Kinderlieder im Opernhaus oder Arien im Kinderzimmer?

Aspekte kindgerechten Komponierens untersucht an Opern des 20. Jahrhunderts


Magisterarbeit, 2007

151 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung

2. Die Wurzeln des Musiktheaters für Kinder und Jugendliche
2.1. Vom Mittelalter zur Romantik
2.2. Die Wandervogelbewegung
2.3. Die Jugendmusikbewegung und die musikalische Reformpädagogik
2.4. Entwicklung der Schul- und Kinderoper des 20. Jahrhunderts
2.5. Berührungspunkte zwischen Ideen der Jugendmusikbewegung und zeitgenössischen Komponisten

3. Paul Hindemith: Wir bauen eine Stadt
3.1. Das szenische Spiel für Kinder
3.2. Handlung
3.3. Text
3.4. Musik
3.4.1. Melodik
3.4.1.1. Melodik der Gesangsstimme
3.4.1.2. Melodik der Instrumentalstimmen
3.4.2. Harmonik
3.4.3. Satztechnik
3.4.4. Rhythmus
3.5. Wir bauen eine Stadt als Repräsentant pädagogischer Kompositionen
3.6. Wir bauen eine Stadt als Repräsentant seiner Zeit

4. Hans Krása: Brundibár
4.1. Hans Krása
4.2. Brundibár – Die Entstehung
4.2.1. Brundibár in Prag
4.2.2. Kulturelles Leben in Theresienstadt
4.2.3. Brundibár in Theresienstadt
4.3. Handlung
4.4. Text
4.5. Musik
4.5.1. Melodik
4.5.2. Musikalische Charakterisierung und Textausdeutung
4.5.2.1. Der Spatz
4.5.2.2. Die Katze
4.5.2.3. Der Hund
4.5.2.4. Brundibár
4.5.3. Harmonik
4.5.4. Mehrstimmigkeit
4.6. Brundibár – ein Lehrstück?
4.7. Das Kind als Adressat

5. Peter Maxwell Davies: Cinderella
5.1. Peter Maxwell Davies
5.2. Cinderella
5.2.1. »A Pantomime Opera«
5.3. Handlung
5.4. Text
5.5. Musik
5.5.1. Songs
5.5.2. Rezitative
5.5.3. Instrumentale Passagen
5.5.3.1. Lautmalerei
5.5.3.2. Musikalischer Witz
5.5.3.3. Tänze
5.5.3.3.1. Walzer
5.5.3.3.2. Strathspey
5.5.3.3.3. Boogie
5.6. Cinderella – nicht nur Kinderoper

6. Aspekte kindgerechten Komponierens – Zusammenfassung

7. Gattung Kinderoper? Eine Schlussüberlegung

Anhang

Notenbeispiele zu Paul Hindemith: Wir bauen eine Stadt

Notenbeispiele zu Hans Krása: Brundibár

Notenbeispiele zu Peter Maxwell Davies: Cinderella

Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Einleitung

»Kinder liebe ich gar nicht.«[1]

Dieser Satz aus dem Munde Peter Maxwell Davies’ mag überraschen, umfasst doch sein Œuvre mittlerweile auch über 30 Werke für Kinder und Jugendliche. Er modifiziert jedoch seine Aussage folgendermaßen:

»Wenn sie arbeiten, mitarbeiten und beschäftigt sind, dann mag ich sie gern. Aber wenn Kinder sich langweilen, sind sie unerträglich. Nein, Kinder liebe ich nicht.«[2]

Es wäre also naiv, zu glauben, dass Komponisten Musik für Kinder aus Sentimentalität oder persönlicher Verbundenheit schreiben. Dies mag in Einzelfällen zutreffen,[3] ist aber sicher nicht die Regel. Vermutlich ist es auch nicht die eigene Kinderlosigkeit, die Komponisten dazu bewegt, ersatzweise für fremde Kinder zu schreiben – auch wenn es der Zufall will, dass die hier näher betrachteten Werke allesamt aus der Feder kinderloser Komponisten stammen. Natürlich ist davon auszugehen, dass eine gewisse Bereitschaft, sich auf Kinder einzulassen und sich mit ihnen zu beschäftigen, gegeben sein muss. Was Komponisten aber konkret motiviert, für Kinder zu komponieren, und welchen Einfluss diese Motivation auf die Gestalt des Werkes übt, soll in dieser Arbeit ergründet werden. Berücksichtigt werden dabei drei musikdramatische Kompositionen für Kinder aus dem 20. Jahrhundert, die aber lediglich einen winzigen Ausschnitt aus dem Spektrum derartiger Werke darstellen: Wir bauen eine Stadt von Paul Hindemith (1930), Brundibár von Hans Krása (1938) und Peter Maxwell Davies’ Cinderella (1980). Diese Werke sollen im Folgenden in chronologischer Reihenfolge untersucht werden, um mögliche geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen berücksichtigen zu können.

Die Vielfalt dieses Genres offenbart die Begriffsdiversität in der Literatur zum Themenkomplex des Kinder- und Jugendmusiktheaters. Neben der wohl häufigsten Bezeichnung »Kinderoper«, finden sich Termini wie »Schuloper«, »Jugendoper«, »Szenisches Spiel«, »Szenische Kantate«, »Lehrstück«, »Kindermusical«, um nur einige zu nennen.[4]

Mit der Vielzahl der von Brigitte Regler-Bellinger aufgezählten Namen ist aber nicht in jedem Fall ein distinkter Untertypus verbunden. Da es sich oft um Bezeichnungen handelt, die von Komponisten oder Textdichtern selbst vergeben werden, stellen einige eher reklamehafte Markenbezeichnungen dar denn wirkliche Subkategorien des Kinder- und Jugendmusiktheaters.[5]

Die Uneindeutigkeit des Begriffs »Kinderoper« wird noch dadurch gesteigert, dass er sowohl als Überbegriff, synonym mit dem längeren Titel »Kinder- und Jugendmusiktheater«, verwendet wird, als auch als Bezeichnung eines bestimmten Untertypus. Darüber hinaus geht nicht daraus hervor, ob es sich um eine Oper nur für oder auch ausgeführt von Kindern handelt. Kurt Schwaen, selbst Komponist mehrerer musikdramatischer Werke für Kinder, schlug vor, die Betitelung als »Kinderoper« denjenigen Werken vorzubehalten, die auch von Kindern auszuführen sind. Musiktheater von erwachsenen (Profi-)Darstellern für Kinder hingegen solle als »Oper für Kinder« bezeichnet werden[6] – ein sicher pragmatischer und sinnvoller Vorschlag, der sich aber in der Praxis nicht durchsetzen konnte. Eine dritte Bedeutungsebene, die allerdings seltener zu Missverständnissen führt, ist die Bezeichnung des Aufführungsortes solcher Werke als »Kinderoper«.[7]

Die Schwierigkeit, die mit der Vieldeutigkeit des Begriffs »Kinderoper« einhergeht, wird auch von Isolde Schmid-Reiter im Vorwort des von ihr herausgegeben Buches thematisiert, das eben jenen ambiguosen Titel Kinderoper trägt:

»Was schnell mit dem Begriff ›Kinderoper‹ etikettiert wird, präsentiert sich als Formenvielfalt, die von der kleinen szenischen Kantate bis zur Schuloper, vom Theaterstück mit Musikeinlage bis zur abendfüllenden Märchenoper reicht. Und daß sich dieses Genre zum Teil in zweifacher Hinsicht an Kinder richtet, verkompliziert den Versuch der Definition [...].«[8]

Die terminologische Unschärfe erschwert den Diskurs über Musiktheater für Kinder und Jugendliche, da der Literatur nicht immer zweifelsfrei zu entnehmen ist, ob »Kinderoper« sich im gegebenen Fall als Oberbegriff oder Typus des Kinder- und Jugendmusiktheaters begreift und ob Kinder nur die Adressaten oder auch Ausführende sind.

Den drei hier zur exemplarischen Untersuchung herangezogenen Kompositionen ist gemein, dass Kinder nicht nur das angesprochene Publikum sind, sondern zudem als Akteure auf der Bühne stehen und in zwei Fällen auch das Orchester bilden. Um in der vorliegenden Arbeit Unklarheiten auf begrifflicher Ebene zu vermeiden, bezieht sich der Terminus »Kinderoper« im Folgenden, sofern nicht anders angegeben, auf jene Werke, deren Ausführende und Zielgruppe Kinder sind, ungeachtet der konkreten Ausprägung des jeweiligen Werkes.

Ausgehend von der Vorraussetzung, dass die hier zu untersuchenden Werke sich in doppelter Weise an Kinder richten, ist anzunehmen, dass sich dies in der Komposition sichtbar niederschlägt. Eine Komposition, deren Ausführende Kinder sein sollen, muss dem Umstand Rechnung tragen, dass ihre musikalische Ausbildung nicht vergleichbar ist mit derjenigen professioneller Musiker. Aus diesem Grund ist eine Reduktion des Schwierigkeitsgrades gegenüber Kompositionen für Profis unumgänglich. Wie diese Notwendigkeit umgesetzt wird und was sie über die mit der Komposition verbundenen Intentionen der Komponisten verrät, ist eine der Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden. Über eine Analyse der musikalischen Prozesse in den drei Kinderopern sollen die Mechanismen beleuchtet werden, die beim Komponieren für Kinder zum Tragen kommen, um festzustellen, ob sich musikdramatische Werke für Kinder durch wiederkehrende, sich eventuell als typisch erweisende Merkmale auszeichnen. Die analytischen Betrachtungen in dieser Arbeit sind aus diesem Grund auf Momente beschränkt, die eine Aussage über das jeweilige Verfahren kindgerichteten Komponierens erlauben. Wie sich der Umstand der zweifachen Dedikation an Kinder in diesen Kompositionen niederschlägt, d. h. welche Kompositionsverfahren angewandt werden, um Spiel- und Rezipierbarkeit durch Kinder zu gewährleisten, und ob daraus möglicherweise Rückschlüsse auf das spezifische Kindbild der Komponisten gezogen werden können, wird ebenso erörtert, wie die Frage nach dem Bezug der Werke zum Zeit- und Personalstil der jeweiligen Epoche und Komponisten.

Die Frage nach den Merkmalen kindgerechten Komponierens hat in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden. Neben elementaren Bestandsaufnahmen des Repertoires,[9] geht allgemeine Literatur zum Kinder- und Jugendmusiktheater entweder von einer Fragestellung nach der historischen Entwicklung des Genres aus,[10] formuliert die kulturpolitische Relevanz der Kinderoper und stellt Ansprüche an ideale Vertreter derselben – häufig aus der Perspektive Involvierter[11] – oder beschäftigt sich mit Einzelaspekten, beispielsweise dem Libretto[12] oder dem Kunstcharakter dieser Werke.[13] Auch die einzige Monographie zum Thema Kinderoper[14] widmet sich in kurzen Kapiteln diesen und ähnlichen Aspekten, nicht aber der Frage, was die betreffenden Werke aus musikalischer Sicht als kindgerichtete Kompositionen ausweist.

Während es umfangreiche Literatur zum pädagogischen Engagement Hindemiths gibt,[15] die sich auch exemplarisch mit einigen der diesem Engagement entsprungenen Kompositionen beschäftigt, spielen darin seltener konkrete Merkmale des pädagogischen Stils eine Rolle denn vielmehr Hindemiths selbst formulierte Ziele bei der Komposition für Kinder oder Laien. Da Absicht und Wirklichkeit aber nicht überein stimmen müssen und auch dem Spiel Wir bauen eine Stadt bislang in den genannten Schriften wenig Beachtung geschenkt wurde, soll an diesem Beispiel untersucht werden, wie es sich mit der Umsetzung der von Hindemith verfolgten Ziele verhält und welche als besonders kindgerecht zu bezeichnenden Techniken zum Einsatz kommen.

Während sich die Forschungsliteratur zu Peter Maxwell Davies hauptsächlich mit seiner Kunstmusik beschäftigt und nur am Rande auf sein pädagogisches und lokales kulturpolitisches Engagement eingeht,[16] ist die Literatursituation Hans Krása und seine Kinderoper Brundibár betreffend noch dürftiger: zwar wurde Brundibár mittlerweile aufgrund seiner Aufführungsgeschichte im Konzentrationslager Theresienstadt großes historisches Interesse entgegengebracht,[17] doch spielen dabei vor allem die sozialen Implikationen für das Lagerleben eine Rolle. Eine Betrachtung der Musik dieser Kinderoper findet sich erstmals bei Blanka Červinková, allerdings ohne sich dezidiert der Frage nach den Merkmalen des Kindgerechten zu widmen.[18] Mit der Musik zu Maxwell Davies’ Cinderella hat sich gar bislang noch niemand wissenschaftlich auseinandergesetzt. Die Untersuchung der Maximen, nach denen diese Komponisten ihre Werke den (mutmaßlichen) Fähigkeiten von Kindern anpassten, kann hier also ausschließlich vom Notentext ausgehend erfolgen.

Eine weitere Frage, deren Klärung in dieser Arbeit abschließend versucht wird, betrifft den Gattungsstatus der Kinderoper. In den Texten zum Thema spiegelt sich durchaus ein Bewusstsein für die fehlende Definition der Gattung Kinderoper, die eng verbunden ist mit der oben beschriebenen Uneinheitlichkeit der Terminologie, der übereinstimmende Benennungskonventionen und damit verbundene Beschreibungen der Spieltypen fehlen. Diesen Umstand beklagen viele Autoren, ohne eine Lösung anbieten zu können:

»Schon die begriffliche Festlegung bereitet Schwierigkeiten: Kinderoper? Musiktheater für Kinder? Weihnachtsmärchen mit Musik? Singspiel? Kindermusical? Märchenoper? Welcher Anspruch, welcher Denkansatz steht dahinter? Welche Werke fallen überhaupt unter die oben genannten Kategorien?«[19]

Auch Gunter Reiß, Leiter der Forschungsstelle Theater und Musik an der Universität Münster, thematisiert die Problematik:

»Fehlt es manchmal schon dem Terminus Musiktheater beträchtlich an Klarheit angesichts der Vielzahl von musikalischen Formen, die er abdeckt, so gilt dies für das Kindermusiktheater noch mehr. [...] Was schnell mit dem handlichen Etikett ›Kinderoper‹ plakatiert erscheint, entpuppt sich als Formenvielfalt, die von der szenischen Kantate bis zur Schuloper, vom Theaterstück mit Songs und Musikeinlagen bis zur abendfüllenden Märchenoper reicht.«[20]

Trotz der Unklarheit darüber, welche Ausprägung des Kinder- und Jugendmusiktheaters welche Bezeichnung verdient, wird die Kinderoper in der Literatur üblicherweise dennoch – der Einfachheit halber? – als Gattung bezeichnet. Es wäre also zu fragen, wodurch sich diese auszeichnet und vom Musiktheater für Erwachsene abgrenzt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich die Kinderoper überhaupt von der Erwachsenenoper abgrenzen muss, oder ob nicht gutes Kindertheater immer auch Erwachsene ansprechen müsste.[21] Ist dies der Fall, stellt sich die Frage nach dem Gattungsstatus der Kinderoper umso dringlicher.

Die Forderung nach dem guten Kindermusiktheater ist überhaupt eine zentrale, da dieses dem unglücklichen Umstand ausgeliefert ist, von Erwachsenen für Kinder konzipiert zu werden, was dazu führt, dass es ein Spiegel dessen ist, was Erwachsene inhaltlich wie musikalisch für zumutbar und Kindern angemessen erachten. Gerard McBurney bringt die damit einhergehende Problematik auf einen Nenner:

»The twin banes of opera for children are the simply silly and the pretentiously sentimental: talking down to them and talking down to ourselves.«[22]

Welch unterschiedliche Ergebnisse die Beschäftigung mit diesen Gefahren des Komponierens für Kinder zeitigen kann, wird die Untersuchung der Werke Hindemiths, Krásas und Maxwell Davies’ zeigen. Die im Kinder- und Jugendmusiktheater häufig auftretenden Probleme – »allzu schnelle Rückgriffe auf alte Traditionen und ihre vermeintliche Harmlosigkeit«[23] – thematisiert auch Ingolf Huhn, der die Frage nach der »obskuren Kategorie des ›Kindgemäßen‹ « aufwirft,[24] die so häufig strapaziert wird und doch nicht klar zu fassen ist, und anregt, darüber nachzudenken,

»ob es nicht eine Art von kompositorischem Betrug ist, wenn das in der Kinderoper verwandte Material nicht auf der Höhe der Zeit ist, sondern nach pädagogischen Gebrauchskriterien – ad usum delphini – ausgewählt wird«.[25]

Übereinstimmend mit dieser Frage formuliert auch Reiß den Anspruch, den schon Kurt Weill vertrat, »daß Musiktheater für Kinder ernst zu nehmen zunächst und vor allem heißt, es als Gegenwartskunst zu akzeptieren.«[26]

2. Die Wurzeln des Musiktheaters für Kinder und Jugendliche

2.1. Vom Mittelalter zur Romantik

Das Kinder- und Jugendmusiktheater in seiner heutigen Vielfalt ist eine Entwicklung des
20. Jahrhunderts. Die eingangs genannten Formen (vgl. S. 3) haben jedoch einen gemeinsamen Ursprung im lateinischen Schuldrama des Mittelalters. In den Klosterschulen praktiziert, verknüpfte jenes die pädagogischen Zwecke des Erlernens der lateinischen Sprache und der Religionserziehung mit der Erbauung durch Musik und Schauspiel. Das Schuldrama verlor im 18. Jahrhundert mit dem Zurücktreten der lateinischen Sprache an den Schulen und mit dem aufkommenden Rationalismus sowie den auf die Naturwissenschaften ausgerichteten Bildungsinteressen an Bedeutung.[27]

Während es sich beim Schuldrama bereits um eine Form des Theaters durch die Jugend handelte, gab es im 19. Jahrhundert eine Verlagerung zum Theater für die Jugend. Die Produktion von Musiktheaterstücken für Kinder verschob sich im 19. Jahrhundert von den Schulen in zwei gegensätzliche Richtungen: einerseits erfreuten sich häusliche – oft sehr dilettantische – Aufführungen großer Beliebtheit,[28] andererseits übernahmen das Berufstheater und öffentliche Bühnen die Unterhaltung eines breiteren Publikums. Dort gespielte Stücke für Kinder waren meist »am romantisch-märchensüchtigen Erwachsenentheater orientiert [...] und [...] von professionellen Künstlern für ein Kinderpublikum [gespielt]«.[29] Auch bezogen sie ihre Stoffe fast ausschließlich aus dem Bereich der Märchen.[30] Die Einbeziehung von Kindern in Musiktheaterproduktionen dieser Zeit verfolgte dabei kein Erziehungsideal, sondern »soweit Kinder die Aufführenden [waren], dienten sie nun nicht selten als Schau- und Vergnügungsobjekte für Erwachsene.«[31]

Das bekannteste Beispiel für die romantische Märchenoper – und häufig erste Assoziation bei dem Begriff Kinderoper – ist die Oper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck. Ursprünglich als »Kinderstuben-Weihfestspiel«[32] für Aufführungen im häuslichen Kreise angelegt, arbeitete Humperdinck es erst später zur durchkomponierten abendfüllenden Oper um, womit sie jedoch ihren kindgerechten Charakter verlor, da schon die reine Spielzeit von über zwei Stunden die kindliche Aufmerksamkeitsspanne bei Weitem übersteigt.[33] Auch andere (heute teilweise unbekannte) Komponisten der Romantik schrieben (mittlerweile meist in Vergessenheit geratene) Märchen- oder Zauberspiele für Kinder, darunter die Operettenkomponisten Franz von Suppé (Prinz Liliput, 1855) und Karl Millöcker (Die Diamantengrotte; Die Eselshaut, beide 1867), ebenso Josef Gabriel Rheinberger, von dem Der arme Heinrich (ca. 1876) und Das Zauberwort (1889) überliefert sind.[34]

»Kindertümelnde Verniedlichung und wirklichkeitsferne Idyllisierung«[35] – das sich in der Bevorzugung dieser Märchenspiele offenbarende Kindbild ist das romantisch-verklärter Rückwärtsprojektion Erwachsener, die mit dem vermeintlich kindgemäßen Genre ihr Verlangen nach Idealisierung stillten.

2.2. Die Wandervogelbewegung

Nach dem bürgerlichen Theater der Romantik, das zwar vordergründig auch die Kinder anzusprechen suchte, in Wirklichkeit aber den Geschmack der Erwachsenen bediente,[36] trat gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Entwicklung ein: in Rebellion gegen die bürgerliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts und die Zivilisation der Großstädte, formierten sich die sogenannten »Wandervögel«, die wandernd in die Natur hinaus zogen, um der Vereinzelung der industriellen Urbanität zu entfliehen bzw. entgegenzuwirken.

»Mit der Ablehnung der Errungenschaften der bürgerlichen Musikkultur, wie sie das Konzertleben mit seinem Virtuosentum verkörperte, wuchs aber die Verklärung von Volk, Volkslied, Volkstum und Volksgemeinschaft.«[37]

Die innerhalb der Bewegung praktizierte Musik beschränkte sich aus diesem Grund zunächst auf alte Volkslieder, die zu sammeln ebenfalls ein Ziel der Wandervögel war.

Auch nachdem man sich vom unkritischen Volksliedgesang der ersten Wandervögel etwas distanziert hatte, setzte sich der Rückgriff auf Traditionen und Werke des Mittelalters fort. Er war nicht auf die Wiederbelebung alter Volkslieder beschränkt, sondern fand ebenso Ausdruck in der Wiederentdeckung von Kunstmusik dieser Epochen sowie der dazugehörigen Instrumente. Die Jugendbünde stellten sich in die Tradition der mittelalterlichen Zunftspiele und Schwänke und zeigten gerade darin eine Verhaftung im Gedankengut der Romantik und das Fehlen eigener Ideen.

2.3. Die Jugendmusikbewegung und die musikalische Reformpädagogik

Die Begründung einer im engeren Sinne musikalischen Jugendbewegung durch Fritz Jöde kann auf das Jahr 1917 datiert werden. Nachdem Jöde die Schriftleitung über die Monatszeitschrift Die Laute – gegründet als Publikationsorgan der Lautenfreunde – übernommen hatte, erschien in dieser Zeitschrift ein Aufruf, der die Leser der Laute zu musizierenden Gruppen zusammenzuschließen beabsichtigte. Die auf diese Weise gebildeten Singkreise widmeten sich weiterhin dem Volksliedgesang, aber auch hier gab es eine starke Hinwendung zu alter Musik, besonders zur Vokalpolyphonie der Renaissance.

Durch die rapide Zunahme der Zahl der Singkreise war es vonnöten, Menschen zu Leitern dieser Singkreise auszubilden. Dies geschah auf Schulungswochen und Lehrgangswochenenden der Musikantengilde, wie sich der von Fritz Jöde gegründete Zusammenschluss der jugendbewegten Singkreise bald nannte. Unter den Teilnehmern dieser Arbeitswochen befanden sich stets auch viele Lehrer,[38] die selbst aus dem Wandervogel oder den frühen Jahren der musikalischen Jugendbewegung hervorgegangen waren und die Gedanken der Jugendmusikbewegung in die Schulen trugen. Dadurch kontribuierten sie zu einer Ausdehnung der Bestrebungen der Bewegung auf die Umgestaltung der schulischen Musikerziehung in ihrem Sinne.[39] Ideen der Jugendbewegung fanden auf diese Weise Eingang in die reformpädagogischen Bestrebungen des frühen 20. Jahrhunderts.

Zentrales Anliegen der Reformpädagogik war die Abwendung von den starren Unterrichtsformen der wilhelminischen Ära. An dessen Stelle sollte eine Bestärkung des kindlichen Ausdrucksvermögens durch das Aufgreifen natürlicher Spielmuster treten. In der Realität bestand aber ein Widerspruch zwischen der Umsetzung dieser Ziele und deutlichen Spuren militärischer Erziehungsmethoden – schließlich war bis in die 1960er-Jahre in deutschen Klassenräumen der Rohrstock in Gebrauch. Die Forderung nach dem Kindbezug im Unterricht einerseits und die pädagogische Wirklichkeit andererseits klafften weit auseinander, denn der Freiheit kindlichen Ausdrucks waren die Grenzen der von Erwachsenen imaginierten Kindlichkeit und des Verlangens nach Gehorsam gesetzt.

Der wichtigste Vertreter der Reformpädagogik auf musikalischem Gebiet war Leo Kestenberg, der ab 1923 in seiner Funktion als Referent für Musik im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung die Modernisierung der Schulmusikerziehung verfolgte. Kestenberg beklagte die Spaltung der deutschen Musikkultur, die er auf drei Gebieten ausmachte:

»a) zwischen dem Konzertpublikum einerseits und der Masse der an Musikkultur Anteilslosen,
b) zwischen dem Schaffen zeitgenössischer Komponisten und den Programmen der Abonnementskonzerte und
c) zwischen dem Stand des Komponierens und der Unwissenheit hierüber beziehungsweise ihrer Ignoranz in Schule und Staat.«[40]

Die von Kestenberg initiierten Neuerungen, um diese Spaltungen zu beseitigen, betrafen einerseits die Unterrichtsformen, insofern, als der praktischen Tätigkeit der Schüler im Musikunterricht mehr Bedeutung beigemessen wurde, und andererseits die Inhalte, die nun auch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik umfassen sollten.[41]

An diesem Punkt schieden sich die Geister der Reformpädagogen auf der einen und der Jugendbewegten auf der anderen Seite, denn die Jugendmusikbewegung war nicht von einem primär akademischen Interesse an Musik getrieben, sondern verlangte nach leicht zu konsumierender und selbst zu praktizierender Musik. Musik wurde aber innerhalb der Jugendbünde nicht um ihrer selbst willen gepflegt, sondern vielfach als gemeinschaftsbildendes Element behandelt. Dementsprechend galt das Interesse nicht so sehr der Frage, was und auf welchem Niveau musiziert wurde, sondern nur dass es geschah. Die von der Jugendmusikbewegung geäußerte Kritik an der fehlenden Gemeinschaft betraf insbesondere auch das öffentliche Kulturleben, dessen Kommerzialität sie missbilligte. Als Konsequenz daraus strebten sie eine »Neugestaltung des Musiklebens mittels der Gemeinschaft«[42] an.

Der Wunsch zur Einbeziehung aller, oftmals gepaart mit nur ungenügend qualifizierten Spielleitern, und die Ablehnung jeder Art des darbietenden Auftritts bewirkte eine Hinwendung zu spieltechnisch, aber oft auch musikalisch anspruchsloser Musik. Die starke Anziehungskraft, die vor- oder frühbarocke Musik auf diese Jugendvereinigungen ausübte, ist nicht durch ein historisches Interesse erklärbar, sondern durch die Idealisierung des »starken und doch gemeinschaftsgebundenen Leben[s]« dieser Zeit.[43] Fritz Reusch, ein maßgeblicher Vertreter der Jugendmusikbewegung, grenzt die Schütz-singenden Jugendlichen der Jugendmusikbewegung bewusst von den »fast gleichzeitigen Bestrebungen der sogenannten ›Madrigalchöre‹ und [den] ›Vereine[n] zur Pflege alter Musik‹ [ab], die diese Musik nur aus Bildungsinteresse ›pflegten‹ «.[44]

Um den Bedarf an einfacher, sozusagen probefreier Musik der Singkreise zu decken, wurden von der Musikantengilde neben der Laute, die sich ab 1922 Die Musikantengilde nannte, auch Beihefte mit Musiziervorlagen für Instrumental- und Gesangsgruppen herausgegeben, deren Komponisten sich um Imitation alter Musik und Kompositionsmuster bemühten.[45]

2.4. Entwicklung der Schul- und Kinderoper des 20. Jahrhunderts

Ausgehend von den oben beschriebenen Strömungen, erstarkte in den 1920er-Jahren auch das Musiktheater für Kinder und Jugendliche in verschiedenen Formen. Neben Jugendbewegung und Reformpädagogik identifiziert Horst Braun einen dritten Faktor, der zur Wiederbelebung des musikalischen Spiels für Kinder führte: die Laienspielbewegung, die eng mit der Jugendmusikbewegung verbunden war und deren Vorliebe für Volkslieder auf verwandte darstellerische Formen wie Tanz, Reigen sowie Märchen- und Feiertagsspiele ausdehnte.[46] Durch die Einbeziehung von Musik in Stücken der Laienspielbewegung wurde der Brückenschlag zur Jugendmusikbewegung und Reformpädagogik möglich, sodass letztlich aus dem Zusammentreffen der drei Strömungen die »eigene Gattung des Jugend- und Schulspiels hervorgeht«,[47] aus der dann wenige Jahre später die Schuloper entstand.

Die musikalische Jugendbewegung einerseits, die zeitgenössischen Komponisten den Bedarf kindgerechter und -gerichteter Musik vor Augen führte, die Reformpädagogik andererseits mit dem Anspruch die kindliche Ausdrucksfähigkeit durch aktive Beteiligung zu fördern sowie schließlich die Laienspielbewegung, die an die Möglichkeiten von Amateuren angepasste Darstellungsformen entwickelte,[48] waren die drei maßgeblichen Einflüsse, die die Entwicklung des Kinder- und Jugendmusiktheaters in dieser Zeit begünstigten.

2.5. Berührungspunkte zwischen Ideen der Jugendmusikbewegung und zeitgenössischen Komponisten

Viele Komponisten der 1920er-Jahre sympathisierten mit Ideen der Jugendmusikbewegung. Die Forderung nach einer Veränderung im kommerziellen Kulturbetrieb wurde ebenso unterstützt wie die nach einem neuen Gemeinschaftssinn, der durch die Musik zu erwirken sei.

1926 kam es erstmals zu einer offenen Annäherung der beiden Fraktionen, als die erste Hochschulwoche der Musikantengilde in Brieselang abgehalten wurde, der Komponisten wie Paul Hindemith, Hermann Erpf, Ludwig Weber, Heinrich Kaminski und Wilhelm Maler aktiv beiwohnten.[49]

Im öffentlichen Diskurs der 1920er-Jahre spielte die Forderung nach sogenannter Gebrauchsmusik – Musik, die für einen bestimmten Verwendungszweck geschrieben wurde – eine große Rolle. Indem Komponisten auf die Bedürfnisse des Publikums oder der Ausführenden eingingen, sollte der zunehmenden Entfremdung der Bevölkerung von zeitgenössischer Musik entgegengewirkt werden.

Paul Hindemith hatte seinerseits zu Beginn der zwanziger Jahre einen Versuch unternommen, das Konzertwesen durch die Gründung einer »Gemeinschaft für Musik« zu verändern, die dem Publikum bei Konzerten Mitsprachemöglichkeiten geben wollte.[50]

»Obwohl Hindemith mit diesem Gemeinschafts-›Verein‹ scheitert, hält er an seiner Gemeinschaftsidee jedoch fest, sucht nach Gemeinschaft nicht um der Gemeinschaft willen, wie er es bei der Jugendmusikbewegung beobachtet, sondern aufgrund von und gebildet durch zeitgenössische Musik.«[51]

In seiner Kritik des deutschen Konzertwesens, an dem er in seiner Funktion als aktiver Musiker ja durchaus Teil hatte, war sich Hindemith mit den Vertretern der Jugendbewegung überaus einig, denn beide kritisierten

»das konventionelle Konzertleben der bürgerlichen Musikkultur, seine Kommerzialisierung, seinen gesellschaftlich-ästhetizistischen Kunstanspruch und die vielfach im Vordergrund stehende Beachtung virtuoser Perfektion bei instrumentalen Darbietungen. Entschieden wandte er sich gegen die für ihn bestehende Kluft zwischen dem Komponisten, dem Kunstwerk, dem ausführenden Künstler und einem eher passiven Publikum.«[52]

Die Kritikpunkte Hindemiths erinnern an die von Kestenberg beklagten Spaltungen in der deutschen Musikkulturszene. Diese Übereinstimmung in den Ansichten Hindemiths und der Jugendmusikbewegung veranlasste Hindemith dazu, im Anschluss an die Hochschulwoche in Brieselang einen überaus optimistischen Brief an Fritz Jöde zu schreiben, aus dem hervorgeht, dass er einerseits hoch erfreut war über die sich entwickelnde Zusammenarbeit zwischen ihm und Vertretern der Jugendmusikbewegung, er aber andererseits dem Überschwang der Veranstaltungsteilnehmer kritisch gegenüberstand:

»Ein wenig seltsam berührt den Zuschauer die ständige Begeisterung, in der die Gemeinschaft sich befindet. Ich finde, daß Begeisterung eine seltene und große Angelegenheit ist, man darf sie nicht erniedrigen, in dem man sie sich (z. B.) bis aufs Essen erstrecken lässt.«[53]

Zunächst jedoch sieht Hindemith große Chancen durch die Verbindung von Anhängern der Jugendmusikbewegung zu zeitgenössischen Komponisten. Aus diesem Grund regt er auch an, die nächste Jahrestagung der Musikantengilde, die II. Reichsführerwoche, zeitgleich und ortsnah mit dem Kongress »Deutsche Kammermusik Baden-Baden 1927« abzuhalten, um

»das Volk (im weitesten Sinne) wieder an die Musik, insbesondere dem Schaffen der Jetztzeit zu interessieren, die schaffenden Künstler aber auf die Pflicht hinzuweisen, nicht nur für den Konzertsaal zu schreiben, sondern sich auch die dankbare Aufgabe zu stellen, den musikalischen Bedürfnissen aller musikpflegender Kreise entgegen zu kommen und dadurch einen Ring zu schließen zwischen Schaffenden und Volk.«[54]

Noch in Brieselang machte sich Hindemith selbst an die Arbeit, ein Werk für das Schulorchester des Internats Bieberstein zu schreiben, dessen Orchesterleiter, Hilmar Höckner, während der Hochschulwoche mit der Bitte um ein solches Stück an ihn herangetreten war.[55] Während er in Bieberstein von der Umsetzung seiner Spielmusik für Streichorchester, Flöten und Oboen op. 43,1 und dem Eifer begeistert war, mit dem die Schüler dieser Musik begegneten, hielt seine Euphorie für die Zusammenarbeit mit der Musikantengilde nicht lange an. Es zeigte sich, dass die Vorstellungen von der Schaffung einer Gemeinschaft durch Musik nicht die gleichen waren, denn nicht Gemeinschaft um ihrer selbst willen, legitimiert durch gemeinsames Musizieren, war sein Anliegen, sondern die nachhaltige Veränderung der Gesellschaft und ihres Rezeptionsverhaltens durch Anschluss an zeitgenössische Komposition:

»Nicht die ideologischen, sondern ausdrücklich die musikalischen und pädagogischen Belange des Laienmusizierens, wie vor allem die kompositorischen Probleme einer Konzentration der musikalischen Mittel zu einer Einfachheit ohne künstlerische Konzessionen [waren für ihn] von Bedeutung.«[56]

Die Vertreter der Jugendmusikbewegung wiederum betrachteten es nicht als ihre Aufgabe, die Kunstmusik zu unterstützen.[57]

Nichtsdestotrotz widmete sich Paul Hindemith in den Jahren 1926 –1932 der Komposition zahlreicher Werke für musikalische Laien bzw. Kinder und Jugendliche, um einem breiten Publikum

»eine Teilhabe an der aktuellen Musikkultur zu ermöglichen und [es] damit zu einer Gemeinschaft durch Musik hinzuführen, indem er leicht spielbare Stücke schreibt. Er orientiert sich bei der Komposition dieser Stücke am zeitgenössischen Stand seines kompositorischen Handwerks und schreibt pädagogische Musik dadurch, daß er seinen Personalstil nur spieltechnisch reduziert.«[58]

Hindemith hielt an seiner Idee der Veränderung des musikalischen Publikums von einem passiven zu einem stärker aktiv eingebundenen, verständigen fest, wozu in seinen Augen insbesondere die musikalische Förderung von Kindern und Jugendlichen dienlich sein sollte.

»Hindemiths Interesse an musikalischen Laien entsprang also keiner seltsamen Sentimentalität, auch nicht dem reinen Selbstzweck, sondern diente einem weiterreichenden persönlichen Ziel, das er kontinuierlich verfolgte. [...] So galt es, ein Konzertpublikum auszubilden, das künftig der Entwicklung der Neuen Musik und eben auch der Musik Paul Hindemiths, wieder folgen können sollte, nachdem das Verständnis zwischen aktiven Musikern und Musikrezipienten verloren gegangen war, wie er ja bereits 1922 formuliert hatte.«[59]

Dabei betont er einerseits, dass sich musikalische Laien ihres Status’ bewusst sein sollten, dass sie andererseits das ihnen zur Verfügung stehende Repertoire kritisch betrachten und sich nicht mit minderwertigen Kompositionen zufrieden geben sollen:

»Der Laienmusiker sollte sich seiner Stellung im Musikleben bewußt sein. Er versuche nicht, den Künstler zu imitieren, habe nicht den Ehrgeiz, das Konzertpodium zu erobern oder in sonstige Gebiete des öffentlichen Musiklebens einzudringen, die der Berufsmusiker besser besorgen kann. Das Bewußtsein, ›Dilettant‹ zu sein, sollte ihn nicht stören. [...] Der musizierende Laie sollte dem ihm dargebotenen Notenmaterial gegenüber kritischer sein. Leider ist festzustellen, daß ein großer Teil der dem Laien angepriesenen Literatur minderwertig ist.«[60]

Seine Konsequenz aus der Feststellung der mangelnden Qualität vieler Kompositionen für Kinder und Laien war ein verstärktes kompositorisches Engagement seinerseits auf diesem Gebiet. Er hatte zwar schon vor 1926 Werke für Schüler komponiert, so beispielsweise eine Sammlung mit Violin-Etüden, eine Kanonische Sonatine für zwei Flöten sowie andere musikpädagogische Werke, die er zu Unterrichtszwecken schrieb, doch ist in den Jahren 1926‑1932 eine Zunahme seiner diesbezüglichen Bemühungen zu Lasten der Kunstmusikkomposition feststellbar. Neben Instrumental- und Vokalwerken entstanden in dieser Zeit auch musikdramatische Werke für Amateure.

3. Paul Hindemith: Wir bauen eine Stadt

Die oben (vgl. 2.4) beschriebenen Entwicklungen im musikdramatischen Genre fielen in die Zeit, in der Paul Hindemith sein Schaffen entschieden auf die Komposition von laienadressierter Musik konzentrierte. Die bereits erwähnten Spielmusiken für das Landerziehungsheim Schloss Bieberstein sind nur ein Beispiel, es folgten die Sing- und Spielmusiken für Liebhaber und Musikfreunde op. 45 sowie 1930 das musikalische Spiel für Kinder Wir bauen eine Stadt. In all diesen Kompositionen strebte er die Erhaltung seines Kompositionsstils bei gleichzeitiger Reduktion der spieltechnischen Anforderungen an. Die Umsetzung dieser Forderung, die er auch seinen Komponistenkollegen gegenüber immer wieder propagierte[61] und für die er scharf kritisiert wurde, unter anderem von Theodor W. Adorno,[62] fiel ihm angeblich zunächst nicht ganz leicht.[63]

1930 hatte Paul Hindemith zwar den Versuch aufgegeben, die Jugendmusikbewegung und die Kammermusiktage durch gemeinsame Themen und Programme verbinden zu wollen, doch die Gebrauchsmusik für Kinder und Laien war ihm immer noch ein Anliegen, weshalb er auch nach dem Bruch mit Jöde den Programmpunkt »Lehrstücke« auf den Plan des Kongresses »Neue Musik Berlin 1930«, der Nachfolgeveranstaltung der »Deutschen Kammermusik« Baden-Baden bzw. der Donaueschinger Kammermusiktage, setzte. Neben dem von ihm komponierten szenischen Spiel waren Beiträge von Hermann Reutter, Paul Dessau und anderen zeitgenössischen Komponisten zu hören.[64]

3.1. Das szenische Spiel für Kinder

Das szenische Spiel für Kinder ist eine zeitlich begrenzt auftretende Erscheinung von
1930–1933, die durch Hindemiths Wir bauen eine Stadt mitbegründet wurde. Typische Eigenschaft dieses Spieltyps, die auch Hindemiths Komposition für sich reklamiert, ist die ausschließliche Wendung an die ausführenden Kinder,[65] da diese Werke nicht notwendigerweise für eine Aufführung vor Publikum bestimmt sind. Natürlich ist es möglich, auch ein szenisches Spiel öffentlich aufzuführen, primärer Zweck dieser Stücke war es jedoch, »zur Belehrung und Übung für die Kinder selbst, [mehr,] als zur Unterhaltung erwachsener Zuschauer«[66] zu dienen.

In Abkehr von der Märchenoperntradition des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Szenische Spiel als betont nüchterne Spielform, die jede gefühlshafte Äußerung zu vermeiden suchte:[67]

»Das Szenische Spiel sollte – ganz im Gegensatz zum Vorführcharakter des Kindermusiktheaters im 19. Jh. – ein Spiel der Kinder unter sich sein und ohne aufwendiges illusionistisches Szenarium auskommen.«[68]

Horst Braun rechnet das szenische Spiel üblicherweise dem »zweiten Spielalter« zu, das auf Kinder im Alter von 7–13 Jahren ausgerichtet ist.[69] Damit widerspricht er in Bezug auf
Wir bauen eine Stadt Luitgard Schader, demzufolge sich dieses Spiel an 5–6-Jährige wendet.[70] Handlung, sprachliche und musikalische Gestaltung der Vokalstimmen sowie die Orientierung am Konzentrationsvermögen der Kinder in Bezug auf die Spieldauer[71] sprechen für Schaders Einschätzung, allerdings dürfte es in dieser Altersklasse keine Instrumentalisten mit den nötigen Fähigkeiten geben, sodass eine altersmäßige Zweiteilung in jüngere Kinder im Chor und ältere im Orchester anzunehmen ist.

In der Stoffwahl findet eine für die Gattung typische Anlehnung an das alltägliche, improvisierte Spielverhalten der Kinder dieser Altersstufe statt.[72] Im Fall des Hindemith-Spiels zu einem Text von Robert Seitz wie auch bei den anderen szenischen Spielen, die für den Berliner Kongress oder im Anschluss daran entstanden, geht der Handlungsgegenstand meist bereits klar aus dem Titel hervor. Ebenso wie die Thematik ein improvisierendes Spielverhalten möglich machen soll, wird von der Handlungsstruktur verlangt, den Kindern fortwährende Tätigkeit zu ermöglichen; der Fokus ist also auf äußere Handlung ausgerichtet.[73] Ein anderer Komponist eines szenischen Spiels für Kinder, Paul Höffer, schreibt über den Handlungscharakter seines Spiels Das schwarze Schaf:

»Daß die Handlung einen tieferen Sinn hat, muß für das Kind ganz unwesentlich bleiben. Wahrscheinlich würde es ihn gar nicht verstehen. