Nukleare Proliferation durch Brain-Drain? Das Emigrationspotential russischer Rüstungsexperten


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

18 Seiten, Note: 1-


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Abstract

II. Einleitung

III.Hauptteil
Neue Gefahren nuklearer Proliferation
Der Militärisch-Industrielle Komplex in Russland und die Closed Cities
1. Die Struktur der Rüstungsindustrie
2. Die Situation der Rüstungsindustrie nach dem Systemwechsel
Die Situation der Beschäftigten
Das Emigrationspotential – Die Push-Pull-Faktoren
Intervenierende Faktoren – Warum findet keine Migration im großen Stil statt ?
1. Vorhandene strukturelle oder persönliche Hemmnisse
2. Interventionsmaßnahmen

IV. Resümee und Ausblick

V. Literatur

I. Abstract

During the last ten years after the end of the cold war the discussion about the threat of proliferation of nuclear weapons and missile technology has been put again on the agenda. Russia is blamed to be a possible source of fissile material and especially human brain drain for “rogue states” such as Iran, Irak or North Korea interested in becoming nuclear powers. This paper argues that there is quite some potential of nuclear and missile experts in Russia willing or at least interested in emigrating because of the worsening social and economical circumstances in the former “closed cities”. But nevertheless this potential does not pose a serious threat as most of the potential migrants are prevented from leaving Russia by their lack of resources or connections and administrative restrictions. As corresponding to classical migration theory, those persons overwhelmingly prefer going to higher developed countries, mainly to Western Europe, the USA or Israel.

II. Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung des Abwanderungspotentials russischer Rüstungsspezialisten in sogenannte „rogue states“, zu denen etwa Nordkorea, Irak, Iran, Libyen u.a. gehören. Dieses Potential soll in Hinblick eines möglichen Beitrags zu nuklearer Proliferation betrachtet und bewertet werden.

Die Gruppe von Personen, auf die sich die Untersuchung bezieht, im folgenden auch synonym Rüstungsexperten, Spezialisten, Mitarbeiter im Rüstungskomplex o.ä. genannt, wird in Anlehnung an die Carnegie-Studie „Russian Nuclear and Missile Complex – The Human Factor in Proliferation“ wie folgt definiert: „A specialist is a person who has received a higher education and occupies an executive, administrative or scientific post in certain organizations.“[1]

Als Abwanderungspotential, die abhängige Variable, wird hier sowohl die Bereitschaft, als auch die Fähigkeit, dauerhaft ins Ausland zu emigrieren, definiert. Deswegen werden einerseits empirische Untersuchungen, vor allem Umfragen unter den Beteiligten verwendet, um die individuelle Bereitschaft zur Abwanderung auf der Akteursebene zu untersuchen, andererseits ist eine Kausalanalyse bezüglich des wirtschaftlichen und sozialen Umfeldes der betroffenen Gruppe und den darin liegenden Gründen für eine Migrationsbereitschaft, aber auch von möglichen Hindernissen für eine Emigration nötig.

Die unabhängige Variable wäre also vor allem die wirtschaftliche und soziale Situation der in der Rüstungsindustrie Beschäftigten.

In der Migrationstheorie ergibt sich nach Everett S. Lee die effektive Migration aus dem Zusammenspiel von Migrationspotential und der Migrationsnachfrage. Dabei spielen die sogenannten Push-und Pullfaktoren die entscheidende Rolle. Hinzu kommen intervenierende Hindernisse, sowie persönliche Faktoren, die ebenfalls Einfluß haben.[2]

