Grausamkeiten im Märchen. Welche Wirkung haben sie auf Kinder?

Eine Analyse des deutschen Volksmärchens Hänsel und Gretel


Masterarbeit, 2009

52 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Zur Terminologie des Märchens
2.2 Ursprüngliche Funktion des Märchens
2.3 Das Volksmärchen
2.4 Charakteristische Merkmale des Märchens
2.4.1 Eindimensionalität (Verhältnis zum Numinosen)
2.4.2 Flächenhaftigkeit
2.4.3 Abstraktheit
2.4.4 Isolation und Allverbundenheit
2.4.5 Sublimation und Welthaltigkeit

3. Grausamkeiten im Volksmärchen
3.1 Definitonsversuche des Begriffs Grausamkeit
3.2 Konkrete Beispiele physischer und psychischer
Grausamkeiten im Volksmärchen
3.3 Die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Märchengrausamkeiten

4. Untersuchung
4.1 Methodische Vorgehensweise
4.2 Inhaltsangabe Hänsel und Gretel
4.3 Auflistung der Grausamkeiten in Hänsel und Gretel
4.3.1 Andeutung körperliche Grausamkeiten
4.3.2 Umsetzung körperlicher Grausamkeiten
4.3.3 Andeutung seelischer Grausamkeiten
4.3.4 Umsetzung seelischer Grausamkeiten
4.4 Vorstellung des untersuchten Materials
4.5 Analyse und Interpretation der Bilder
4.6 Wiedergabe der Einzelgespräche
4.7 Zusammenfassung der Einzelgespräche

5. Auswertung
5.1 Analyse und Interpretation der Einzelgespräche

6. Fazit

7. Literaturliste

8. Anhang

1. Einleitung

Bereits seit 1812, das heißt seit der Publikation der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, ist bei Kindern aller Entwicklungsstufen eine besondere Affinität hinsichtlich des Märchens festzustellen. Diese Erzählgattung erfreut sich seit jeher größerer Beliebtheit als alle anderen Arten von Kindergeschichten (vgl. Bettelheim/1980; S. 12). Doch diese positive Ansicht über Märchen teilen damals wie heute nicht alle Menschen. Schon Plato äußerte seine Bedenken gegenüber dieser Erzählgattung, da er der Meinung war, sie könnten der kindlichen Seele Schaden zufügen:

„Werden wir nun so ohne weiteres es zulassen, daß die Kinder Märchen anhören, wie sie der erste beste auf gut Glück ersinnt, und daß sie so in ihre Seele Ansichten aufnehmen, die vielfach im Widerspruch stehen mit denen, die sie in reiferen Jahren unserer Meinung nach haben sollten?... den jetzt geläufigen Märchen aber muss man zum größten Teil den Abschied geben. “ (Plato, zitiert nach Röhrichl/1964; S.123)

Der Höhepunkt der Kontroverse entbrannte in den 1960er und 1970er Jahren, in denen sich zwei völlig unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Volksmärchen entwickelten. Die eine Seite warnte vor Märchen, denn sie waren der Meinung, Böses kommt aus Kinderbüchern (vgl. Gmelin/1980). Zudem waren und sind Märchenkritiker auch heute noch der Ansicht, dass Märchen kein „wahrhaftiges“, Bild des Lebens vermitteln und insbesondere durch ihre grausamen und brutalen Elemente der kindlichen Seele Schaden zufügen können. Dabei berufen sie sich auf die Tatsache, dass „[i]n keiner anderen Erzählgattung so viel geköpft, zerhackt, gehängt, verbrannt oder ertränkt [wird] wie im Märchen“ (Brednich (Hrsg.)/1984; S. 98). Die Vertreter der opponierenden Seite (vgl. Bettelheim/1980 und Röhrich/1964) sind wiederum der Meinung, dass „nichts so fruchtbar und befriedigend wie das Volksmärchen“ (Bettelheim/1980; S. 11) ist und Märchen deshalb eine wichtige Entwicklungshilfe darstellen, die alle Persönlichkeitsebenen des Menschen gleichzeitig ansprechen.

