Gellerts Briefpraxis und Brieflehre unter genauerer Betrachtung der Frau als Korrespondenzpartnerin


Hausarbeit, 2006

22 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Der Zustand der Briefkultur vor Gellert

3. Gellerts Brieflehre
3.1. Traditionskritik und allgemeines zu Gellerts Brieflehre
3.2 Der Gesprächscharakter des Briefes – Mimesis von Mündlichkeit
3.3 Die Forderung nach Natürlichkeit
3.4 Der Zweck Gellerts Brieflehre und ihre Erlernbarkeit
3.5 Die Frau als Korrespondenzpartnerin

4. Gellerts Briefwechsel mit Christiane Caroline Lucius und Fräulein von Schönfeld
4.1 stilistische Merkmale der Korrespondenz
4.2 Inhaltliche Merkmale
4.2.1 Lucius Suche nach einer literarischen Identität
4.2.2 Fräulein von Schönfelds Korrespondenz als fester Bildungsbestandteil

5. Schlussbetrachtung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Christian Fürchtegott Gellerts Brieflehre wird von einigen als Wendepunkt in der klassischen Brieflehre gesehen, von anderen sogar als Höhepunkt und Ende derselben. In der Tat beinhaltet seine Abhandlung eine klare Traditionskritik gegenüber den klassischen Briefstellern.

Soll aber Gellerts Brieflehre analysiert werden, so bedingt das zwangsläufig auch seine Praxis analysieren zu müssen. Seine Theorie wurde nicht nur allein auf induktivem Wege veröffentlicht, sondern bezieht sich insbesondere auch auf deduktive Schlüsse. Ein Indiz dafür sind die Beispielbriefe, die er seiner Abhandlung beigefügt hat. Seine Korrespondenz ist so umfangreich, dass die Forschung immer noch wenig darauf eingegangen ist. Die aktuelle Sekundärliteratur zu Gellerts Brieflehre bezieht sich überwiegend auf seine theoretischen Schriften und auf wenige seiner Briefe.

Das Interesse an seinen Briefen ist trotzdem immer sehr groß gewesen. Schon im Jahr 1912 sollte eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Gellerts erscheinen. Durch den ersten Weltkrieg musste dieses Vorhaben aber verschoben werden. Für diese Arbeit wurden die Briefe der Bände 1-4 „Briefwechsel“, hrsg. von John F. Reynolds, untersucht, die 1987 erschien. Aufgrund des Umfangs der Korrespondenz wird in dieser Arbeit nur die Korrespondenz Gellerts mit Fräulein von Schönfeld und Christiane Caroline Lucius inhaltlich genauer betrachtet werden.

Gellert gehörte zu den meistgelesenen Autoren seiner Zeit und auch seine Brieflehre wurde von vielen gelobt, befürwortet und die Theorie nach ihm nach seinem Vorbild gelehrt.

So war auch Lessing sehr angetan von seiner Brieflehre.

Was abgeschmackte Junkers und aberwitzige Neukirchs so unglücklich, und nur zur Aufhaltung des guten Geschmacks unternommen haben, wird in diesem Werke [gemeint ist Gellerts Schrift „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“] auf die vortrefflichste Art geleistet. […] Den besten Briefsteller zu machen wird nichts erfordert als zu beweisen, dass man keinen Briefsteller braucht, und die ganze Kunst schöne Briefe zu schreiben ist die, dass man ohne Kunst schreiben lernt. Allein wie viele Eigenschaften setzt diese Vermeidung von Kunst voraus? Gesunde Ordnung im Denken, lebhafter Witz, Kenntnis der Welt, ein empfindliches Herze, Leichtigkeit des Ausdrucks sind Dinge, die den Deutschen weniger fehlen würden, wenn man sie in den Schulen lernen würde.[1]

In dieser Arbeit wird eine Ausarbeitung der wichtigsten Prinzipien Gellerts Brieflehre erfolgen, die auch in den Zusammenhang der Brieflehre vor Gellert gebracht werden.

