Die Anatomie der Weltwirtschaftskrise 1929. Ursachen, Verlauf, Gegenmaßnahmen


Seminararbeit, 2009

40 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: Die Mutter aller Krisen?

2. Ursachen
2.1 Erster Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise
2.2 Reparationen und Währungskrise
2.3 Überkapazitäten und Agrarkrise
2.4 Spekulationen und Bankenkrise

3. Verlauf
3.1 „Zündfunke“: Die New Yorker Wallstreet
3.2 „Brandnester“: USA und Deutschland
3.3 „Flächenbrand“: Afrika, Asien, Lateinamerika

4. Gegenmaßnahmen
4.1 Von Hoover zu Roosevelt: USA
4.2 Von Brüning zu Hitler: Deutsches Reich
4.3 Von der Neoklassik zu Keynes: Wirtschaftspolitik im Rest der Welt

5. Fazit: Die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise?

6. Abkürzungsverzeichnis

7. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung: Die „Mutter“ aller Krisen?

Die Weltwirtschaftskrise 1929 gilt als die erste tiefe ökonomische Krise einer seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend interdependenten Weltwirtschaft. Ihre globalen Auswirkungen lähmten in den 1930er Jahren die Volkswirtschaften der politischen Führungsnationen und begünstigten den Aufstieg diktatorischer Regime in Asien, Europa und Lateinamerika. Im Epizentrum der Krise – in den Vereinigten Staaten von Amerika – brannte sie sich als „Great Depression“ tief ins kollektive Gedächtnis ein: Nach dem Sezessionskrieg im 19. Jahrhundert stellte die ökonomische Krise aus US-amerikanischer Sicht die „zweitgrößte Herausforderung des politischen Systems“ dar, „die – wie im Sezessionskrieg – mit großen Opfern unter Führung eines großen Präsidenten gemeistert wurde“ (Adams 2000, S. 59).

Der Sturzflug der Aktienkurse am 25. Oktober 1929 an der New York Stock Exchange – dem sog. „Schwarzen Freitag“ – folgte ein Wirtschaftseinbruch, der sich rasch auf alle marktwirtschaftlich orientierten Industrieländer ausbreitete. Dies war möglich, weil sich im 19. Jahrhundert infolge technischer Innovationen im Verkehrswesen und als Ausfluss der Kolonialisierung die Handelsbeziehungen zwischen den industriell am weitesten entwickelten Wirtschaftsräumen intensiviert hatten. Unter Führung Großbritanniens entstand eine liberale Weltwirtschaftsordnung, die durch eine internationale Leitwährung (britisches Pfund), Währungsstabilität (Goldstandard) und Freihandel gekennzeichnet war. Die internationalen Kapitalbewegungen nahmen deutlich zu, die Zahl der zwischenstaatlichen Handelsverträge stieg an. Der Bau von Wasserstraßen und Eisenbahnstrecken erschloss weite Teile der Welt verkehrstechnisch und schuf die Voraussetzungen für eine internationale Arbeitsteilung (Vgl. Brockhaus 2006, S. 723ff).

Der Erste Weltkrieg unterbrach die internationale realwirtschaftliche Integration – man würde heute von Globalisierung sprechen – der Vorkriegsjahre jäh. Sein Ausgang besiegelte den ökonomischen Abstieg des „alten“ Europas und den Aufstieg der USA zur führenden Weltwirtschaftsmacht. Innerhalb der bisherigen bizentrischen Weltwirtschaftsordnung (USA-Europa) kam es zu einer Kräfteverschiebung zugunsten der Vereinigten Staaten und später auch Japans. Der Anteil der Volkswirtschaften Europas am Welthandel sank (1913 bei 62 Prozent), der US-amerikanische stieg (1913 bei 13 Prozent). Zudem hatten sich die kriegsführenden Staaten durch Kredite bei den US-Amerikanern verschuldet. Aus dem ehemals kolonialen Schuldnerland war ein Gläubigerstaat geworden, während sich die Mächte des „Old Europe“ gegenseitig militärisch und wirtschaftlich ruiniert hatten (Vgl. Ebd.).

