugung, dass die Medien die Gesellschaft irritieren und nicht integrieren wie es das klassisch-realistische Modell vorsieht. Journalismus löst somit keine Probleme, sondern schafft im Gegenteil konstant neue. Weber unterstützt diese Auffassung.

Für Weischenberg und Scholl ist die Figur des Beobachters das zentrale Element einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Von ihr aus gesehen kann man direkt auf die Qualität schließen, die bestimmte Aussagen über die Welt besitzen können. Jede Beobachtung hat einen Eigenwert, nämlich das, was der Beobachter aufgrund der von ihm zu treffenden Unterscheidungen sehen kann und was nicht. Letzteres wird als „blinder Fleck“ der Beobachtung bezeichnet. Berichterstattung muss dabei das Ziel haben, möglichst nah an die Ereignisse und damit an die ‚Realität’ heranzukommen.

„Diese Vorstellung von einer Realität außerhalb des Beobachters ist im Journalismus ungebrochen – auch wenn vielen Journalisten bewusst sein müsste, dass ihre Beobachtungen auf Unterscheidungen beruhen und dass es für sie unmöglich ist, Abbilder der Welt zu liefern. Diese Einsicht impliziert keineswegs, der sogenannten objektiven Berichterstattung abzuschwören, alle bewährten beruflichen Methoden aufzugeben, nicht mehr zwischen richtig und falsch unterscheiden zu wollen und ihre Informationsangebote als bloße Erfindungen zu begreifen. Das zumindest intuitive Wissen um den blinden Fleck sensibilisiert aber für die Grenzen der eigenen Wahrnehmung und die Probleme von Wirklichkeitskonstruktionen im System Journalismus.“[32]

Journalisten sind Beobachter zweiter Ordnung, die die Ergebnisse von selbstgemachten Unterscheidungen präsentieren und somit auch Wirklichkeit konstruieren. Diese Wirklichkeitskonstruktionen sind aber nicht gleichzeitig immer willkürlich. Es handelt sich um eine sozial konstruierte Wirklichkeit, da sie immer mit anderen abgestimmt ist.

„Radikale Konstruktivisten gehen davon aus, dass sich Wirklichkeitsverzerrungen, werden sie von Massenmedien transportiert, quasi automatisch in sozialen Aktionen der Rezipienten manifestieren. Solche Thesen berücksichtigen allerdings weder die Tatsache, dass die Rezipienten selber aktiv allen Kommunikaten Bedeutung zuweisen müssen, noch die Erkenntnis, dass Medien-Konstrukte keine willkürlichen Produkte sind, sondern in dem Maße gesellschaftlichen Wirklichkeiten entsprechen, wie Kommunikatoren in soziale Netzwerke eingebunden sind. Wirklichkeit wird also nicht via Massenmedien, sondern gesellschaftlich konstruiert. (…) Journalisten schaffen eine ‚Medien-Wirklichkeit’. Doch die wird in der Regel auch von Rezipienten als eine solche erkannt, wird interpretiert und vor dem Hintergrund von Erfahrungshorizonten, gesellschaftlichen Lernprozessen und Wissenszusammenhängen gedeutet.“[33]

1.5 Handlungstheorie

Eine der Grundvoraussetzungen journalistischen Handelns besteht in der Tatsache, dass soziales Handeln als eine Kategorie verstanden wird, die einerseits abhängig von bestehenden Strukturen ist, andererseits aber auch in der Lage ist, Strukturen aktiv zu bilden und zu gestalten.[34] Handeln ist nach Max Weber einzig und allein sozial zu verstehen, es nimmt auf das Verhalten anderer Bezug und orientiert sich daran auch in seinem weiteren Ablauf. Journalistisch wird dieses Handeln nach Altmeppen dann, wenn es innerhalb journalistischer Organisationsprogramme wie Redaktionen oder Journalistenbüros geschieht. Das Ziel einer jeden journalistischen Handlung ist die Veröffentlichung. Um das Ziel zu erreichen bestehen organisatorische Elemente, Hierarchien und Arbeitsanleitungen – allesamt geplante und bewusst eingerichtete Strukturen. Das situative Handeln wird durch das Festlegen von Entscheidungsmustern (zum Beispiel bei der Wahl der Themen), von Darstellungsformen und von Arbeitsabläufen (zum Beispiel bei der Suche nach dem richtigen Rechercheweg) bestimmt. Auf der anderen Seite bestehen auch Wege zur Veröffentlichung, die lediglich vage oder gar nicht vorgezeichnet sind und die von den Journalisten eigenverantwortlich begangen werden können.