Zudem wird Gellerts Briefpraxis untersucht werden anhand von zwei Briefwechseln, zum einen an der Korrespondenz mit Christiane Caroline Lucius, zum anderen an der Korrespondenz mit Fräulein von Schönfeld.

Ein Vergleich diese beiden Briefwechsel soll zeigen, welche Prinzipien Gellert in der Praxis wichtig waren und was seine Absichten beim Briefeschreiben waren. Eine Untersuchung der inhaltlichen und stilistischen Merkmale soll zeigen, in welchem Maße Gellert seine eigenen Prinzipien umgesetzt hat.

2. Der Zustand der Briefkultur vor Gellert

Zwei Schriften von Christian Fürchtegott Gellert belegen ganz klar, dass seine Brieflehre auch eine Traditionskritik beinhaltet. Es handelt sich hierbei zum einen, um die Schrift vom 1742 „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ und zum anderen um seine 1751 erschienene Abhandlung betitelt „Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“. Eine Traditionskritik meint vor allem die Bekämpfung der Kanzleisprache mit allen enthalten Elementen, die aus dem 17. Jahrhundert übernommen wurden. Diese Form galt bis dahin als Muster der schriftlichen Verkehrssprache und folglich wurde in Deutschland der Kanzleistil auch auf den Privatbrief übertragen. Diese Form Briefe zu schreiben wurde im 18. Jahrhundert zunehmend kritisiert. Gottsched äußerte schon erste Zweifel an diesem Ideal, noch schärfer wurde es von Gellert kritisiert, der schrieb:

Hierzu kommt noch, dass man uns hat bereden wollen, die Kanzleisprache wäre die beste, und also auch die Sprache der Briefe; welches ebenso viel heißt, als wenn man sagte, diejenige Sprache, die im gemeinen Leben am wenigsten gehört, und beynahe [sic] gar nicht verstanden wird, muss in Briefen geredet werden.[2]

Eine umständliche Diktion der kanzlistischen Briefmuster wurde im 18. Jahrhundert mehr und mehr bekämpft. Diese Kritik richtete sich sowohl gegen die sinnreichen Scherze des galanten Stils als auch gegen die umständlichen Satzkonstruktionen. Stockhausen betonte z. B., dass aus einem einfachen Briefe nicht eine einzige Periode zu machen ist und dass nicht jeder Satz eine Periode zu bilden hat, sowie dass sich lange und kurze Sätze geschickt miteinander abwechseln können. Er führt die Formelhaftigkeit der traditionellen Briefsteller auf die Bequemlichkeit im Denken zurück.[3] Schon Gottsched hatte zur Bekämpfung des Schwulstes beigetragen, sodass Dr. Walter Eiermann sogar zur These kam:

„Als Gellert auftrat, war im Grunde die ganze Bewegung schon entschieden zu Gunsten einer maßvollen Reinigung der Sprache.“[4]

Auch Johann Christoph Stockhausen hebt in seinem „Grundsätzen wohlgerichteter Briefe“ ausdrücklich hervor, dass die Schreibart der Kanzleien „von der Unterredung im gemeinem Leben am weitesten entfernt ist“, und führt die Formelhaftigkeit der traditionellen Briefsteller auch auf eine allzu große Bequemlichkeit im Denken zurück. Der Briefsteller als solcher galt aber bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur als ernstzunehmendes Lehrbuch, das wie Poetiken und Rhetoriken zur hohen Literatur gehörte und beigegebene Musterbriefe wurden sogar zur Abschrift benutzt.

Betont werden sollte noch, dass die traditionellen Briefsteller ihr Regelkonzept auf dem Fundament der alten Briefkultur aufbauten und sich an der antiken Rhetorik orientierten. Ihre Lehre wurde also nicht erst durch die Vorstellungen des 17. Jahrhunderts begründet.

So wurde z. B. die Unterteilung des Briefes, die im 11. Jahrhundert von Alberich Montecassino erfolgte (1. salutatio cappitatio benevolentioe, narratio, petitio, conclusio) bis ins 18. Jahrhundert kaum verändert und die strenge Disposition beibehalten (salutatio, exordium, narratio, confirmatio, refutatio, petitio, conclusio, subscribtion, inscribtion).

Schon Gottsched lehnte die Chrien für poetische Briefe ab und eine Forderung nach einer freien Dispositionslehre mit einer natürlichen Grundlage wurde immer lauter.

Gellerts Brieflehre und die Briefpraxis, die in Punkt 3 genauer erläutert wird, ist im Hinblick auf diesen Hintergrund zu sehen.

So ist es möglich zu sagen, dass Gellert durch seine Kritik an den traditionellen Briefstellern einen Höhepunkt in der praktischen Brieflehre darstellt, zumal er auch zu den meistgelesenen Autoren seiner Zeit gehörte. Oft wird auch behauptet, dass Christian Fürchtegott Gellert mit seiner geforderten Distanz zu den traditionellen Briefstellern das Ende der praktischen Brieflehre eingeführt hat.

Demnach muss betont werden, dass nach Gellert die Zeit briefstellerischer Bemühungen streng genommen vorbei ist. Was folgt ist nur noch der Abgesang jener Gattung, die eigentlich schon durch Gellerts Theorie selbst ihr Ende vorbereitet hatte.[5]

Klar ist, dass, wenn beim Briefeschreiben alle einengenden Regeln und Schemata abgeschafft werden, es nicht mehr einer normativen Briefschreiblehre entspricht. Doch ob Gellert dies wirklich in seiner Brieflehre getan hat, ist in Punkt 3 noch zu überprüfen.

3. Gellerts Brieflehre

3.1. Traditionskritik und allgemeines zu Gellerts Brieflehre

Wie im Punkt 2 schon angekündigt wurde, sind Gellerts Abhandlungen besonders durch die Traditionskritik gekennzeichnet. Da man daran aber besonders gut ableiten kann, welche neuen Forderungen in Gellerts Brieflehre gestellt werden, werden hier noch einmal die wichtigsten Kritikpunkte zusammengefasst. Er richtet seine Verbesserungsvorschläge hauptsächlich gegen die umständliche Diktion der kanzlistischen Briefmuster, ebenso wie gegen die sinnreichen Scherze des galanten Stils.

In seiner Abhandlung von 1751 stellte er fest, dass die meisten Briefe Verzeichnisse „von besondern Angelegenheiten des gemeinen Lebens sind.“[6]

Der prosaische Briefverkehr blieb darin unberücksichtigt. Dagegen setzte er den Schwerpunkt seiner Theorie auf Briefe, deren Inhalt aus bloßen Erzählungen besteht. Diejenigen Briefe, die zum Vergnügen geschrieben wurden und in denen „ein gewisser Affekt“[7] herrscht, wie z.B. durch Trauer, Anteilnahme, Freundschaft oder Liebe, sollen ihm dazu dienen die Grenzen der traditionellen Rhetorik aufzuzeigen. Dieses Projekt zur Etablierung eines natürlichen Sprachstils forderte eine Abschaffung der traditionellen Regeln, die vielmehr durch geprüfte Prinzipien ersetzt werden sollten.

„Gellert nähert sich diesem Problemkomplex auf dezidierte traditionskritische Weise. Das bürdet seiner Argumentation eine Negationslast auf, die das eigene Unternehmen paradox erscheinen lässt. Denn seine Abhandlung widmet sich vordringlich der Aufgabe, zum Verlernen der Rhetorik anzuleiten und dem Brief die Beredsamkeit des gemeinen Lebens zurückzuerobern.“[8]

In seiner Abhandlung kritisiert er stark Benjamin Neukirch. Ob Gellert wirklich für einen Höhepunkt und das Ende der praktischen Brieflehre steht, ist wohl schwer zu beurteilen. Fest steht, dass er nicht nur durch seine theoretischen Schriften, sondern auch durch seine lebenslange und umfassende Korrespondenz versucht hat seine Prinzipien zu entwickeln und zu prüfen. Inwieweit ihm das gelungen ist, ist nur sehr subjektiv zu bewerten.

