Gottfried Benn - ein Intellektualist im Bann des Nationalsozialismus


Referat (Ausarbeitung), 2003

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsangabe

1 Einleitung

2 Der Text „Der neue Staat und die Intellektuellen“
2.1 Der neue Staat...
2.1.1 Vom Irrationalismus zum Mythos
2.1.2 Die Legitimation durch die Geschichte
2.1.3 Das Formproblem und die Macht
2.2 ...und die Intellektuellen
2.2.1 Internationalismus und der Kampf der Dichter
2.2.2 Die Geistesfreiheit und die Position der Staatsmacht
2.2.3 Benns Antikapitalismus als Liberalismuskritik

3 Genealogie des „Intellektualisten“
3.1 Der Gedanke und der, der sich ihm beugt
3.2 Das gezüchtete Gehirn, das militante Genie
3.3 Der Intellektualist, Krieger der Begriffe

4 Fazit

Literaturverzeichnis

Gottfried Benn, ein „Intellektualist“ im Bann des Nationalsozialismus

1 Einleitung

In der Literaturgeschichte sind Arbeiten über Benn ohne eine separate Bezugnahme auf sein Bekenntnis zum Nationalsozialismus nicht vorstellbar. Es wird dort versucht zu erklären, zu ergründen, zu verteidigen, zu verurteilen und zu rehabilitieren. Es gibt viele Ansätze, die begreiflich machen sollen, wie ein gefeierter Dichter und Essayist, ein so sensibler und intelligenter Mann auf die plumpe Rhetorik der Nazis hat hereinfallen können. Auch seine intellektuellen Zeitgenossen, allen voran Klaus Mann, beschäftigt diese Frage. Doch seinerzeit, 1933, müssen sie ihn aufgeben. Er steht auf der anderen Seite und scheint für immer verloren.

Allgemein wird viel diskutiert zu jener Zeit. Nach dem ersten Weltkrieg sind alle Optionen offen. Alle Menschheitsutopien und Staatsformen erscheinen möglich und warten auf ihre Chance zur Verwirklichung. Auch nach dem Ausruf der Republik kämpft man weiter für den Sozialismus, den Kommunismus, die Anarchie oder sehnt sich zurück nach der Monarchie. Es gilt Rahmen abzustecken, Aufgaben zu definieren, Begriffe mit Bedeutung zu füllen wie zum Beispiel „intellektuell“, „Geistigkeit“. Es regiert die Hingabe an Ideen, Klassen, Wahrheiten, und nicht zu vergessen, die Kunst. Wo ist die Kunst?

Vor allem die Schriftsteller melden sich zu Wort. Der Marxismus ist weit verbreitet und die noch junge Soziologie erobert in ihrem Windschatten die Gemüter. Hitzige Debatten über die Aufgabe der Lyrik entbrennen. Ob sie kritisch sein müsse, sich dem System entgegenstellen solle und ob unpolitische Lyrik nicht unterbewusst den Kapitalismus unterstütze.

Es ist schwer, in diesem Meer von Erkenntnis den Standort des Intellektuellen auszumachen. Soll er der Wahrheit verpflichtet sein, der Klasse, der Gerechtigkeit oder gar der Partei? Es gibt viele Meinungen, einigen kann man sich nicht.

Obwohl er in dieser Debatte in den Zeiten der Weimarer Republik zunächst nicht in Erscheinung tritt, macht Benn vielleicht gerade dadurch seine Position deutlich. Erst nach den Angriffen Ende der zwanziger Jahre und schließlich nach der Machtergreifung Hitlers 1933 arbeitet er seine Position innerhalb dieses Diskurses öffentlich aus. Position ist wohl untertrieben. Eigentlich sind es Positionen. Eine davon, das Bekenntnis zum Nationalsozialismus, treibt eine Schockwelle durch die intellektuellen Schriftsteller. Die vorliegende Arbeit will versuchen, sich einem Denken zu nähern, dem Klaus Mann eine gewisse „Verführungskraft“ nicht abstreiten kann, aber dennoch ihre „Gefahren“ spürt.[1] Den Bennschen Intellektualisten in das politische Spektrum der Intellektuellen innerhalb der Weimarer Republik einzuordnen soll hier nicht Hauptaugenmerk sein. Es soll vielmehr versucht werden, sich dem Weltbild Gottfried Benns individualistisch anzunähern.