Die Weltwirtschaftskrise 1929 bleibt ohne Kenntnisnahme dieses finanzielle Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und den europäischen Wirtschaftsmächten unverständlich. Ihre komplexen Ursachen sind in der Literatur von verschiedenen Seiten betrachtet worden: Sie wurde sowohl als klassische Überproduktionskrise nach dem Boom der 1920er Jahre als auch als Börsenspekulationskrise interpretiert. Das internationale Gleichgewicht schien durch einen unteralimentierten Kapitalmarkt und einen überalimentierten Geldmarkt gestört. Für weitere Friktionen sorgten Geldtransfers (Reparationen) der Besiegten (vornehmlich Deutsches Reich) an die Siegermächte des Weltkriegs (vor allem Großbritannien, Frankreich, USA, Italien), denen keine entsprechenden Warenströme und Dienstleistungen gegenüberstanden. Neue Schutzzölle z. B. im Bereich der Landwirtschaft behinderten den Welthandel in der Zwischenkriegszeit zusätzlich (Vgl. HdWW 1982, S. 137).

Die vorliegende Hausarbeit möchte nicht nur die Ursachen der Weltwirtschaftskrise darstellen und systematisieren, sondern auch ihren weltweiten Verlauf nachzeichnen. Selbstredend können das vielwüchsige Ursachengeflecht, die zahlreichen Erscheinungs- und Verlaufsformen der Krise dabei nur skizzenhaft behandelt werden. Im Kern konzentriert sich die nachfolgende Untersuchung auf die Ereignisse in den Vereinigten Staaten und in Deutschland als den zwei bedeutsamsten und am meisten von der Krise betroffenen Nationalökonomien. Dennoch sollen auch die Auswirkungen auf die Peripherie der Weltwirtschaft nicht verschwiegen werden. Im Ergebnis geht es um die Kenntlichmachung der Anatomie der Weltwirtschaftskrise 1929, die nicht wenige Analytiker als „Mutter“ aller Krisen, gewissermaßen als eine „Referenzkrise“ oder „Blaupause“ für nachfolgende Wirtschaftskrisen bewertet haben (Siehe z. B. James 2003).

In einem dritten Untersuchungsschritt sind schließlich die wichtigsten staatlichen Gegenmaßnahmen hervorzuheben, die aus der Krise führten. Deutschland und die Vereinigten Staaten schlugen hier erstaunlich ähnliche Wege unter ganz unterschiedlichen Bedingungen ein. Weder das Präsidialkabinett unter Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) noch der republikanische US-Präsident Herbert Hoover vermochten die Krise mit den klassischen Mitteln der damals herrschenden Meinung in den Wirtschaftswissenschaften zu bewältigen. Dies führte 1932/1933 in Deutschland zur nationalsozialistischen Machtergreifung – die in der Tat eine legale Revolution darstellte – und in den Vereinigten Staaten zur Präsidentschaft des Demokraten Franklin D. Roosevelt. Bei aller Differenz zwischen einem diktatorischen und einen demokratischen Regime setzten Hitler und Roosevelt gleichermaßen auf eine aktivere Rolle des Staates, die sich in Deutschland in einer Beschäftigungs-, Aufrüstungs- und Autarkiepolitik sowie in den USA in der Politik des sog. „New Deal“ äußerte.

2. Ursachen

Die Ursachenanalyse der Weltwirtschaftskrise ist nicht zu Unrecht als „heiliger Gral der Makroökonomie“ bezeichnet worden. Anhand ihrer komplexen Wirkungszusammenhängen wurden nicht nur Generationen von Ökonomen geschult, sie war einer der Gründe, warum die Makroökonomie überhaupt entstand und ein wirtschaftswissenschaftlicher Paradigmenwechsel – Abkehr von der Neoklassik – in den 1930er und 1940er Jahren einsetzte (Vgl. Bernanke 2008).

In Bezug auf die Weltwirtschaftskrise 1929 kann man grundsätzlich zwischen mono- und polykausalen Erklärungsmodellen unterscheiden. Im Gegensatz zu monokausalen Erklärungsmustern der marxistischen Konjunkturtheorie oder der mehr oder weniger eindimensionalen Perspektive des Monetarismus wird hier ein polykausales Modell bevorzugt. Schon zeitgenössische Autoren, die die Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten aus eigener Anschauung erlebten, stellten auf mehrere Ursachen ab:

1) schlechte Einkommensverteilung,
2) prekäre Struktur der Kapitalgesellschaften,
3) Labilität des Bankenwesens,
4) desolater Zustand der Außenhandelsbilanz,
5) schlechter Zustand der Ökonomie (Vgl. Galbraith 2009, S. 216ff).

Weitet man diese Erklärungsansätze auf die globalen Krisenerscheinungen aus, kommt man zu einem Bedingungsgefüge, das mehrere Teilkrisen voraussetzt, die sich gegenseitig überlagerten und beeinflussten (Interdependenz). Die tiefe Depression der Weltwirtschaft resultierte nicht allein aus den Folgen des Ersten Weltkrieges. Zum wirtschaftlichen Ruin des Nachkriegseuropas kam vielmehr eine veritable Vertrauenskrise (Inflation), die Reparationsproblematik und schließlich eine Agrar-, Banken- und Spekulationskrise. Letztere gab lediglich den Anlass zum Kurssturz an der New Yorker Börse 1929 (Vgl. Kindleberger 1973, S. 17ff).

2.1 Erster Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise

Der Erste Weltkrieg (1914 bis 1918) war ein Wendepunkt europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert. Hinter den vordergründig politisch-expansiven Interessen der Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn) einerseits und der Ententemächte (Großbritannien, USA, Frankreich, Italien u. a.) andererseits standen faktisch wirtschaftliche Ziele, die die Einflusssphären der Großmächte im Zeitalter des Imperialismus ausdehnen wollten. Das junge deutsche Kaiserreich strebte nach einer hegemonialen Stellung in Europa, hinter der sich auch ein Wunsch nach einem deutsch-dominierten einheitlichen mitteleuropäischen Wirtschaftsraum verbarg. Großbritannien wollte hingegen das alte Kräftegleichgewicht („Balance of Power“) in Europa wiederherstellen, während Frankreich nach Revanche für die Schmach im deutsch-franzöischen Krieg 1870/1871 und Rückangliederung von Elsass-Lothringen trachtete. Beide Großmächte waren natürlich auch an den deutschen Kolonien in Afrika interessiert, die nach damaliger Vorstellung als Absatzmärkte industrieller Güter dienen sollten. Allerdings ist der Rückschluss zahlreicher Imperialismustheorien von politischen auf wirtschaftliche Interessenlagen in der Historiografie nicht unumstritten (Vgl. Schöllgen 1994, S. 84ff u. S. 147ff).

Tatsächlich führte der europäische Krieg, der nach dem Kriegseintritt der USA zum Weltkrieg auswuchs, zum totalen Ruin des alten Europas: Anders als in den hehren Szenarien geplant, konnten die Verluste an Arbeitskräften (ca. 10 Mio. Tote, 20 Mio. Verwundete) und Vermögen nicht durch Reparationsleistungen des Besiegten kompensiert werden. Alle kriegsführenden Staaten hatten ihre Militärausgaben mehr oder weniger durch Kredite, Anleihen und Steuern finanziert. In Deutschland türmte sich die öffentliche Schuld auf 156 Mrd. Mark. In Großbritannien belief sich die Verschuldung auf 5,8 Mrd. Pfund, wohingegen die französische Staatsschuld um 130 Mrd. Francs und die amerikanische um 24 Mrd. US-Dollar im Vergleich zu 1914 anwuchs (Vgl. Ullmann 2003, S. 229).

Größter Nutznießer des wirtschaftlichen Niedergangs auf dem europäischen Kontinent waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die 1917 offiziell in den Krieg eintraten. Bereits zuvor hatten sie die Entente-Staaten unterstützt, während der Handel mit den Mittelmächten zwischen 1914 bis 1916 von 169 auf 1 Mio. US-Dollar schrumpfte. Der Übergang zur Kriegswirtschaft ermöglichte den Großkonzernen der USA den Ausbau ihrer Produktionskapazitäten. Zwischen 1914 und 1919 hatte sich die Wertschöpfung mehr als verdoppelt. Am Ende des Krieges hatten sich die Machtverhältnisse zwischen Großbritannien und den USA verschoben: während das „Commonwealth“ in eine Siechphase eintrat, übernahm die USA die Rolle als Weltwirtschaftsmacht. In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich der US-Dollar zur Leitwährung, während das Pfund abgewertet wurde. New York und nicht mehr London galt als bedeutsamster Finanzschauplatz. Die europäischen Alliierten waren durch die Gewährung amerikanischer Kredite in ein Abhängigkeitsverhältnis geraten (Vgl. Jaeger 1973, S. 55).

Der Erste Weltkrieg kann auch deshalb als kausaler „Nexus“ für die Weltwirtschaftskrise 1929 gesehen werden, weil er die US-amerikanische und die europäische Wirtschaft nach Umstellung von Kriegs- auf die Friedenswirtschaft zu Rationalisierungsmaßnahmen und technischen Innovationen stimulierte. Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren begann in Nordamerika aber auch in West- und Mitteleuropa Mitte der 1920er Jahre eine kräftige Konjunkturphase, die als „Goldene Zwanziger“ („Roaring Twenties“) in die Geschichte eingingen. Doch dieser Schein einer konjunkturellen Erholung in der Nachkriegszeit trog. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Automobil- und der elektrotechnischen Industrie wurden überschätzt, vor allem weil sie relativ dauerhafte Konsumgüter produzierte. Viele nordamerikanische und westeuropäische Haushalte hatten ihre Rundfunkgeräte, Kühlschränke und Automobile lediglich „auf Pump“ finanziert. Nach der Sättigung des Konsumgütermarktes erwiesen sich die Produktionskapazitäten als zu groß für den geringen Ersatzbedarf.

2.2 Reparationen und Währungskrise

Die Siegermächte suchten ihre Kriegsschulden naturgemäß auf das besiegte Deutsche Reich abzuwälzen. Der Versailler Vertrag 1919 stellte im Art. 231 die alleinige Kriegsschuld des Reiches fest. Nach den Festlegungen der Siegermächte verlor das Deutsche Reich 70.000 km² mit etwa 7,3 Mio. Einwohnern, darunter wichtige Gebiete der Montanindustrie wie Oberschlesien. Finanziell schwerer wogen die Reparationszahlungen, zu denen das Reich als Hauptkriegsschuldner verpflichtet wurde. Über die Höhe und die Verteilung zwischen den Alliierten konnte lange Zeit keine Einigung erzielt werden. Im Januar 1921 setzte die Reparationskonferenz von Paris eine erste Gesamtforderung in Höhe von 269 Mrd. Goldmark fest. Doch schon im April 1921 reduzierte die Reparationskommission diese Forderung auf 132 Mrd. Goldmark, die in Annuitäten von 2 Mrd. RM zuzüglich einer Ausfuhrabgabe von 26 Prozent zu zahlen waren. Schließlich verständigten sich die Siegermächte darauf, die deutschen Reparationsleistungen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu orientieren. Nach dem sog. Dawes-Plan sollte das Reich jährlich 2,5 Mrd. Goldmark zahlen. Zur Sicherung der Gläubigeransprüche wurden Reichsbank- und -bahn belastet, Zölle und Verbrauchssteuern des Reiches verpfändet sowie der deutschen Industrie Zinslasten von 5 Mrd. Goldmark aufgebürdet.