3.2 Der Gesprächscharakter des Briefes – Mimesis von Mündlichkeit

Gellert sieht in einem Brief vor allem den Gesprächscharakter, den er in den „Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F.H. v. W.“, sowie in seiner Abhandlung von 1751 immer wieder hervorhebt.

Er erklärt diesen Grundsatz folgendermaßen.

Soviel ist gewiss, dass wir in einem Briefe mit einem anderen reden, und dass dasjenige, was ich einem auf ein Blatt schreibe, nichts anderes ist, als was ich ihm mündlich sagen würde, wenn ich könnte oder wollte.[9]

Dennoch sieht auch Gellert in einem Gespräch und in einem Brief Unterschiede, da er den Briefen einen bestimmten Kunstcharakter zuschreibt.

Vielleicht nicht durch die Sache selber, sondern durch gewisse äußerliche Eigenschaften, die wir der Kunst, dem Geschmacke und dem Gebrauche zu danken haben.[…] Dass wir in Briefen sorgfältiger, zierlicher, einnehmender Reden können, und sollen, machet, weil wir mehr Zeit zum Nachsinnen und zur Wahl unserer Gedanken und Worte haben. Also möchte wohl die ganze Ungleichheit in dem Vortrage und Ausdrucke bestehen.[10]

Es kommt für ihn nicht darauf an eine Chrie zu verfertigen, sondern vielmehr sich darüber bewusst zu sein, dass ein Brief in seiner Form soviel Freiheit beinhaltet, dass sich der Verfasser lediglich an der Logik der personalen Interaktion zu orientieren hat. Mehr Freiheit bedeutet in diesem Fall, dass der Verfasser sich nicht mehr an vorgeschriebene Verknüpfungsmuster zu halten hat, wie es die traditionellen Briefsteller forderten, so z.B. Benjamin Neukirch.

Christian Fürchtegott Gellert nahm diesen Gedanken auch in den „Briefen, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ in dieser viel zitierten Formulierung wieder auf.

Das Erste, was uns bey [sic] einem Briefe einfällt, ist dieses, dass er die Stelle eines Gesprächs vertritt. Dieser Begriff ist vielleicht der sicherste. Ein Brief ist kein ordentliches Gespräch; es wird also in den Briefen nicht alles erlaubt seyn [sic], was im Umgange erlaubt ist. Aber er vertritt doch die Stelle einer mündlichen Rede, und deswegen muss er sich der Art zu denken und zu reden, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart.[11]

Da der Verfasser eines Briefs sorgfältiger auf seine Schreibart achten kann als bei einem Gespräch, so muss er bedacht sein, dass ihm dabei keine Fehler unterlaufen, betont Gellert.

Diese Forderung, die sich deutlich von denen der traditionellen Briefsteller distanziert, taucht später bei vielen weiteren Briefstellern auf, u.a. bei Johann Christoph Rost.

Die Ablösung der rhetorischen Dispositionsmuster durch eine schlichte connexio realis; der Gellert mit aufklärerischer Emphase das Wort redet, zählt zu den zentralen Forderungen der zeitgenössischen Brieftheorie überhaupt.[12]

Unmittelbar mit der Vorstellung verbunden, dass ein Brief die Stelle eines Gesprächs vertritt, ist auch die Vorstellung der Disposition, der Ordnung des Briefs. Von den Chrien losgesagt, erfordert ein guter Brief keine Abarbeitung eines gewissen Strukturgerüsts. Dennoch ist ein Brief auch nach Gellerts Brieflehre klar strukturiert, zwar nicht durch konkret vorgeschriebene Regeln, sondern durch die freiwillige Folge der Gedanken des Verfassers.

Auf diese Weise kann die künstliche Anordnung aufgehoben werden.

Man darf nur an die Ordnung denken, die man beobachtet, wenn man im Umgange von solchen Dingen spricht, die man in einem Brief vortragen will. Man bedient sich im Umgange keiner weitläufigen Eingänge. Man fängt bald von der Sache an. Man setzt gemeiniglich das, was in der Sache das Erste ist, voran. Man fährt mit den Vorstellungen fort, wie sie sich darbieten und man hört auf, wenn man glaubt, das Nothwendigste [sic] gesagt zu haben.[13]

An dieser Stelle soll noch betont werden, dass mit dem Gesprächscharakter nicht die gesamte Korrespondenz gemeint ist. Jeder einzelne Brief weist schon einen Gesprächscharakter auf. Nach Gellerts Brieflehre geht es darum durch den einzelnen Brief ein „Dialog ohne Sprecherwechsel“[14] zu verfassen, der an die Stelle des mündlichen Austauschs tritt.

3.3 Die Forderung nach Natürlichkeit

Ein guter Brief muss nach Gellerts Brieflehre auch immer natürlich sein. Diese Forderung nach Natürlichkeit taucht in seiner Abhandlung und in seinen „Gedanken zu einem guten deutschen Briefe an den Herrn F.H. v. W.“ immer wieder auf.

Was aber diesen Begriff ausmacht, wird in der Sekundärliteratur unterschiedlich interpretiert.

Oft wird Gellerts Brieflehre als Versuch gedeutet eine Mittellage zwischen der gehobenen Kanzleisprache und dem umgangssprachlichen Umgangston des Gesprächs zu finden. Dass dies aber nicht Gellerts alleinige Absicht ist, wird in diesem Punkt erläutert.

Gellerts Vorstellung in den „Gedanken zu einem guten deutschen Briefe an den Herrn F.H. v. W.“ ist folgende:

Ich will einmal setzen, ein guter Brief muss natürlich, deutlich, lebhaft, und nach Absicht der Sache überzeugend geschrieben seyn [sic].[15]

Diese geforderten Eigenschaften gelten sowohl für den galanten, den Freundschaftsbrief, den Insinuationsbrief, sowie für das vertraute als auch das geschäftliche Schreiben.

Auch in seiner Abhandlung führt Christian Fürchtegott Gellert diesen Gedanken fort:

Der Hauptbegriff von dem Natürlichen ist, dass sich die Vorstellungen genau zur Sache, und die Worte genau zu den Vorstellungen schicken müssen. […] Wenn die Gedanken auseinander herzufließen scheinen, wenn keiner fehlt, der zum Verstande nötig ist; wenn keiner da steht, der zu nichts dienet, der entweder dem anderen kein Licht mittheilt [sic], oder ihn nur verdunkelt, oder der zwar schlußweise zusammenhängt, den wir aber leicht selber denken können, und deswegen in der Reihe auszulassen pflegen, wenn dies ist: so heißt der Zusammenhang in der Schreibart und in Briefen natürlich.[16]

Dieses Zitat belegt klar, dass Gellert in seiner Abhandlung nicht nur eine Mittellage zwischen der gehobenen Kanzleisprache und der Umgangssprache fordert. Das Natürliche eines guten Briefs liegt nicht in den einzelnen Gedanken und Worten des Briefs, sondern in den Zusammenhängen der Gedanken untereinander. Darüber hinaus wird in einem guten Brief auch Leichtigkeit und Lebhaftigkeit gefordert. Ein Brief muss alle drei Merkmale eines Briefs enthalten, zum einen den Inhalt, die Art ihn vorzutragen und den angemessenen Ausdruck. All diese Forderungen müssen erfüllt werden, um Gellerts Bewertung standzuhalten.

Es lassen sich also die Grenzen des Briefs gegenüber der Absichtslosigkeit eines normalen Gesprächs kaum übersehen. Diese Grenzen beinhalten aber auch, dass zum Schreiben guter Briefe ein bestimmtes Talent Voraussetzung ist.

Wer gut schreiben will, der muss gut von einer Sache denken können. Wer seine Gedanken gut ausdrücken will, muss die Sprache in der Gewalt haben. Das Denken lehren uns alle Briefsteller nicht.[17]

Auch Gellerts Ideal der Leichtigkeit und der Lebhaftigkeit setzt ein gewisses Talent in den geistigen Fähigkeiten voraus.

Der erste Begriff, den wir mit dem Natürlichen, ins besondre in Briefen, zu verbinden pflegen, ist das Leichte; dieses entsteht aus der Richtigkeit und der Klarheit der Gedanken, und aus der Deutlichkeit des Ausdrucks. […] Dieses Lebhafte besteht oft in der Art den Gedanken vorzustellen; darinnen, dass man ihm durch die Aussicht, in der man ihn sehen lässt, eine gewisse Neuheit gibt.[18]

Die Verwendung von üblichen und gebräuchlichen Wörtern darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Form des natürlichen Briefs einen Kunstcharakter enthält, der dazu dient Mühelosigkeit vorzutäuschen und die eigentliche Selbstdarstellung zu verhüllen. Auch Niklas Luhmann versteht den Natürlichkeitsbegriff auf diese Art:

Mit „Natürlichkeit“ oder „Informalität“ ist keineswegs Absehen von Selbstdarstellung gemeint. Vielmehr wird damit bewusst und unter expressiver Selbstkontrolle, ja wiederum auf Grund einer sozialen Norm, zum Ausdruck gebracht, dass man sich in der Interaktion genauso verhält wie allein. Unter dem Schein der Ungezwungenheit, der Nonchalence, des ‚carefully careless’, wird in der Interaktion eine Verhaltensgrundlage garantiert, die sich nicht in der Interaktion verdankt und in ihr nicht variiert werden kann – analog zur Schrift gleichsam ein anthropologisches fait accompli. Das Prinzip der Unbeeinflussbarkeit des Verhaltens durch die Anwesenheit anderer galt in der Moralkasuistik geradezu als Echtheitszeugnis, und wahre Freundschaften wurden an dem Kriterium gemessen, ob man sich in Anwesenheit des Freundes genauso ungezwungen verhalten konnte wie allein.[19]

Es scheint mir unter Berücksichtigung aller eben genannten Forderungen und Voraussetzungen nicht, als ob Gellert mit seinem geforderten Ideal der Natürlichkeit bloß zu einer einfacheren Schreibart verhelfen wollte, wie es u. a. von Hans Ullrich behauptet wurde:

Denn das, was Gellert erstrebte, was er in seinen Briefen selbst wahrhaft nie erreicht hat, nämlich eine natürliche, ungezwungene Redeweise, findet sich in den Beispielen nur bei oberflächlicher Betrachtung.[20]

Vielmehr muss für ihn die Kunst im Vordergrund gestanden haben durch eine einfache Schreibart zu einer Selbstdarstellung zu gelangen, die eben nicht nur durch einfache Wortwahl, sondern zudem noch durch die richtige Ordnung der Gedanken, ein gewisses Talent der geistigen Fähigkeit und des Ausdrucks, sowie von konstruierter Lebhaftigkeit und Leichtigkeit bedingt ist.

3.4 Der Zweck Gellerts Brieflehre und ihre Erlernbarkeit

Gellert verfasste seine Abhandlung nicht nur, um die traditionellen Briefsteller zu kritisieren. So schreibt er im Vorwort seiner Abhandlung von 1751:

Wenn auch meine Leser mit diesen Briefen nicht ganz zufrieden seyn [sic] sollten: So wird ihnen doch die Absicht nicht missfallen können, die ich dadurch zu erreichen wünsche; nämlich junge Leute, und insonderheit das Frauenzimmer, zu einer natürlichen Schreibart zu ermuntern, und andern, wenn es möglich wäre, das Vorurtheil [sic] zu benehmen, als ob unsre Sprache zu den Gedanken der Höflichkeit, des Wohlstandes, des Scherzes und zu andern zarten Empfindungen nicht biegsam und geschmeidig genug sey [sic].[21]

