Krankheit, Medizin und Ärztebild in Michel de Montaignes Essais "De la Ressemblance des Enfans aux Peres" und "De l'Experience" vor dem Hintergrund der Medizin des 16. Jahrhunderts


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Michel de Montaignes Essais De la Ressemblance des Enfans aux Peres und De l'Experience vor dem Hintergrund der Medizin des 16. Jahrhunderts
2.1 Körperverständnis und medizinische Grundlagen im 16. Jahrhundert
2.2 Krankheit
2.3 Montaignes Blick auf die medizinische Praxis
2.4 Ärztebild und Ärztekritik
2.5 Leben mit der Krankheit

3. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einführung

Krankheit und Tod waren im frühmodernen Europa omnipräsente Themen des Alltags. Sie waren allgegenwärtig, doch spiegelt sich dies kaum in der literarischen Produktion der Epoche wieder. Krankheitsbeschreibungen erlebten in der Literatur erst ab dem 18. Jahrhundert einen wahren Aufschwung.[1] Noch seltener waren autobiographische Krankheitsbeschreibungen; zu erwähnen ist allenfalls die Versdichtung Agnolo Firenzuolas, doch sie leidet hinsichtlich ihrer Authentizität unter einer „grotesken und emphatischen Verzerrung“.[2] Zu Recht darf man daher Michel de Montaignes „autobiographische Krankheitsbeschreibung in der Renaissanceliteratur als Novum“[3] bezeichnen, und Ulrich Schulz-Buschhaus schreibt gar, sie sei „epochal neu“ und „antizipatorisch“.[4]

Montaignes Krankheitsbeschreibungen in den letzten Essais des zweiten und dritten Buches, De la Ressemblance des Enfans aux Peres und De l'Experience, bilden in der vorliegenden Untersuchung die Grundlage der Betrachtung. Montaigne setzt sich darin ausführlich mit seiner eigenen Krankheit, seinem Umgang mit ihr, aber auch mit Medizin und Ärzteschaft seiner Zeit auseinander.

Die Arbeit will und kann dabei aber keine allzu ausführliche Analyse der beiden Essais liefern, denn derartige Besprechungen liegen bereits in gebührender Ausführlichkeit vor,[5] und es würden sich kaum neue Aspekte ergeben. Stattdessen sollen Montaignes Texte vor den Hintergrund der Medizin des 16. Jahrhunderts gestellt werden und gewissermaßen aus ihm heraus erläutert werden.

Die Arbeit beginnt mit einigen Ausführungen zu der Frage, wie Körper und Körperfunktionen im 16. Jahrhundert gedacht wurden. Während das zweite Kapitel Wahrnehmung und Umgang mit Krankheit fokussiert, soll im dritten Teil Montaignes Wahrnehmung der medizinischen Praxis der Zeit im Mittelpunkt stehen. Seine umfangreiche Ärztekritik wird dann im vierten Kapitel in den historischen Zusammenhang eingebettet, bevor die Arbeit mit einigen Ausführungen über Montaignes Umgang mit seiner eigenen Krankheit schließt.

Für den Erkenntnisgewinn über die medizinhistorischen Hintergründe der Zeit wurde vor allem Wolfgang Eckarts Monographie zu Rate gezogen. Einen sehr aufschlussreichen Artikel über die Medizin zur Zeit Montaignes lieferte Vivian Nutton, und mit Hilfe von Iris Hermanns und René Bernoullis Texten konnten weitere Fragen zur Einbettung der Texte in den historischen Kontext beantwortet werden. Zuletzt sei Gesine Kiewitz‘ sehr umfangreiche Monographie zur Körperlichkeit in Montaignes Essais erwähnt, die auch eine im Detail bemerkenswert gründliche Auseinandersetzung mit Montaignes Gedanken zu Krankheit, Medizin und Ärzten beinhaltet.

2. Michel de Montaignes Essais De la Ressemblance des Enfans aux Peres und De l'Experience vor dem Hintergrund der Medizin des 16. Jahrhunderts