Schlüsseltext für die Arbeit soll seine Rundfunkrede „Der neue Staat und die Intellektuellen“ von 1933 sein.

Man muss hier jedoch hinzufügen, dass das Bennsche „Doppelleben“, das Leben zwischen allen Stühlen, enorme Probleme aufwirft, wenn man Benns „Standpunkt“ verorten will. Er bleibt widersprüchlich durch und durch. Deshalb wird diese Arbeit auch versuchen, dem Pluralismus Benns Rechnung zu tragen, indem sie diese Widersprüche aufzudecken versucht.

2 Der Text „Der neue Staat und die Intellektuellen“

Gottfried Benn - ein Zerrissener[2] So nannte ihn Werner Rübe in seiner Biografie. Ihn anders sehen zu wollen ist hilfreich, wenn man sich eine der Positionen Benns zu Eigen machen will, aber seinem Denken wird man sich damit nicht nähern. Er war der Artist und der Mensch, der Wissenschaftler und der radikale Irrationalist, der Freund vieler Juden und der Nationalsozialist, der Pazifist und der Soldat, der Intellektuelle und dessen Feind. Innerlich zerrissen hielt er sich selbst in einer Spannung, die sicherlich auch eine wichtige Antriebskraft für sein Schaffen war. Dass er sich dabei oft widersprach, dass seine „Härte des Gedankens, Verantwortung im Urteil, Sicherheit im Unterscheiden von Zufälligem und Gesetzlichem, vor allem aber die tiefe Skepsis[3], der er sich als Wissenschaftler rühmt, ihn nicht vor himmelschreienden Fehlschlüssen schützten, nicht vor den Schriften irrationalistischer Pseudowissenschaftler warnten, schien er nicht zu bemerken.

Will man Benns Position verstehen, muss man sich in seinen Konflikt einlassen. Schon die Überschrift seines Bekenntnisses zum neuen Staat „Der neue Staat und die Intellektuellen“ lassen die doppelte Intention seines Denkens erkennen. Es sind zwei Adressaten angegeben, zwei Thematiken, zwei Begründungen für diesen Text. Der neue Staat auf der einen Seite, die Intellektuellen auf der anderen.

Genauso wie der Neue Staat ist dieser Text „gegen die Intellektuellen entstanden[4]. So spart Benn auch keinesfalls mit Polemik gegen diese.

Andererseits tauchen viele der Weltanschauungen Benns wieder auf, die er bereits in früheren Texten vertrat. Sein Irrationalismus, sein negatives Geschichtsbild und seine Hoffnung auf eine Erneuerung der europäischen Kultur reihen sich hier nahtlos in die Ideologie der Nazis ein.

2.1 Der neue Staat...

„Es scheint ja heute ein beinah zwangsläufiges Gesetz, dass eine zu starke Sympathie mit dem Irrationalen zur politischen Reaktion führt, wenn man nicht höllisch genau acht gibt.“[5]

(Klaus Mann)

Das Resultat meiner fünfzehnjährigen gedanklichen Entwicklung stelle ich an den Anfang: die beiden Rundfunkreden für den neuen Staat.“[6] Das schreibt Gottfried Benn in die Einleitung, als er die Rundfunkrede zusammen mit anderen Texten in dem Band „Der neue Staat und die Intellektuellen“ veröffentlicht. Viele seiner Texte, die Ende der zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre erscheinen, stützen diese Aussage. Vor allem die eindeutig vorgetragene Affinität zum Irrationalismus und die Hoffnung auf eine geschichtliche Wendung hin zum Mythischen, wie sie zum Beispiel in „Nach dem Nihilismus“ und „Irrationalismus und moderne Medizin“ zu finden sind. Auch Benns Glaube an den eruptiven Charakter der Geschichte sowie seine romantische Auffassung von der Erblehre scheinen zu diesem Bild zu passen. So findet man viele der Auffassungen, die er bereits früher vertrat, in „Der neue Staat und die Intellektuellen“ wieder. Dieter Wellershoff hat sich eingehend mit dieser geistigen Entwicklung Benns beschäftigt. Er sieht seinen Ausflug in den Nationalsozialismus gar als „Konsequenz seines Denkens[7]