Christian Fürchtegott Gellert ist der Ansicht, dass der Brief als Bestandteil der Literatur zu gering geschätzt wird. Zu einem Vorbild nimmt er sich Racine und Cicero und bewundert, „dass so große Geister über die Richtigkeit ihrer Sprache sogar in Briefen gewacht haben.“[22] Gellert richtete seine Theorie nicht an ein hochgebildetes Publikum, so dass keine Vorkenntnisse für den Leser nötig waren.

[...]


[1] Lessing, Gotthold Ephraim: Rezension der „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ von Christian Fürchtegott Gellert (Leipzig 1751), in: G.E.L. Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd.3: Frühe kritische Schriften, München 1972, S.55f..

[2] Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: Gesammelte Schriften, kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. IV (Roman, Briefsteller), hrsg v. Bernd Witte, Berlin/ New York: De Gruyter 1989, S.129.

[3] vgl. Stockhausen, Johann Christoph: Grundsätze wohleingerichteter Briefe, Nach den Neusten und bewährtesten Mustern der Deutschen und Ausländern, nebst beygefügten Erläuterungen und Exempeln, Dritte vermehrte und verbesserte Ausgabe, Helmstedt 1756, S. 93.

[4] Dr. Eiermann, Walter: Gellerts Briefstil. In: Teutonia, Arbeiten zur germanistischen Philologie, hrsg. Von Dr. phil. Wilhelm Uhl, 23. Heft, Leipzig 1992, S. 25.

[5] Reimleen, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inzenierungspotentiale. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 2003 [Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft Band 405 - 2003], S.77.

[6] Gellert, Christian Fürchtegott: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: Gesammelte Schriften, kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. IV (Roman, Briefsteller), hrsg v. Bernd Witte, Berlin/ New York: De Gruyter 1989, S.144.

[7] Ebd., S.137.

[8] Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2000, S.85.

[9] Gellert, Christian Fürchtegott: Gedanken von einem guten deutschen Briefe an der Herrn F.H.v.W., in: Gesammelte Schriften, kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. IV (Roman, Briefsteller), hrsg v. Bernd Witte, Berlin/ New York: De Gruyter 1989, S.99.

[10] Ebd., S. 99-100.

[11] Gellert, C. F.: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, S.111.

[12] Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, S. 87.

[13] Gellert, C. F.: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, S.126.

[14] vgl. Tschauder, Gerhard: Dialog ohne Sprecherwechsel? Anmerkungen zur internen Dialogizität monologischer Texte, in: Dialoganalyse II, hrsg. v. Edda Weigand u. Franz Hundsnurscher, Bd.1 (linguistische Arbeiten 229), Tübingen 1989, S.191-205.

[15] Gellert, C. F.: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, S.101.

[16] Gellert, C. F.: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen,S.120.

[17] Ebd., S.102.

[18] Ebd., S.119-121.

[19] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, S.64.

[20] Ullrich, Hans: Goethes Leipziger Briefe und die Gellertsche Brieflehre. Dissertation der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen, 1923. S.5.

[21] Gellert, C. F.: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen,S.107.

[22] Ebd., S.151.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Gellerts Briefpraxis und Brieflehre unter genauerer Betrachtung der Frau als Korrespondenzpartnerin
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Stellenkommentar und kulturwissenschaftlicher Kontext am Beispiel von Briefen des 18. und 19 Jahrhunderts
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V135378
ISBN (eBook)
9783668793712
ISBN (Buch)
9783668793729
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gellert, Brieflehre
Arbeit zitieren
Sonja Borzutzky (Autor:in), 2006, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre unter genauerer Betrachtung der Frau als Korrespondenzpartnerin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135378

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