Da vor allem die dargestellten Grausamkeiten ausschlaggebend für die Kritik am Märchen sind, soll in dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, wie Kinder auf die dargestellten Märchengrausamkeiten reagieren. Erzeugen sie Angst bei den Kindern oder verleiten sie sie vielleicht sogar zu brutalen Handlungen? Oder aber sind die Kinder völlig unberührt von den Grausamkeiten, da sie diese im Gegensatz zu den Erwachsenen gar nicht als schlimm empfinden, sondern im Gegenteil sogar als gerechte Strafe für die böse Märchenfigur?

Am Beispiel des Märchens Hänsel und Gretel (KHM 15[1] ) der Gebrüder Grimm werde ich versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Sechs Kinder des evangelischen Kindergarten in Porta Westfalica (Barkhausen) unterstützen mich bei der Untersuchung, indem sie das von mir erzählte Märchen zunächst verbildlichten und anschließend in Einzelgesprächen Fragen meinerseits beantworteten.

Vorweg muss noch erwähnt werden, dass ich mich sowohl im theoretischen als auch im praktischen Teil dieser Thesis ausschließlich auf die Volksmärchen der Gebrüder Grimm beziehen werde, da sich diese seit eh und je einem überaus hohen Bekanntheitsgrad erfreuen und es in der Regel gerade diese Märchen sind, mit denen Kinder als erstes in Berührung kommen.

In Kapitel zwei meiner Arbeit soll dem Leser ein fundiertes Hintergrundwissen über das Thema Märchen vermittelt werden. Hierbei erfährt er mehr über die Bedeutung des Wortes Märchen sowie über seine ursprüngliche Funktion. Anschließend wird das Volksmärchen vom Kunstmärchen abgegrenzt, um abschließend die charakteristischen Merkmale des Volksmärchens herauszuarbeiten.

Im dritten Kapitel gehe ich näher auf das Thema Grausamkeiten im Volksmärchen ein. Auf eine Begriffsdefinition folgen zur Veranschaulichung konkrete Beispiele psychischer und physischer Grausamkeiten, die in den bekannten Märchen der Gebrüder Grimm Anwendung finden. Dieser Themenblock wird mit einer Untersuchung zum Wirklichkeitsbezug diese Grausamkeiten abgeschlossen.

In Kapitel vier folgt der praktische Teil der Untersuchung. Hier wird zunächst die methodische Vorgehensweise beschrieben, mit der ich die Kinder an das Märchen herangeführt habe. Auf die anschließende Inhaltsangabe des Märchens folgt eine Aufstellung über alle Grausamkeiten, die in Hänsel und Gretel eine Rolle spielen. Im Anschluss werden die Bilder der Kinder sowie die Einzelgespräche vorgestellt und auf die Thematik Grausamkeiten hin untersucht und analysiert.

Die Arbeit schließt mit einem Fazit.

2. Theoretischer Hintergrund

In diesem Kapitel soll dem Leser ein fundiertes Hintergrundwissen über das Thema Märchen vermittelt werden, da dieses bei der späteren Untersuchung von Hänsel und Gretel von Bedeutung ist.

2.1 Zur Terminologie des Märchens

Etymologisch gesehen handelt es sich bei dem deutschen Terminus „Märchen“ um eine Diminutivform des mittelhochdeutschen Wortes maere, welches die ursprüngliche Bedeutung „Bericht, Kunde, Erzählung“ trägt. Anfänglich bezeichnete dieser Ausdruck somit eine kurze Erzählung, der durch die Anfügung des Suffixes „-chen“ im Spätmittelalter jedoch eine Bedeutungsverschlechterung erfuhr und als Bezeichnung für unwahre und erdachte Erzählungen verwendet wurde (vgl. Lüthi/2004; S. 1). Dieser negative Bedeutungswandel ist sehr gut erkennbar an den negativ behafteten Begriffen lügemeare (Lügenmärchen) oder gensmär (Gänsemärchen), die während dieser Periode entstanden sind.