Der Anteil der Reparation verschlang in den Jahren 1928/1929 12,4 Prozent der Staatsausgaben und damit 3,3 Prozent des gesamten Volkseinkommens. Von der wachsenden Auslandsverschuldung Deutschlands alarmiert, wurde 1929 in Genf unter Leitung von Owen D. Young (Young-Plan) ein neuer Zahlungsplan vereinbart, der die Belastungen deutlich minderte. Er sah eine Zahlungsbefristung bis 1988 vor und verringerte die Forderungen auf 37 Annuitäten von 2,05 Mrd. bzw. 22 Annuitäten von 1,65 Mrd. RM. Die Weltwirtschaftskrise 1929 machte diese zukünftigen Transferleistungen zu Makulatur: Die faktische Zahlungsunfähigkeit des Deutschen Reiches führte 1931 zum Hoover-Moratorium und 1932 mit dem Abkommen von Lausanne zur gänzlichen Einstellung der Zahlungen –inklusive einer nie beglichenen Restschuld von 3 Mrd. RM (Vgl. Möller 1998, S. 45ff).

Die Reparationszahlungen erfolgten einerseits als Sach- und andererseits als Geldtransferleistung. Beide Varianten waren aus ökonomischer Sicht nicht unproblematisch: Der Import deutscher Waren und Sachgüter hatte negative Auswirkungen auf die heimische Industrieproduktion der Siegermächte und wurde deshalb von ihnen bald gestoppt. Einseitige Geldtransferleistungen vom Deutschen Reich an die Alliierten zogen dagegen Asymmetrien auf den Kapitalmärkten (Zinsgefälle) nach sich. Die Kapitalflucht aus Deutschland nötigte die einheimische Industrie zur Kreditaufnahme bei ausländischen Kapitalgebern wie den Vereinigten Staaten. Diese kurzfristigen Kredite erwiesen sich im Verlauf der Weltwirtschaftskrise für die deutsche Wirtschaft als tödlicher „Bumerang“, da die US-Amerikaner nach dem Börsencrash zur Stabilisierung ihrer eigenen Wirtschaft zuerst Kapital aus Deutschland abzogen. Zur Aufbringung der Reparationen bediente sich die deutsche Regierung „einer volkswirtschaftlich ziemlich unsoliden Methode“ (Hardach 1979, S. 33). Um der Bevölkerung keine weiteren Steuererhöhungen zuzumuten, wurden die Reparationen im Wesentlichen durch Kreditaufnahme bei der Reichsbank finanziert. Diese erhöhte die Geldmenge und trug so zur Inflation bei, die die Weimarer Republik Anfang der 1920er Jahre vor ihre größte wirtschaftspolitische Herausforderung stellte.

Die fragwürdige Kriegsfinanzierung durch Kredite und Anleihen hatte die Währungen der meisten kriegsführenden Staaten bereits während der Kriegsjahre aufgeweicht. Allein in Deutschland verfünffachte sich die Geldmenge. Da die Finanzverfassung des Kaiserreiches – das Reich war Kostgänger der Bundesstaaten – Steuererhöhungen erschwerte, legte der Staat insgesamt 9 Kriegsanleihen auf. Zwischen September 1914 und September 1918 spülten diese Volksanleihen 96,9 Mrd. RM aus der siegesgewissen Bevölkerung und Unternehmerschaft in die Kassen des Fiskus. Bewirtschaftungsregime für Lebensmittel und staatlich verordnete Preisstopps bemäntelten die Geldentwertung und bewahrten auf diese Weise die Geldillusion der Menschen. Die schleichende Inflation der Kriegszeit lässt sich in diesem Lichte als eine „gezielte Maßnahme der Staatsgewalt“ verstehen, „um in Kriegs- und Rüstungszeiten Einkommens- und Vermögensteile der Bevölkerung schnell und wirksam in den Besitz der öffentlichen Hand zu überführen“ (Schmölders 1975, S. 60).

Die Inflation verlief in Deutschland in vier Etappen, bis im Juli 1922 das Stadium der Hyperinflation erreicht war. Obwohl auch andere Länder nach dem Krieg eine monetäre Überexpansion zu verzeichnen hatten, traf es das Deutsche Reich besonders hart. Die wichtigsten Gründe seien hier benannt:

1) der Vertrauensschwund inländischer Kapitalgeber (Kapitalflucht),
2) negative Erwartungen in Bezug auf die Reparationsfrage (Verlust der Währungsillusion),
3) Finanzierung des „Ruhrkampfes“ nach dem Einmarsch französisch-belgischer Truppen 1923. Von der Inflation profitierten in erste Linie Sachvermögensbesitzer wie der Staat, Unternehmer und private Schuldner, die sich auf Kosten der Geldvermögensbesitzer von ihren Schulden befreien konnten. Stiftungen, Rentiers und der Mittelstand mit größerem Sparvermögen verarmten schlagartig (Vgl. Blaich 1985, S. 32ff).

2.3 Überkapazitäten und Agrarkrise

Wie mehrfach angedeutet, kann die Weltwirtschaftskrise ab 1929 als „Überproduktionskrise“ bzw. als „Unterkonsumtionskrise“ verstanden werden. Der Begriff der „Überproduktion“ geht auf die marxistische Konjunkturtheorie zurück und erklärt den Wirtschaftsabschwung damit, dass durch ständige technische Innovationen im Kapitalismus fortlaufend Arbeitskräfte freigesetzt würden. In Anbetracht der schrumpfenden Zahl der Arbeitskräfte könne die wachsende Produktion nicht mehr abgesetzt werden. Eine Rezession lässt sich zugleich als „Unterkonsumtion“ begreifen, die durch einen Angebotsüberschuss im Investitionsprozess von Unternehmen bewirkt wird. Die Nachfrage hält damit nicht Schritt, wobei individuelles Sparverhalten eine Rolle spielen könnte (Vgl. Gablers Wirtschaftslexikon 2004, S. 2982f u. 3034f).

Nahezu in allen Ländern geriet die Landwirtschaft ab Mitte der 1920er Jahre in Absatzschwierigkeiten. Bestand im 19. Jahrhundert ein offenkundiger Zusammenhang zwischen Ernteerfolg und den Preisen für Agrarprodukte (sinkender Brotpreis bei reicher Getreideernte), war dieser im frühen 20. Jahrhundert durch Lagerhaltung, Industrialisierung der Landwirtschaft, Bevölkerungswachstum und Bedeutungsrückgang des tertiären Sektors nicht mehr eindeutig gegeben. Der Erste Weltkrieg ging einher mit Ernteausfällen und Produktionseinbrüchen in Europa (Arbeitskräfte und Zugtiere wurden requiriert), die von anderen überseeischen Gebieten (Australien, Argentinien, Kanada) kompensiert wurden. Nach dem Krieg gewann die europäische Urproduktion wieder an Fahrt. Es kam zu einer Überproduktion und seit Ende 1925 zu einem Absinken der Weltmarktpreise um 30 Prozent zwischen Juli und Oktober 1929. Die Regierungen der führenden Agrarnationen (USA, Frankreich, Deutsches Reich) reagierten mit protektionistischen Maßnahmen wie Schutzzölle. Zugleich versuchte man durch Ankäufe den Preisverfall für Agrargüter, bei denen infolge ihrer langen Ausreifungszeit ohnehin der Preismechanismus zu versagen droht, aufzuhalten.

In den Vereinigten Staaten war die Agrarkrise darüber hinaus ein Ausdruck eines landwirtschaftlichen Strukturwandels. Die Produktion verlagerte weg von den kleinen Farmen des Ostens hin zu den Great Plains und wurde durch Mechanisierung intensiviert. Auch in Europa dehnte sich die Anbaufläche nach dem Krieg wieder aus, erreichte aber nicht den Vorkriegsstand. Fallende Agrarpreise und Überschuldung belasteten landwirtschaftliche Produktionsbetriebe in Europa und Amerika gleichermaßen. Allein in den Vereinigten Staaten hatten sich die Hypotheken der Farmen von 1910 (3,3 Mrd. US-Dollar) bis 1925 (9,4 Mrd. US-Dollar) nahezu verdreifacht. Für die klassischen überseeischen Agrarexportländer Argentinien, Australien, Kanada, Indien, Neuseeland und Südafrika erhöhte sich der Schuldendienst auf 900 Mio. US-Dollar im Jahr 1928. Der Stopp US-amerikanischer Kredite traf sowohl ihren europäischen Absatzmarkt als auch die finanzwirtschaftliche „Achillesferse“ dieser Agrarländer. In der Folge erhielten sie selbst keine Kredite mehr, mussten ihre überseeischen Guthaben in Anspruch nehmen, Gold verkaufen und in vielen Fällen ihre eigene Währung abwerten (Vgl. Kindleberger 1973, S. 98f).