Eine wichtige Rolle spielt der Wissensvorrat, er bringt Struktur in das soziale respektive journalistische Handeln. Journalisten reproduzieren ihre berufliche Wirklichkeit, indem sie auf ihre Erfahrungen in ihrer Arbeit, aber auch auf den Wissensvorrat, den sie in der außerberuflichen Welt erworben haben, zurückgreifen. Der individuelle Fundus an Wissen wird beim Eintritt in den Journalismus in das organisatorische Handeln überführt und gleichzeitig mit den Erfahrungen der generalisierten Handlungsorientierungen vereint. Sollten die Medienschaffenden einmal einer ungewohnten Situation gegenüberstehen, suchen sie in ihrem Wissensvorrat nach potentiellen Lösungsansätzen. Egal wie sich letztlich die Situation aufklärt – geschaffen werden in jedem Fall neue Handlungsalternativen und folglich auch neue Strukturen. Jenes Wissen, das nur durch eine fundierte Ausbildung sowie durch ‚learning by doing’ erlangt werden kann, bezeichnet Altmeppen als Routine- und Gebrauchswissen. Um den Bereich der Fachkompetenz (Selektieren, Recherchieren, Schreiben) einerseits und den der Vermittlungskompetenz (Präsentations- und Darstellungsformen) andererseits abdecken zu können, ist die Aneignung dieses Wissens unverzichtbar. Das journalistische Handeln muss auf die Rhythmen der Produktion, auf temporale Typisierungen abgestimmt sein – im Printbereich entspricht das dem fixierten Redaktionsschluss.

Mit Hilfe von Jürgen Habermas erscheint es möglich, den theoretischen Kreis zu schließen und wieder auf systemtheoretische Überlegungen zurückzukommen:

„Habermas’ Konkretisierung des Systembegriffs, der die Erhaltung des materiellen Substrats einer Lebenswelt erfassen soll, verdankt seine Charakteristika dem handlungstheoretischen Ausgangspunkt. Der Handlungsbegriff ist der höchste Punkt der Konstruktion, mit dem alle abgeleiteten Bestimmungen in Einklang gebracht werden müssen. Das schränkt den Bereich der möglichen Interpretationen des Systembegriffs von vornherein ein: Gesellschaft kann als System nur System von Handlungen sein. Da sich die symbolische Reproduktion der Gesellschaft (als Lebenswelt) über das Medium verständigungsorientierten Handelns bezieht, also in Form einer sozialen Integration, die Handlungskoordinierung ist und näher die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abstimmt, bleibt für die systemische Integration der Gesellschaft (als System) nur noch die Negation der Bestimmungen sozialer Integration: Die Bestimmung, daß systemische Integration in einer funktionalen Vernetzung von Handlungsfolgen besteht folgt analytisch aus Habermas’ handlungstheoretischen Ansatz.“[35]

1.6 Agenda-Setting-Theorie

Als unausweichlich erscheint bei einer eingehenderen Beschäftigung mit der medialen Auswahl der Themen ein kurzer Schwenk zur Wirkung dieser Auswahl auf die Rezipienten. Im Zentrum dieser speziellen Forschungsrichtung steht der Begriff des ‚Agenda-Setting’.

Die zentrale Vermutung der Agenda-Setting-Hypothese besteht darin, dass die Gewichtung der Themen in den Medien Folgen für die individuelle Themengewichtung eines jeden Rezipienten und damit auch auf „unser aller Bild von der Welt“ zeitigt. Im Zentrum des Interesses steht die Frage, wie die Massenmedien den Grad der Wichtigkeit beeinflussen, der einem Thema im öffentlichen Diskurs zukommt. Dabei geht es weit weniger um die Übernahme bestimmter Meinungen oder Einstellungen, sondern um die vorrangig unterbewusste Gestaltung des Bildes von der Welt. Der Rezipient überträgt die Gewichtung in der Medienberichterstattung auf seine individuelle Gewichtung von relevanten Themen.

„Die Positionierung von Nachrichtenitems in der Berichterstattung kann also, sofern sie gezielt geschieht, durchaus den Charakter einer subtilen Persuasionsstrategie mittels der Medien annehmen, wenn dem Publikum die Wichtigkeit von Themen suggeriert wird, die wiederum mit bestimmten Werten besetzt sind. Früh schon wurde darauf verwiesen, dass der Zusammenhang zwischen Themengewichtung und Einstellungen nur schwer auszudifferenzieren sei. Die Grenze zwischen Wissensvermittlung und den persönlichen Prioritäten bzw. Einstellungen zu diesem Wissen ist fließend und dürfte bloß analytische Bedeutung besitzen. Dies führt zu dem Schluss, dass Agenda-Setting weniger ein Modell begrenzter Medieneffekte denn ein begrenztes Modell von Medieneffekten ist.“[36]