Erst ab dem 18. Jahrhundert begannen Märchen nach und nach, an Prestige zu gewinnen, da sowohl französisch beeinflusste „Feenmärchen“ als auch Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“ zu einer Art Modeerscheinung wurden. Im 19. Jahrhundert schafften es die Gebrüder Grimm (Kinder und Hausmärchen) sowie Bechstein (Deutsches Märchenbuch) durch ihre Märchensammlungen Märchen in einen neuen, positiven Kontext zu stellen und von ihrem negativen Image zu befreien. Heutzutage wird der Begriff Märchen als weitestgehend wertfrei betrachtet und bezeichnet eine bestimmte Erzählgattung. Nicht nur in dem mündlichen Sprachgebrauch sondern auch in der Schriftsprache ist festzustellen, dass sich dieser Begriff durchgesetzt hat (vgl. Lüthi/2004; S. 1).

Abschließend möchte ich nun noch kurz auf den Gattungsbegriff des Märchens eingehen. Die folgenden zwei Definitionen sollen deutlich machen, was unter einem Märchen zu verstehen ist:

1. „Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte.“ (Röhrich/1964; S. 1).
2. „(E)ine bunte Geschichte, die in einer phantastischen Welt spielt, in welcher der gewohnte Kausal- und Naturzusammenhang aufgehoben ist“ (Röhrich/1964; S. 1).

Es gibt selbstverständlich noch viele weitere Definitionen des Begriffes Märchen, aber schon anhand dieser zwei wird deutlich, dass sie in einem Punkt übereinstimmen. Dieser wäre, dass Märchen sich stets von der Wirklichkeit abgrenzen und somit immer etwas Zauberhaftes und Fantastisches beinhalten.

2.2 Ursprüngliche Funktion des Märchens

Aufgrund der Tatsache, dass die Gebrüder Grimm die 1. Auflage ihrer 2-teiligen Volksmärchensammlung (1812/1815) unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen publizierten, gehen damals wie heute viele Menschen davon aus, dass Märchen speziell für Kinder geschrieben wurden. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Irrglauben. In der ersten Band der Grimmschen Märchen, welcher 1812 publiziert wurde, wird dies in der Nachrede sehr deutlich. In einem dort zitierten Brief an den deutschen Schriftsteller Achim von Arnim schreibt Jacob Grimm eindeutig: „Das Märchenbuch ist mir daher gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht, und das freut mich sehr.“ (Grimm J.; Grimm W./1812; Nachrede)

Vielmehr sollten die eigentlichen Adressaten Wissenschaftler sein sowie alle Menschen, die sich für das Volksgut interessieren. Primär wurden Märchen jedoch in den unteren Gesellschaftsschichten zur Unterhaltung genutzt, denn „[d]as Märchen befriedigte das Informationsbedürfnis, das Traditionsbedürfnis, das Unterhaltungsbedürfnis, die Lachlust, die Klatschlust und den Sensationshunger“ (Röhrich/1993; S. 9) der Menschen. Sie nutzen die Märchen häufig, um der Tristesse des Alltags zu entfliehen. In dieser Fantasiewelt war es den Menschen möglich, ihre eigenen schlechten Lebensverhältnisse zu vergessen, indem sie sich mental auf die Geschichten einließen, die stets mit einem positiven Abschluss endet.

Jedoch riefen die Grimmschen Märchen nicht bei allen Menschen solche positiven Reaktionen hervor. Die im Märchen geschilderten Grausamkeiten, wie beispielsweise das Verbrennen der Hexe in Hänsel und Gretel oder das Aufschneiden und anschließende Füllen des Bauchs des Wolfs mit Wackersteinen im Rotkäppchen, stießen schon zu Zeiten Platos auf scharfe Kritik. Auch Kant entpuppte sich als Gegner des Märchens, was im folgenden Zitat deutlich wird: „Die Einbildungskraft der Kinder ist ohnehin so stark genug und braucht nicht durch derartige Erzählungen noch mehr gespannt werden.“ (Kant, zitiert nach Röhrich/1964; S. 123)

Nachdem vermehrt Diskussionen über die im Märchen geschilderten Grausamkeiten aufkamen, reagierteWilhelm Karl Grimm (1786-1859) promptauf diese Kritik, indem er die erste Auflage überarbeitete. Somit wurde 1819 die zweite Auflage der Grimmschen KHM herausgebracht, die inhaltlich kindgerechter gestaltet und an einigen Stellen verharmlost wurde. Auch in weiteren Auflagen der KHM wurde nun vermehrt auf die Eignung der Texte für Kinder Rücksicht genommen. Im Prolog zur zweiten Auflage steht geschrieben:

„Darum auch geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um deretwillen uns Kinder so wunderbar und seelig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben blaulich-weißen, mackellosen [sic!] glänzenden Augen…“(Grimm J.; Grimm W./1819; Vorrede). Wie man aus dem Zitat entnehmen kann, stellten die Gebrüder Grimm fest, dass Kinder den Volksmärchen gegenüber eine spezielle Neigung entwickelten und wünschten sich das Märchen in einer Funktion als „ein eigentliches Erziehungsbuch“ (Grimm J.; Grimm W./1819; Vorrede) zu sehen und nicht nur als Poesie. Jedoch blieb die bereits oben erwähnte Kritik am Märchen bestehen, und somit wurde auch eine pädagogische Absicht und Funktion von Volksmärchen stark angezweifelt – hauptsächlich wegen des enormen grausamen Potentials.

Erst in Zeiten der Aufklärung – ca. ab Mitte des 18. Jahrhunderts – gelang es den Volksmärchen, auch in den Kinderstuben Anklang zu finden. Fortan kam das Märchen auch als „Erziehungsbuch“ (Grimm J.; Grimm W./1819; Vorrede) zum Einsatz.

2.3 Das Volksmärchen

Aufgrund der Tatsache, dass sich diese Thesis mit dem deutschen Volksmärchen Hänsel und Gretel der Gebrüder Grimm beschäftigt, soll zunächst einmal der Begriff einführend erläutert werden. Hierbei wird ebenfalls kurz auf das Kunstmärchen eingegangen, welches unerlässlicherweise im Zusammenhang mit der Abgrenzung zum Volksmärchen genannt werden sollte.

Häufig assoziieren Menschen den Begriff „Märchen“ mit den bekannten Grimms Märchen, welche auch unter dem Terminus „Volksmärchen“ bekannt sind. Da sich diese seit jeher starker Popularität erfreuen, nehmen sie bei vielen Menschen den Status der Märchen „im eigentlichsten Sinne“ (Mackensen, zitiert nach Lüthi/1974; S. 9) ein und repräsentieren somit die traditionelle Form des Märchens. Zu den bekanntesten und zeitlosesten Grimmschen Volksmärchen zählen beispielsweise Das Rotkäppchen (KHM 26), Sneewittchen (KHM 53), Dornröschen (KHM 50) sowie das der späteren Analyse zugrunde liegende Märchen Hänsel und Gretel (KHM 15).

Das Volksmärchen ist im Gegensatz zum Kunstmärchen auf der Basis mündlich tradierter Erzählstoffe entstanden. Lüthi bezeichnet das Volksmärchen als „volksläufig“ und „namenlos“ (vgl. Lüthi/1974; S. 5), da es, anders als das Kunstmärchen, nicht auf einen bestimmten Autor zurückgeführt werden kann, sondern eher als Gesamtwerk eines gesamten Volkes zu sehen ist. Das „maere“ entstand durch das mündliche Weiterreichen bestimmter Erzählstoffen von Generationen zu Generationen – zunächst ohne jegliche schriftliche Fixierung. Diese Tatsache erklärt, dass sich über die Jahre hinweg eine Vielzahl von unterschiedlichen Erzählvarianten entwickelt hat. Die frühsten schriftlichen Fixierungen von europäischen Volksmärchen erfolgten durch den Italiener Giovanni Basile (1634) sowie den Franzosen Charles Perrault (1696/1697). Im 17. Jahrhundert wurden erstmalig auch im deutschen Sprachraum Volksmärchen gesammelt und schriftlich festgehalten und zwar durch den deutschen Schriftsteller Johannes Praetorius. Die wohl bekannteste Sammlung von Volksmärchen im deutschen Raum ist und bleibt allerdings die der Gebrüder Grimm.[2]