2.1 Körperverständnis und medizinische Grundlagen im 16. Jahrhundert

Das frühneuzeitliche Verständnis der Körperfunktionen basierte noch immer auf dem Modell der Humoralpathologie, das seine Wurzeln in der Antike hatte. Dieses Konzept war im fünften vorchristlichen Jahrhundert zuerst von Hippokrates von Kos entwickelt worden und beschrieb vier Säfte als elementare Körperbestandteile; es waren Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle.[6] Jeder Körpersaft sollte in einem der vier Kardinalorgane des Körpers produziert werden, ebenso waren ihm ein Element und eine spezifische Qualität zugeordnet:[7]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die vier Körpersäfte sollten bei jedem Menschen in einem speziellen Verhältnis zueinander stehen. Ein optimales Gleichgewicht der Säfte (Eukrasie) bedeutete vollständige Gesundheit. Ein Überwiegen eines Körpersaftes, also ein Säfteungleichgewicht (Dyskrasie), war der Grund für Krankheit. Ziel des ärztlichen Wirkens war es, die Säfte schnellstmöglich wieder in ein gesundes Verhältnis zueinander zu bringen. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert erfuhr das Modell durch Galen von Pergamon neben seiner endgültigen Verschriftlichung auch eine Überarbeitung. Spätestens durch die religiöse Überformung im Mittelalter war dem Modell dann eine Art Charakterlehre beigeordnet. Die Persönlichkeit eines Menschen wurde maßgeblich von der Mischung seiner Körpersäfte bestimmt. Ein Übermaß an schwarzer Galle zeichnete den Melancholiker aus, während der Choleriker zu viel gelbe Galle besaß. Menschen, bei denen das Blut überwog, wurden als Sanguiniker charakterisiert und ein Übermaß an Schleim kennzeichnete den Phlegmatiker. Das jeweils dem überschüssigen Körpersaft zugeordnete Organ galt als besonders anfällig für Erkrankungen und so war beispielsweise der Choleriker prädestiniert für eine Lebererkrankung.[8]

Dieses Analogiesystem war im Mittelalter immer mehr erweitert und teilweise auch verzerrt worden, besaß aber im Grunde zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch unveränderte Gültigkeit.[9] Revolutioniert wurde es erst mit dem Durchbruch der modernen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Letztlich fehlte es die gesamte Vormoderne hindurch an alternativen Denkmodellen, die den Körper und seine Funktionen hinreichend erklären konnten.[10]

Zu Beginn der Renaissance orientierte sich die abendländische medizinische Praxis zunächst zu großen Teilen an Überlieferungen berühmter mittelalterlicher Ärzte aus dem arabischen Raum, vor allem Avicenna und Rhazes.[11] Um sich von mittelalterlichen Überformungen frei zu machen, wurden Hippokrates und Galen an den medizinischen Fakultäten dann ab etwa 1525 wieder zunehmend im Original gelesen, sie galten fortan als Standardliteratur der Anatomie.[12] Erschwert wurde die Lektüre der Galenschen Schriften allerdings dadurch, dass durch die mittelalterliche Überlieferung viele Ausgaben entweder unvollständig oder fehlerhaft übertragen waren.

Etwa zeitgleich mit der Rückbesinnung auf antike Texte setzte jedoch auch ein kritischer Diskurs ein, der das etablierte Denkmodell des Körpers zunehmend in Frage stellte. Vor allem die Unzulänglichkeit des Wissens über Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers brachte immer wieder Zweifel auf den Plan. 1536 äußerte sich Nicolò Massa, der führende Anatom an der Universität von Venedig, kritisch über Galens Körpermodell und zeigte Unstimmigkeiten auf,[13] Paracelsus mahnte zu mehr experimental orientierter Arbeit und verlangte, dass der Mediziner seine Erkenntnisse nur auf Basis eigener Beobachtungen gewinnen solle, und der französische Arzt Jean François Fernel war stark um neue Erkenntnisse in der Arzneimitteltherapie bemüht,[14] doch letztlich scheiterten alle an den Grenzen ihrer eigenen Imagination. Auch als Andreas Vesalius 1543 sein umfassendes Anatomiewerk De humani corporis fabrica libri septem vorlegte, stellte er damit zunehmend die Humoralpathologie in Frage, doch ohne die Entdeckung des großen Blutkreislaufes – ihn beschrieb erst 1632 William Harvey in seinem Buch Excertitio de motus cordis et sanguinis in animalibuis – konnte auch Vesalius die Autorität Galens nicht vollkommen in Frage stellen.[15]

Selbst zum Ende des 16. Jahrhunderts war es nicht gelungen, das grundlegende Denken über den menschlichen Körper zu revolutionieren. 1578 veröffentlichte der in Montpellier tätige Arzt Laurent Joubert seine Erreurs populaires et propos vulgaires touchant la medecine et le regime de sante. Er folgte – was nicht selbstverständlich war – in seinen Ausführungen durchaus dem Beobachtungsgrundsatz, d. h. er beschrieb vor allem, was er in eigenen Studien gesehen hatte, und nicht, was er laut der antiken Lehren hätte sehen sollen, und war zudem um ein neutraleres Vokabular und einen objektiveren und weniger voreingenommenen Standpunkt bemüht, doch konnte auch er sich beispielsweise bei der Beschreibung des Fiebers nicht von der Galenschen Körpervorstellung lösen und beschrieb es als Symptom, das maßgeblich auf einem Säfteungleichgewicht basierte.[16]