Die Untersuchung wird sich im Rahmen der Migrationstheorie hauptsächlich auf die Push-Faktoren beschränken, also auf Gründe, die das Migrationspotential beeinflussen. Die Analyse der Pull-Faktoren muss im gegebenen Rahmen eher knapp ausfallen, nicht zuletzt deshalb, weil sowohl der betroffenen Personengruppe selbst, als auch dem externen Beobachter nur wenige diesbezügliche Informationen zur Verfügung stehen. Intervenierende Variablen, die zum Teil auch Lösungsstrategien für die Unterbindung der Abwanderung als Policy-Strategien darstellen (in diesem Falle vor allem die Beschäftigungsprogramme von westlicher Seite oder andere Alternativen, wie berufliche Neuorientierung im privaten Wirtschaftssektor innerhalb Russlands) können nur in knapper Darstellung miteinbezogen werden. Das Vorhandensein einer Migrationsnachfrage kann in diesem Fall vorausgesetzt werden, d.h. dass Schwellenstaaten, die Atomwaffenbesitz anstreben, ein starkes Interesse an der genannten Personengruppe haben.[3]

Als Brain-Drain wird hier die dauerhafte Abwanderung und damit der unwiederbringliche Verlust geistiger Ressourcen, hier in Form von Wissenschaftlern und Technikern, verstanden. Brain-Drain ist also nicht nur eine Form der Migration von Arbeitskraft, sondern zusätzlich auch ein Verlust wertvoller geistiger Ressourcen.[4]

Die Untersuchung der Brain-Drain-Problematik im Kontext der Verhinderung nuklearer Proliferation gewinnt gerade durch die derzeitige Debatte um neue Defensivkonzepte (NMD bzw. MD) vor allem in den USA gegenüber aufrüstenden „rogue states“ an aktueller Bedeutung.

Die zitierte Carnegie-Studie dient als Hauptgrundlage für die empirische Analyse. Ansonsten werden weitere jüngere Monographien und Aufsätze zum Thema verwendet. Die vorhandene Literatur zum Thema ist eher übersichtlich. Obwohl das Thema, vor allem Anfang der 90er Jahre, in zahlreichen spektakulären und meist auch nur spekulativen Medienberichten eine Rolle gespielt hat, fand es in der akademischen Debatte bisher relativ wenig Beachtung.

Als Hypothese wird davon ausgegangen, dass zwar eine gewisse Anzahl an Rüstungsspezialisten eine Emigration in Erwägung zieht, um den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in Russland und der beruflichen Perspektivlosigkeit zu entkommen. Jedoch dürfte sich dieses Ziel aufgrund wirtschaftlicher und persönlicher Hindernisse, sowie administrativer Beschränkungen nur in wenigen Fällen realisieren lassen. Zudem dürften auch eher andere Staaten als die sogenannten „rogue states“ attraktive Ziele bieten. Trotzdem wird von einen gewissen Restrisiko auszugehen sein.

Neue Gefahren nuklearer Proliferation

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem damit verbundenen Gleichgewicht des Schreckens zwischen der USA und der UdSSR besteht ein erhöhtes Risiko nuklearer Proliferation. Während die USA und Russland ihre Atomwaffenarsenale abbauen, unternehmen zahlreiche Schwellenstaaten große Anstrengungen, Massenvernichtungswaffen (Weapons of Mass Destruction - WMD) zu erwerben oder selbst zu produzieren. Dazu zählen oft verdeckte oder offene Ambitionen nach dem Besitz von Atomwaffen.

Diese Staaten sind aufgrund der offiziellen Ächtung vor allem von horizontaler Proliferation durch internationale Verträge, wie dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen von 1968[5], und den politischen Bestrebungen vor allem von Seiten der USA, weitere Proliferation, besonders in die sogenannten „rogue states“ mit allen Mitteln zu verhindern, auf eigene Bemühungen, also auf sogenannte vertikale Proliferation angewiesen. Vertikale Proliferation wird auch durch den Nichtverbreitungsvertrag verboten, jedoch arbeiten viele Schwellenstaaten, oft unter dem Vorwand, zivile Nuklearforschung zu betreiben, an Atomwaffenprogrammen.[6]

Indien und Pakistan konnten bereits erfolgreiche Nukleartests durchführen, China strebt den Ausbau seiner vorhandenen Nuklearstreitkräfte an, andere Staaten wie der Irak, der Iran, Nordkorea oder Libyen arbeiten mehr oder weniger intensiv an eigenen Programmen.