In Deutschland waren es vor allem die ostelbischen Großgüter, die besonders unter der Agrarkrise litten. Viele von ihnen waren adliger Familienbesitz oder Pachtgüter, die nun unter den Krisenbedingungen insolvent wurden und teilweise veräußert werden mussten. Zahlreiche Güter Mecklenburgs, Pommerns und Ostpreußens wechselten den Besitzer und wurden nach ihrer Aufteilung von Bauern aus dem Rheinland oder Niedersachsen aufgesiedelt.

Aufgrund struktureller Besonderheiten galt die französische Wirtschaft hingegen als besonders krisenfest. Ein relativer großer Agrarsektor mit kleinbäuerlichen Betrieben, der relativ autarke Güterkreislauf und die ländlichen Strukturen Frankreichs mit wenigen Ballungszentren immunisierten gegen die krisenhafte Weltwirtschaft. Bis zum Sommer 1929 waren die Agrarpreise relativ stabil, dann brachen die Preise von Weizen und Wein ein. Allein die Weizenproduktion Frankreichs deckte damals bis zu 90 Prozent des französischen Bedarfs. Zölle schützten die französischen Bauern vor ausländischer Konkurrenz. In vier Krisenstößen weitete sich die landwirtschaftliche Krise, die als Krise für pflanzliche Produkte begonnen hatte, bis 1936 zu einer gesamtwirtschaftlichen aus (Vgl. Tobler 1938, S. 3ff).

2.4 Spekulationen und Bankenkrise

Die Weltwirtschaftskrise 1929 und nachfolgende Depression der 1930er Jahre war auf eine Spekulations- und Bankenkrise zurückzuführen. Das Vertrauen bzw. der Glaube an den steigenden Wert von Anteilsscheinen, die Rückzahlung von Krediten sowie die Einlagensicherheit von Banken kann in diesem Zusammenhang gar nicht unterschätzt werden. Nicht von ungefähr lässt sich das Wort „Kredit“ auf das lat. Verbum „credere“ (glauben) zurückführen (vgl. Dessauer 1932, S. 35). Die Weltwirtschaftskrise hatte nach überwiegender Lesart vor allem eine amerikanische Spekulationsmanie und eine europäische Kreditklemme zum Auslöser. Nur eine – freilich populäre – Minderheit von Ökonomen der Chicago School stellte auf monokausale Erklärungen wie z. B. eine fehlerhafte Geldpolitik ab. Vergleichende Untersuchungen ergaben, dass weltweite Wirtschaftskrisen Ähnlichkeiten und parallele Verläufe aufweisen. Nachfolgende Grafik vergleicht die Krisensymptome in den USA und in Europa:

[...]

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Die Anatomie der Weltwirtschaftskrise 1929. Ursachen, Verlauf, Gegenmaßnahmen
Hochschule
Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer (ehem. Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)  (FOEV)
Veranstaltung
Finanz- und Wirtschaftskrisen: Ursachen, Diagnose und staatliche Instrumente zu deren Bekämpfung
Note
gut
Autoren
Jahr
2009
Seiten
40
Katalognummer
V135496
ISBN (eBook)
9783640441044
ISBN (Buch)
9783640441129
Dateigröße
565 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit wurde mit dem juristischen Benotungssystem bewertet.
Schlagworte
Anatomie, Weltwirtschaftskrise, Ursachen, Verlauf, Gegenmaßnahmen
Arbeit zitieren
Dr. C. Schwießelmann (Autor:in)R. Binder (Autor:in)M. Fischer (Autor:in), 2009, Die Anatomie der Weltwirtschaftskrise 1929. Ursachen, Verlauf, Gegenmaßnahmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135496

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