2.1.1 Vom Irrationalismus zum Mythos

Im „Doppelleben“, einer Art autobiographischem Essay, schildert Benn rückblickend seine Motivation, sich den Nazis anzuschließen: „Ich glaubte an eine echte Erneuerung des deutschen Volkes, die einen Ausweg aus Rationalismus, Funktionalismus, zivilisatorischer Erstarrung finden würde , [...]“[8]

Der Irrationalismus Benns ist im Grunde eine Abwehrhaltung gegen die moderne Welt. Er ist typisch für die Zeit, in der er lebt. Die zunehmende Säkularisierung, der Verlust der Metaphysik wird von vielen wie ein Exil erlebt.[9] Gerade als Sohn eines protestantischen Pfarrers muss dieser Einschnitt besonders schmerzvoll gewesen sein. In einem seiner ersten Prosaversuche, „Heinrich Mann. Ein Untergang“ schildert Benn, wie durch „die Seuche der Erkenntnis[10] sein metaphysisches Weltbild zugrunde geht:

Nun gab es nichts mehr was mich trug. Nun war über allen Tiefen nur mein Odem. Nun war das Du tot. Nun war alles tot: Erlösung, Opfer und Erlöschen. Bis ich den Ausweg aus mir fand: in Siedelungen aus meinem Blut. Die sollten Heimat werden, Trost, Erde, Himmel, Rache, Zwiegespräch. -[11]

Benns Reaktion auf diese „Entfremdung“ ist zunächst der Rückzug in die Innerlichkeit. In den „Siedelungen seines Blutes“ taucht er immer wieder ab. Hier findet er Reinheit und Klarheit im Ausdruck, die verlorene Metaphysik und Transzendenz im Denken. Vor allem die Rönne- Novellen zeichnen ein klares Bild von Benns Weltrezeption.[12] Doch auch wenn er sich so gegenüber der modernen Welt verwehren möchte, kann er sich doch nicht vor ihr verstecken. Seine Abwehrreaktionen sind meist heftig:

Schmerz, Faustschlag gegen das Pamphlet des Lebens aus dem ausgefransten Maule hedonistischer Demokraten, Schmerz, Chaos, das die Rieselfelder bürgerlicher Ratio überfegt und tief vernichtet und den Kosmos sich neu zu falten zerstörend zwingt. –Wort aus den Reichen, wo das Schicksal waltet, und des Genius schauerndstem Geschehen – prostituierter Klamauk, wenn der Utilitarier dich verwendet für des Mittelmenschen Dykrasien.“[13]

Der Utilitarier, dieser Zweckmensch, ist Benn zuwider. Ihm setzt er sein eigenes Menschenbild entgegen:

Ist der Mensch in seinem Wesen, in seiner substantiellen Anlage, im letzten Grundriss seines Ich naturalistisch, materialistisch, also wirtschaftlich begründet, wirtschaftlich geprägt, nur von Hunger und Kleidung in der Struktur bestimmt oder ist er das große unwillkürliche Wesen, wie Goethe sagte: der Unsichtbare, der Unberechenbare, der trotz aller sozialen und psychologischen Analyse Unauflösbare, der auch durch die Epoche materialistischer Geschichtsphilosophie und atomisierender Biologie seinen schicksalhaften Weg: eng angehalten an die Erde, aber doch über die Erde geht?[14]

Benns metaphysisches und tragisches Menschenbild ist ein Leitmedium, das alle seine Werke durchzieht. Obwohl auch die Nazis einen Weg heraus aus der Agonie des modernen Zeitalters offerierten, hatte Benn seinen eigenen Weg gefunden. Er zitiert häufig Nietzsches Wort in allerlei Abwandlungen: „die Kunst als eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit[15]

Vor 1933 sind die Nazis für Benn nur eine Partei, nur politische Agitatoren, die sich mit Sozialisten, Kommunisten und Demokraten um hässliche Diesseitigkeiten streiten. Zu dieser Zeit macht er in der „Akademie-Rede“ seiner tiefen Sehnsucht Luft, eine Sehnsucht nach einer anthropologischen Wendung. Er sieht also schon 1932:

„[...] daß unter dem nicht mehr aufzuhaltenden Realitätszerfall, der Frigidisierung und der immer wachsenden Begriffsbedrängung sich ein radikaler Vorstoß der alten noch substanziellen Schichten vorbereiten wird und daß die zivilisatorische Endepoche der Menschheit, aus der allerdings wohl ganz ohne Zweifel alle ideologischen und theistischen Motive völlig verschwunden sein werden, gleichzeitig die Epoche eines großartig halluzinatorisch-konstruktiven Stils sein wird, in dem sich das Herkunftsmäßige, das Schöpfungsfrühe noch einmal ins Bewusstsein wendet, [...]“[16]

Benn träumt von einer Wendung, die vor allem weg von der aktuellen rationalistischen Weltauffassung, hin zu einer mythisch aufgeladenen aber auch ästhetisch konstruktiven Sicht führen soll. Allerdings kann man aus diesem Hang zum Irrationalismus durchaus auch eine Disposition für die Ideologie der Nazis ableiten.[17] Als sich die braune Bewegung zu formieren beginnt, eine Macht, die er wohl nur sehr oberflächlich kennt, deren Kompromisslosigkeit und Irrationalität ihn aber fasziniert, sieht er seine anthropologische Wendung kommen.

Nietzsche, der zentrale Kronzeuge in Benns gesamtem Werk, wird ihn darin bestätigt haben.[18] Benn bezieht sich gerade in Bezug auf den Nationalsozialismus auffallend häufig auf ihn. Doch mischt sich in Benns Nietzsche-Exegese oft eine sehr christliche Sehnsucht nach dem Jenseitigen. Die Sklavenmoral sieht er nicht wie Nietzsche im Christentum, sondern noch eher in dem nihilistischen Positivismus jener Zeit.[19] Dieser Nihilismus muss seiner Ansicht nach überwunden werden und mit ihm wird auch der Utilitarier überwunden.[20]

Aber der Mensch will groß sein, das ist seine Größe; dem Absoluten gilt unausweichlich sein ganzes inneres Bemühen.“[21] Die geschichtliche Wendung hat sich also 1933 vollzogen. Benns Traum bekommt Bodenkontakt.[22] Den Intellektuellen wirft er vor, genau dies nicht erkannt zu haben:

Welch ein intellektueller Defekt, welch ein moralisches Manko, kann man schon an dieser Stelle hinzufügen, nicht den Blick der Gegenseite über die kulturelle Leistung hinaus, nicht in ihrem großen Gefühl für Opferbereitschaft und Verlust des Ich an das Totale, den Staat, die Rasse, das Immanente, - nicht in ihrer Wendung vom ökonomischen Kollektiv zum mythischen Kollektiv, in diesem allen nicht das anthropologisch tiefere zu sehen![23]

2.1.2 Die Legitimation durch die Geschichte

Benn spricht über den Nationalsozialismus oft als „geschichtliche Bewegung“. Das entspricht durchaus dem Selbstverständnis der Nazis. Das Wort „Bewegung“ klingt organischer als zum Beispiel „Partei“ und „geschichtlich“ weit aus tiefer als „politisch“. Man kann noch weiter gehen und das Wort „geschichtlich“ als eine transzendente Legitimation bezeichnen. Genau als solches benutzt Gottfried Benn es in dem Text.

„[...] aber es ist die Geschichte selber, die diese Angriffe entkräftet, ihr Wesen, das nicht abstimmt und demokratisch verfährt.“[24]

Das Gesetz der Geschichte steht über den ethischen Zweifeln der Liberalen. In dem Text ruft er insgesamt über 30 mal die Geschichte in den Zeugenstand.[25] Er doziert über ihr Wesen, über ihre Bedeutung und über ihre Konsequenzen. Sie allein ist das große Weltgericht, sie hat Alexander den Großen genauso wie Napoleon freigesprochen, sie zu geschichtlichen Figuren ersten Ranges emporgehoben. In „Antwort an die literarischen Emigranten“ zieht er sogar explizit die Parallele zu Hitler: „Vergleichen Sie einmal die beiden Geister Hitler und Napoleon. Napoleon war wohl sicher das große individuelle Genie. Nichts trieb Frankreich als Volk, die Pyramiden zu erobern und Europa mit seinen Heeren zu überziehen, dahin trieb es allein dies riesige militärische Genie.[26]

Benns Geschichtsbild ist dominiert von diesem personenbezogenen Fortschrittsverständnis. Dieter Wellershoff hat sich eingehend mit Benns präferierten Geschichtstheoretikern befasst. Oswald Spengler beeinflusste in der Weimarer Republik nicht nur Benn. Sein kulturpessimistisches Werk „Der Untergang des Abendlandes“ spiegelt sich oft in Benns Denken wider.[27] Spenglers Ansicht nach geht das Abendland unwiderruflich seinem Ende entgegen. Es ist das „natürliche“ Absterben einer zur Zivilisation gewordenen Kultur. Die zunehmende Institutionalisierung lässt die Gesellschaft verkrusten. Als letzte Phase vor ihrem Ableben steigt noch einmal der Cäsarismus empor, um in einem letzten Schwanengesang die Epoche als unvergesslichen „Showdown“ ausklingen zu lassen.[28]

Je tiefer wir in den Cäsarismus der faustischen Welt hineinschreiten, desto klarer wird sich entscheiden, wer ethisch zum Subjekt und wer zum Objekt des historischen Geschehens bestimmt ist. Der triste Zug der Weltverbesserer, der seit Rousseau durch die Jahrhunderte trottete und als einziges Denkmal ihres Daseins Berge bedruckten Papiers auf dem Wege zurückließ, ist zu Ende. Die Cäsaren werden an ihre Stelle treten.[29]

Das muss Benn sicher gefallen haben, sind die Positionen Spenglers doch den seinen sehr ähnlich. Die Cäsaren, die Spengler ankündigt, sind die großen Männer, auf die Benn wartet. Deutlicher drückt er dies in dem Gedicht „Dennoch die Schwerter halten“ aus. Hier nur die erste Strophe:

Der soziologische Nenner , / der hinter Jahrtausenden schlief, / heißt: ein paar große Männer / und die litten tief.“[30]

Dass diese „paar großen Männer“ meist Despoten und Tyrannen waren spielt keine Rolle, denn: „[...] alles was das Abendland berühmt gemacht hat, seine Entwicklung bestimmte, bis heute in ihm wirkt, entstand, um es einmal ganz klar auszudrücken in Sklavenstaaten.“[31] Benn verfällt in eine Art ohnmächtige weil ehrfürchtige Erstarrung. Er beschreibt die gesetzlosen Potentaten der Nazis wie ein riesiges Naturschauspiel, dessen Zeuge er ist:[32]

Eine echte neue geschichtliche Bewegung ist vorhanden, ihr Ausdruck, ihre Sprache beginnt sich zu entfalten, sie ist typologisch weder gut noch böse, sie beginnt ihr Sein.[33]

Es wird kein Mitleid zugestanden, denn die Geschichte wie die Natur kenne schließlich keine Moral. Die Veränderung sei zwar gewaltsam, aber es sei ja schließlich naiv zu glauben, dass alles beim alten bliebe. „Und dann handelt dieser biologische Typ, und natürlich werden dabei zunächst gewisse Gesellschaftsverhältnisse verschoben, gewisse erste Ränge leer gefegt, gewisse Geistesgüter weniger in Schwung gehalten; [...]“[34]

Rechtfertigung brauche die Geschichte keine. Sie selbst sei ja bereits Rechtfertigung genug.: „Die Geschichte verfährt nicht demokratisch, sondern elementar, an ihren Wendepunkten immer elementar.[35]