Die Wissenschaft spricht von Primär- sowie Sekundärerfahrungen, die das Bild des Einzelnen von der Wirklichkeit bestimmt. Primärerfahrungen sammelt dabei jeder insbesondere auf der lokalen Ebene mit dem direkten Zugang, der Beteiligung an einer realen Alltagswelt. Die von den Medien vermittelten Sekundärerfahrungen erlauben es dem Individuum, sich über die begrenzte Welt eigener sozialer Kontakte hinaus zu informieren und zu orientieren. Die Rangfolge relevanter Themen, wie sie von den Medien konstruiert wird, übt einen Einfluss auf jenes Bild aus, das sich das Individuum von der Wirklichkeit macht. Der Mensch ist in der Lage, in einem Rekonstruktionsprozess Primär- und Sekundärerfahrungen zu seiner eigenen, individuellen Realität zusammenzufassen. In ferneren Lebensbereichen, wie sie auch schon im kommunalen Kommunikationsraum bestehen, legen die Medien die Botschaften fest, auf deren Grundlage die Individuen ihre jeweilige Vorstellung von Realität konstruieren. Für ‚entfernte’ Themen fehlt dem Einzelnen die Möglichkeit zur Überprüfung der transportierten Sachverhalte. „Die Betrachtung der objektiven Realität wird besonders in den dem Individuum fernen Bereichen durch die selektive symbolische Realität der Medienberichterstattung gebrochen. Das Medium selbst bricht seine selektive Realitätsdarstellung nochmals durch die ihm offen stehenden Mittel der Akzentuierung. Einzelne Informationspartikel werden aus dem endlosen Nachrichtenstrom herausgelöst und mit formalen Kennzeichen von Relevanz versehen.“[37]

[...]


[1] Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit, München 1968, S. 42

[2] Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9.

[3] Vgl. Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Massenmedien, Freiburg/München 1976, S. 27f.

[4] Die aufgeführten Werke sind mit Ausnahme der Wertheim-Studie im angehängten Literaturverzeichnis erfasst.

[5] Vgl. Kurp, Matthias: Lokale Medien und kommunale Eliten, Opladen 1994, S. 78ff.

[6] Ebd., S. 82.

[7] Vgl. Faulstich Werner: Medientheorien, Göttingen, 1991, S. 15ff.

[8] Neumann-Braun, Klaus; Müller-Doohm, Stefan: Öffentlichkeit – Kultur – Massenkommunikation, Oldenburg: 1991, S. 8ff.

[9] Lepsius, Rainer M.; Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.): Max Weber Briefe 1909 – 1910, Tübingen 1994, S. 644..

[10] Weber, Max: Vorbericht, Heidelberg 1910, S.1.

[11] Ebd., S. 2.

[12] Ebd., S. 5f.

[13] Ebd., S. 6.

[14] Müller-Doohm, Neumann-Braun (1991), S. 13.

[15] Joußen, Wolfgang: Massen und Kommunikation, Weinheim 1990, S. 66f.

[16] Ebd., S.68.

[17] Neumann-Braun, Müller-Doohm (1991), S. 153

[18] Vgl. Altmeppen, Klaus-Dieter: Redaktionen als Koordinationszentren, Opladen 1999, S. 27f.

[19] Wehner, Josef: Wie die Gesellschaft sich als Gesellschaft sieht – elektronische Medien in systemtheoretischer Perspektive, in: Neumann-Braun, Müller-Doohm (2000), S. 99f.

[20] Weischenberg; Scholl: Konstruktivismus und Ethik im Journalismus, in: Rusch; Schmidt (1995), S. 232f.

[21] Luhmann (1996), S. 27.

[22] Ebd., S. 28.

[23] Ebd., S. 141f.

[24] Kurp (1994), S. 75.

[25] Rühl: Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System, Gütersloh 1969, S. 35; zit. nach: Baum, Journalistisches Handeln, Opladen 1994, S.327.

[26] Baum (1994), S. 327.

[27] Ebd., S. 330.

[28] Altmeppen (1999), S. 30.

[29] Esser, Hartmut: Soziologie – Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/Main; New York 1996, S.54.

[30] Vgl. Weber: Was können Systemtheorie und nicht-dualisierende Philosophie zu einer Lösung des medientheoretischen Realismus/Konstruktivismus-Problems beitragen? in: Rusch; Schmidt (1999), S.189ff.

[31] Ebd., S. 206.

[32] Weischenberg; Scholl in: Rusch; Schmidt (1995), S. 218.

[33] Kurp (1994), S. 119.

[34] Vgl. Altmeppen (1999), S. 49ff.

[35] Künzler, Jan: Medien und Gesellschaft, Stuttgart 1989, S. 53.

[36] Rössler, Patrick: Agenda-Setting, Opladen 1997, S. 20.

[37] Ebd., S. 29.

Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Die Konstruktion medialer Realität in der Lokalzeitung - Eine vergleichende Untersuchung zur Themenselektion in der Kölner Lokalpresse
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Soziologisches Institut)
Veranstaltung
Soziologie
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
101
Katalognummer
V13551
ISBN (eBook)
9783638191845
ISBN (Buch)
9783638698726
Dateigröße
920 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
1. Teil: Mediensoziologische Grundlagen 2. Teil: Inhaltsanalytischer Vergleich der Zeitungen Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau, Express, Bild-Köln
Schlagworte
Konstruktion, Realität, Lokalzeitung, Eine, Untersuchung, Themenselektion, Kölner, Lokalpresse, Soziologie
Arbeit zitieren
Moritz Wohlrab (Autor:in), 2003, Die Konstruktion medialer Realität in der Lokalzeitung - Eine vergleichende Untersuchung zur Themenselektion in der Kölner Lokalpresse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13551

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