Und wenn selbst führende Mediziner der Zeit das Modell der Körpersäfte nicht gänzlich in Frage stellen, dann nimmt es nicht wunder, wenn auch Montaigne über die Herkunft seiner Nierensteine keinen Zweifel hat:

Pourquoy ne pourra estre, à certaine revolution, affoiblie pareillement la chaleur de mes reins, si qu'ils ne puissent plus petrifier mon flegme, et nature s'acheminer à prendre quelque autre voye de purgation? Les ans m'ont evidemment faict tarir aucuns reumes. Pourquoy non ces excremens, qui fournissent de matiere à la grave.

Und auch das Denken in Analogien war elementarer Bestandteil der Viersäftelehre, wie eine entsprechende Passage bei Montaigne zeigt. Er schreibt, dem Blut eines Ziegenbocks sei nachgesagt worden, besonders gut gegen Steinleiden zu helfen. Als dann bei der Schlachtung des Tieres im Magen steinartige Kugeln entdeckt wurden, stand für ihn fest, dass ein Tier, das selbst zur Produktion von Steinen neigt, kaum ein geeignetes Heilmittel spenden könne:

Il est vray-semblable que ce sont des pierres cousines des nostres; et, s'il est ainsi, c'est une esperance bien vaine aux graveleux de tirer leur guerison du sang d'une beste qui s'en aloit elle mesme mourir d'un pareil mal. Car de dire que le sang ne se sent pas de cette contagion et n'en altere sa vertu accoustumée, il est plustost à croire qu'il ne s'engendre rien en un corps que par la conspiration et communication de toutes les parties: la masse agit tout'entiere, quoy que l'une piece y contribue plus que l'autre, selon la diversité des operations. Parquoy il y a grande apparence qu'en toutes les parties de ce bouc il y avoit quelque qualité petrifiante.

[...]


[1] Vgl. Schulz-Buschhaus, S. 1f.

[2] Ebd., S. 11f.

[3] Kiewitz, 2006, S. 324.

[4] Schulz-Buschhaus, S. 12.

[5] so zum Beispiel von Pierre Vallery-Radot.

[6] Es ist bis dato nicht hinreichend geklärt, welche Körperflüssigkeit mit schwarzer Galle gemeint gewesen sein könnte. Denkbar wäre, dass geronnenes Blut als schwarze Galle fehlinterpretiert wurde.

[7] Tabelle übernommen von http://www.klostermedizin.de/html/die_humoralpathologie.html (15.09.2008)

[8] Montaigne charakterisiert sich beispielsweise selbst als eher ruhig veranlagt mit melancholischem Einschlag, schreibt aber auch von gelegentlichen cholerischen Anfällen. Vgl. Kiewitz, 2006, S. 57.

[9] Vgl. Kiewitz, 2006, S. 7; Eckart, 2005, S. 28f. Vivian Nutton schreibt, dass bis etwa 1525 die Lehrinhalte an den medizinischen Fakultäten in Frankreich, vor allem auch in Bordeaux, noch immer denen von 1400 glichen. Vgl. dazu Nutton, 1981, S. 15.

[10] Vgl. Eckart, 2005, S. 143.

[11] Vgl. Kiewitz, 2006, S. 9.

[12] Vgl. Eckart, 2005, S. 83f.; Nutton, 1981, S. 15f.

[13] Vgl. Nutton, 1981, S. 18.

[14] Vgl. Eckart, 2005, S. 98 und 101.

[15] Vgl. Ebd., S. 88f.

[16] Vgl. Nutton, 1981, S. 19.

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Details

Titel
Krankheit, Medizin und Ärztebild in Michel de Montaignes Essais "De la Ressemblance des Enfans aux Peres" und "De l'Experience" vor dem Hintergrund der Medizin des 16. Jahrhunderts
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Romanistik)
Veranstaltung
HS »Montaigne«
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
23
Katalognummer
V134528
ISBN (eBook)
9783640426478
Dateigröße
482 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Krankheit, Medizin, Michel, Montaignes, Essais, Ressemblance, Enfans, Peres, Experience, Hintergrund, Medizin, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Christian Schulze (Autor:in), 2008, Krankheit, Medizin und Ärztebild in Michel de Montaignes Essais "De la Ressemblance des Enfans aux Peres" und "De l'Experience" vor dem Hintergrund der Medizin des 16. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134528

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