Neben der anonymen Herkunft gilt als weiteres Merkmal der Volksmärchen, dass der Ort der Handlung nicht bekannt ist. In dem Märchen Hänsel und Gretel beispielsweise wird zwar erwähnt, dass sich die Geschichte in einem Wald zugetragen hat, der Name dessen bleibt jedoch verborgen. Anders ist dies im Kunstmärchen. In E. T. A. Hoffmanns Der goldne Topf (Hoffmann/2002) beispielsweise beginnt die Handlung des Märchens in Dresden am Himmelfahrtstag. Ebenso wird im Kunstmärchen häufig eine konkrete Bestimmung der Zeit verwendet. So wird in Der goldne Topf vom Himmelfahrtstag gesprochen, während Volksmärchen fast ausschließlich durch die Eingangsformel „Es war einmal vor langer, langer Zeit“ eingeleitet werden.

Auch im Umfang unterscheiden sich Kunst- von Volksmärchen: Meist sind die heutigen Volksmärchen in der Länge des Textes kürzer als die eher novellenartigen Kunstmärchen. Dieses Kriterium wird jedoch nicht als wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Gattungen angesehen, da die Originalfassungen ursprünglich einmal länger gewesen sein können und durch die mündliche Überlieferung eventuell stark gekürzt wurden. Dies kann heutzutage nicht mehr überprüft werden.

Als weiteres Merkmal der Volksmärchen ist ihre leichte Verständlichkeit zu nennen. Durch die einfachen Strukturen sowie eine hohe Anschaulich- und Bildlichkeit finden Kinder besonders einfach einen Zugang zu ihrer Vorstellungswelt der Märchen.

Abschließend möchte ich mich der Meinung des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim anschließen, dass, obwohl es eine enorme Vielzahl an unterschiedlicher Kinderliteratur gibt, in mehrerer Hinsichten „nichts so fruchtbar und befriedigend [ist] wie das Volksmärchen“ (Bettelheim/1980; S. 11). Das Volksmärchen gilt zudem als kunstvolle Poesie und bietet dem Leser nicht nur gute Unterhaltung bietet. .

2.4 Charakteristische Merkmale des Märchens

In diesem Abschnitt soll deutlich gemacht werden, welche charakteristischen Wesensmerkmale ein Märchen ausmachen. Hierbei beziehe ich mich auf das Buch „Das europäische Volksmärchen“ (Lüthi/1974). des Schweitzer Märcheninterpreten Max Lüthi Zu den wesentlichen Charakteristika eines jeden Märchens zählen laut Lüthi Eindimensionalität (das Verhältnis zum Numinosen), Flächenhaftigkeit, Abstraktheit, Isolation und Allverbundenheit sowie Sublimation und Wertigkeit (vgl. Lüthi/1974; S. 3).

Diese stilphänomenologischen Kategorien werden für die spätere Analyse des Grimmchen Märchens Hänsel und Gretel von Bedeutung sein. Auf jedes der genannten stilistischen Merkmale möchte ich nun im Einzelnen eingehen.

2.4.1 Eindimensionalität (Verhältnis zum Numinosen)

In diesem Punkt geht Lüthi auf die Wirklichkeitswahrnehmung der Märchenfiguren ein. Hierbei macht er deutlich, dass das ‘Diesseits’ und das ‘Jenseits’ miteinander verbunden sind und somit als eine Dimension angesehen werden. Als „dieseitige“ Märchenfiguren werden alle menschlichen Wesen bezeichnet (z. B. Helden, Unhelden, etc.), die den „jenseitigen“ Gestalten (z. B. ein sprechender böser Wolf, eine Hexe, ein Lebkuchenhaus, etc.) mit völliger Selbstverständlichkeit gegenübertreten, „als ob sie ihresgleichen wären“ (Lüthi/1974; S. 9). Der Märchenheld reagiert auf die Begegnung mit einer bösen Hexe oder einem sprechenden Tier mit Selbstverständlichkeit, anstatt mit Furcht, da weder „numinose Angst noch numinose Neugier“ (Lüthi/ 1974; S. 10) in der Märchenwelt vorherrschen. Damit ist gemeint, „daß [sic!] im Märchen wirkliche und unwirkliche Welt nahtlos ineinander übergehen“ (Hetmann/1988; S. 15). Die übernatürliche Welt wird somit in die menschliche Welt integriert.

2.4.2 Flächenhaftigkeit

Dieses stilistische Merkmal beschreibt, dass im Märchen bei der Darstellung sämtlicher Figuren sowie Orte und Handlungen auf jegliche „räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung“ (Lüthi/1974; S. 23) verzichtet wird. Der gesamte Inhalt des Märchens wird vielmehr auf eine Fläche projiziert, ohne dabei Näheres von der jeweiligen Tiefengliederung zu zeigen. Damit ist zu erklären, warum den Märchenwesen (den diesseitigen sowie jenseitigen) im Volksmärchen nur äußerst selten bestimmte Körper- und Charaktereigenschaften zugewiesen werden. Laut Bettelheim werden diese Eigenschaften nur dann erwähnt, wenn sie von großer Bedeutung für die Handlung sind (vgl. Bettelheim/1980; S. 15). Wichtig zu erwähnen ist auch, dass die Märchenfiguren weder körperliches noch seelisches Schmerzempfinden kennen. Lüthi vergleicht die Gestalten mit Papierfiguren, bei denen „man beliebig etwas wegschneiden kann, ohne daß [sic!] eine wesentliche Veränderung vor sich geht“ (Lüthi/1974; S.14). Ein Beispiel hierfür ist das Grimmsche Märchen Die sieben Raben, in dem sich die Schwester der Raben ihren kleinen Finger abschneidet, um damit ein verschlossenes Tor zu öffnen. Auch hier haben diese Verstümmelungen weder ästhetische noch funktionale Auswirkungen.. Auch Tränen werden im Märchen nur vergossen, wenn sie eine Bedeutung für den weiteren Handlungsverlauf haben. Das Märchen zeigt uns also stets „flächenhafte Figuren, nicht Menschen mit lebendiger Innenwelt“ (Lüthi/1974; S. 16).

2.4.3 Abstraktheit

Ein wesentliches Merkmal des abstrakten Märchenstils ist, dass es trotz der zuvor geschilderten Flächigkeit (siehe Abschnitt 2.4.2) in der Märchenwelt viele scharfe Konturen bei den verschiedenen Wesen, Gegenständen und Gebäuden zu erkennen gibt. In fast jedem Volksmärchen ist eine Vorliebe für metallisches, mineralisches und formstarres Material zu entdecken (vgl. Lüthi/1974; S. 28). So ist beispielsweise häufig die Rede von gläsernen Särgen, diamantenen Schlössern oder goldenen Äpfeln. Dadurch wird den Märchenfiguren oder auch Gegenständen eine feste Form verliehen.

Volksmärchen zeichnen sich vor allem durch ihre Formelhaftigkeit aus. Sie sind von festen Zahlen geprägt, welche eine ursprüngliche magische Bedeutung sowie Kraft haben (Einzahl, Zweizahl, Dreizahl, Siebenzahl, Zwölfzahl) (vgl. Lüthi/1974; S. 33). Die Dreizahl ist in Märchen von besonderer Wichtigkeit, da sie die bekannteste und zudem am häufigsten verwendete Formel ist. Jeder Märchenleser kennt die legendären drei Wünsche, die drei Nächte, die überstanden werden müssen, die drei Prüfungen, die bestanden werden müssen, die drei Brüder, die drei Spinnerinnen, u. s. w.

Auch stringente Wiederholungen, die traditionellen Eingangs- und Schlussformeln („Es war einmal…“; „Und wenn sie nicht gestorben sind,…“), die sowohl Leser als auch Zuhörer erleichtern, das Märchen als solches zu identifizieren. Darüber hinaus gehören Verbote und Wunder ebenfalls zu den stilphänomenologischen Kriterien der Abstraktheit.

2.4.4 Isolation und Allverbundenheit

Laut Lüthi ist die Isolation als „beherrschendes Merkmal des abstrakten Märchenstils“ (Lüthi/1974; S. 37) anzusehen.

Märchenfiguren – sowohl die diesseitigen als auch die jenseitigen – gehen im Volksmärchen meist isoliert ihren Weg. Sie „stehen in keiner lebendigen Beziehung zu Familie, Volk oder irgendeiner anderen Art von Gemeinschaft“ (Lüthi/1974; S. 37) und führen demnach keine zwischenmenschlichen Beziehungen. Ihre isolierte Lebensweise befähigt sie dazu, beliebige Verbindungen eingehen und diese auch jederzeit wieder auflösen zu können. Häufig steht dieses Eingehen und Lösen von Verbindungen im Zusammenhang mit einer Helferfunktion. Oft müssen die Märchenfiguren schwerlösbare Aufgaben erledigen, die sie häufig nur mit Hilfe anderer lösen können. Somit gehen die Figuren sogenannte Zweckverbindungen ein. So ist es zum Beispiel auch in Grimms Märchen Rumpelstilzchen: Die Müllerstochter versucht verzweifelt, die Prüfung zu bestehen, den Namen des Männleins herauszubekommen, das ihr ihr Kind wegnehmen möchte. Als sie den Namen alleine nicht errät, erfährt sie durch einen namenlosen Boten, dass es sich bei dem Männlein um Rumpelstilzchen handelt. Durch die Hilfe dieses namenlosen Boten kann sie schlussendlich ihr Kind bei sich behalten. Nach bestandener Prüfung wird der Helfer in diesem wie auch in anderen Märchen nicht weiter erwähnt. Da Märchenwesen, wie bereits gesagt, keine zwischenmenschlichen Beziehungen eingehen können, fehlt ihnen auch das Interesse und die Neugier an den anderen Personen. Dieses ist auch die Begründung dafür, dass sie sich im Nachhinein nicht weiter für den Helfer interessieren. Abschließend kann gesagt werden, dass „[s]ichtbare Isolation“ und „unsichtbare Allverbundenheit [...] als Grundmerkmal der Märchenform bezeichnet werden [dürfen]" (Lüthi/1974; S. 49).

[...]


[1] KHM steht als Abkürzung für die „Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“. Im weiteren Verlauf der Thesis wird lediglich diese Abkürzung benutzt.

[2] Vgl: http://www.stern.de/unterhaltung/buecher/:Hintergrund-Was-M%E4rchen/538072.html

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Grausamkeiten im Märchen. Welche Wirkung haben sie auf Kinder?
Untertitel
Eine Analyse des deutschen Volksmärchens Hänsel und Gretel
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1.0
Autor
Jahr
2009
Seiten
52
Katalognummer
V134363
ISBN (eBook)
9783640408979
ISBN (Buch)
9783640409204
Dateigröße
1046 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grausamkeiten, Märchen, Welche, Wirkung, Kinder, Eine, Analyse, Volksmärchens, Hänsel, Gretel
Arbeit zitieren
Ina Böttcher (Autor:in), 2009, Grausamkeiten im Märchen. Welche Wirkung haben sie auf Kinder?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134363

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