Dieter Wellershoff sieht diese despotischen und eruptiven Geschichtsanschauungen vor allem bei Dacqué bestätigt, von dem Benn auch weiteres Material für seine Lyrik entlieh.[36] Edgar Dacqué ist ein Paläontologe, betont antiwissenschaftlich in seinen Theorien. Er spekuliert über Vor- und Frühmenschen mit übersinnlichen mystischen Kräften, welche ungeahnte Kulturen bereits vor mehreren hunderttausend Jahren zu ersten Blüten führten. Er bezieht sich in seinen Spekulationen meist auf die alten Sagen und Mythen der Griechen. Titanen und Zyklopen hat es seiner Ansicht nach wirklich gegeben. Kurios sind auch seine Ausführungen über die frühe „Natursichtigkeit“ des Menschen und dessen „Scheitelauge“. Hier aber ist seine Evolutionsauffassung interessant: Diese leitet Dacqué von dem Katastrophentheoretiker Curvier (1769-1832) ab und polemisiert aus diesem Blickwinkel gegen die katastrophenfeindliche darwinistische Evolutionstheorie des Bürgertums. Seiner Ansicht nach ist die Natur keine sich langsam entwickelnde, sich entfaltende, ordnende Kraft, sondern ein unberechenbares chaotisches Monstrum, eben irrational und tragisch, so wie Benn es liebt.[37] Dieter Wellershoff stellt vor allem die weltanschauliche Bedeutung dieser Denkweise für Benn in den Vordergrund. Nicht die Geschichtstheorien führen zu seinen Anschauungen, sondern seine Anschauungen führen zu seinen Geschichtstheorien.[38] Diese werden dann auch immer wieder gebraucht, um sein Weltbild zu rechtfertigen. Es spiele eben keine Rolle wie der einzelne empfindet, denn „[...] wo Geschichte spricht, haben Personen zu schweigen.[39]

[...]


[1] Vgl.: Zitat nach : Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, S. 401

[2] Rübe, Werner: Provoziertes Leben, S. 304

[3] Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, S. 362

[4] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 457

[5] Zitat nach : Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, S. 401

[6] Zitat nach: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 172

[7] Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 155

[8] Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, S. 402

[9] Vgl.: Bornemann, Alexander: Widerruf der Moderne, S. 41

[10] Benn, Gottfried: Gesammelte Werke 5, Prosa, S. 1181

[11] Ebd.

[12] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 15 ff

[13] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Das moderne Ich, S. 41

[14] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Die neue Literarische Saison, S. 444

[15] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Rede auf Heinrich Mann, S. 432

[16] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Akademie-Rede, S. 454 f

[17] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 157

[18] Vgl.: Ridley, Hugh: Gottfried Benn, S. 177

[19] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 68 f

[20] Müller, Harro: Gottfried Benns paradoxer Antihistorismus, S. 185 f

[21] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 463

[22] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 160

[23] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 457

[24] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 457 f

[25] Die Wörter „historisch“, „geschichtlich“, „Geschichte“, etc kommen der Zählung des Verfassers nach genau 31 mal vor.

[26] Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, S. 301

[27] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 110 f

[28] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 111

[29] Spengler, Oswald: nach Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 155

[30] Benn, Gottfried: Sämtliche Gedichte, Band 1, S. 174

[31] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 462

[32] Klaus Theweleit findet den Vergleich mit einem „Diskjockey“ passender. Humoristischer ist er auf jeden Fall. Vgl.: Theweleit, Klaus: Buch der Könige 2x, S. 509

[33] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 460

[34] Ebd.

[35] Ebd.

[36] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 120

[37] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 124 f

[38] Vgl.: Wellershoff, Dieter: Phänotyp dieser Stunde, S. 92

[39] Benn, Gottfried: Essays und Reden, Der neue Staat und die Intellektuellen, S. 457

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Gottfried Benn - ein Intellektualist im Bann des Nationalsozialismus
Hochschule
Universität Lüneburg  (Sprache und Kommunikation)
Veranstaltung
Leitbild/Feindbild des Schriftsteller-Intellektuellen
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
31
Katalognummer
V13444
ISBN (eBook)
9783638191104
Dateigröße
644 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr gute Arbeit (meine Beste). Die Literaturliste erhebt Anspruch auf Vollständigkeit.
Schlagworte
Gottfried, Benn, Intellektualist, Bann, Nationalsozialismus, Leitbild/Feindbild, Schriftsteller-Intellektuellen
Arbeit zitieren
Michael Seemann (Autor:in), 2003, Gottfried Benn - ein Intellektualist im Bann des Nationalsozialismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13444

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