Der Erfolg derartiger Programme hängt vor allem von zwei Faktoren ab: einerseits dem Zugang zu waffenfähigen Spaltstoffen wie angereichertem Uran oder Plutonium, andererseits dem notwendigen Know-How. Die Frage der Erlangung spaltbarer Materialien soll in dieser Untersuchung keine weitere Beachtung finden, sie ist jedoch oft in enger Weise mit dem Humanfaktor verbunden. Letzterer beinhaltet sowohl die Fähigkeit, einsatzfähige Sprengköpfe zu herzustellen, als auch die notwendige Trägertechnologie zu entwickeln und beides zu warten. Dafür sind die entsprechenden Länder auf hochspezialisierte Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker angewiesen. Während bis Anfang der neunziger Jahre vor allem in Russland einschlägige Studiengänge von Bewerbern aus diesen Ländern absolviert werden konnten, wird dies inzwischen weitestgehend unterbunden.[7] Deswegen ist nun vor allem die gezielte Abwerbung ausländischer Spezialisten von stark gestiegenen Interesse für Nuklearaspiranten. Dabei steht vor allem das große Potential an technischen Know-How aus dem Militärisch-Industriellen Komplex (MIK) der ehemaligen Sowjetunion im Zentrum des Interesses.

Der Militärisch-Industrielle Komplex in Russland und die Closed Cities

1. Die Struktur der Rüstungsindustrie

Die russische Rüstungsindustrie, hervorgegangen aus dem Erbe des sowjetischen MIK weist einige spezifische Merkmale auf. Zum einen sind Forschung/Entwicklung und Produktion, und meist ebenso die Ausbildung des Nachwuchses für die Atomwaffenproduktion in großen, hochspezialisierten Komplexen angesiedelt, die sich in abgeschlossenen eigenen Städten befinden.[8] Diese in den 40er und 50er Jahren gegründeten, weit abseits gelegenen Komplexe unterlagen strengen Zutritts- und Ausreisebestimmungen und waren für Externe bisher kaum zugänglich, bis Anfang der 90er Jahre nicht einmal offiziell existent.[9] Ähnlich verhielt es sich mit den Standorten der Raketentechnologie, jedoch war hier die Abschottung etwas weniger stark..[10] Die gesamte Wirtschaftsstruktur dieser sogenannten closed cities war jeweils auf einen spezifischen Zweig der Rüstungswirtschaft zugeschnitten und besaß praktisch keine anderen Arbeitsplätze.

Die Angestellten in der Rüstungsindustrie und ihre Angehörigen hatten gewisse wirtschaftliche Privilegien im Vergleich zum durchschnittlichen Sowjetbürger, etwa höhere Gehälter, mehr Urlaub, eine bessere Infrastruktur, bessere, meist kostenlos bereitgestellte Wohnungen und den Zugang zu Mangelwaren.[11] Dies galt insbesondere für die Komplexe der Nuklearforschung, in etwas abgeschwächter Weise auch für die Komplexe der Raketentechnologie.[12] Die closed cities unterstanden/-stehen administrativ dem sowjetischen bzw. russischen Atomministerium (Minatom), während die Städte der Raketenforschung und –technologie einst dem sowjetischen Ministerium für mittelschwere Industrie und heute der russischen Raumfahrtbehörde RSA unterstehen. In dieser Untersuchung wird aufgrund des begrenzten Umfanges nicht grundsätzlich zwischen den (getrennten) Komplexen der reinen Nuklearrüstung und den Raketenkomplexen unterschieden, da sich die untersuchten Phänomene in beiden Bereichen, wenn überhaupt, nur graduell unterscheiden.

2. Die Situation der Rüstungsindustrie nach dem Systemwechsel

Nach dem Ende der Sowjetunion kam es zu einer Prioritätenverlagerung in der russischen Wirtschaft.[13] Die stark überproportionierte Rüstungsindustrie geriet in eine schwere Krise, der Militärhaushalt erfuhr starke Einsparungen, die militärische Forschung wurde um den Faktor 100 zurückgefahren.[14] Auch die sozialen Vorteile der closed cities wurden zur Vergangenheit. Durch ihre monostrukturelle Ausrichtung fiel hier die wirtschaftliche Transformation besonders schwer. Vor allem im Bereich der Nuklearrüstung verbieten sich Privatisierungsmaßnahmen oder gar ausländisches Engagement. Bisherige Versuche zur Konversion in zivile Produktion[15] waren ebensowenig erfolgreich, wie die Ansiedlung neuer Unternehmen.

[...]


[1] Zitat nach Tikhonov 2001, 2.

[2] Lee 1972, 118ff.

[3] Dazu exemplarisch Strobl 1997, 36ff.

[4] Auf die sich daraus ergebenen erheblichen Konsequenzen für das Abwanderungsland, hier Russland, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Exemplarisch dazu: Vitkovskaya / Panarin 2001, 113ff.

[5] Fundstelle: Bundesgesetzblatt 1974 Teil II S.786. Der Vertrag wurde bisher von rund 170 Staaten ratifiziert, jedoch nicht von Indien, Pakistan und Israel.

[6] Hierbei wird das Problemfeld der sogenannten Dual-Use-Technologien deutlich, d.h. die oft schwierige Abgrenzung von erlaubter ziviler Nutzung bestimmter Technologien (Kernkraft, Raketentechnologie) und deren mögliche Umstellung auf militärische Nutzung.

[7] So wurde z.B. erst 1998 ein Trainingsprogramm für iranische Studenten an der Petersburger Technischen Universität aus „Gründen nationaler Sicherheit“ abgebrochen – Vgl. Parrish/Robinson, S.112.

Die Autoren sehen jedoch weiterhin ein erhöhtes Risiko für Proliferation durch “brain drain through training“.

[8] Eine Übersicht über die Closed Cities findet sich im Anhang 1.

[9] Vgl. Tikhonov 2001, vii.

[10] Vgl. ders., 97.

[11] Vgl. Lappo / Poljan 1997, 4.

[12] Vgl. Tikhonov 2001, viii; sowie Mögel 1993, 39.

[13] Nach Zirnberg 1995, 26, machte bis Ende der 80er Jahre 30% des sowjetischen BIP die Rüstungsindustrie aus, die derzeitigen Daten sind nicht verfügbar.

[14] Vgl. Füllsack 2001, 6.

[15] Zur den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Rüstungskonversion exemplarisch: Nicola Mögel (1993), Die gescheiterte Hoffnung – „Rüstungskonversion“ in Russland, Hamburg; sowie: Antonio Sánchez-Andrés: Privatization, Decentralisation and Production Adjustment in the Russian Defence Industry, in: Europe-Asia Studies, Vol.50, No.2, 1998, S.241-255.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Nukleare Proliferation durch Brain-Drain? Das Emigrationspotential russischer Rüstungsexperten
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Osteuropainstitut)
Veranstaltung
HS Global Risks
Note
1-
Autor
Jahr
2001
Seiten
18
Katalognummer
V13415
ISBN (eBook)
9783638190824
Dateigröße
517 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Weitergabe, Atombombe, nuclear proliferation, Technologietransfer, migration, experts, Wissenschaft, scientist, nuke, Russland, Rußland, North Korea, Nordkorea, Irak, Iraq, Iran, Syrien, Syria, pluto
Arbeit zitieren
Maximilian Spinner (Autor:in), 2001, Nukleare Proliferation durch Brain-Drain? Das Emigrationspotential russischer Rüstungsexperten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13415

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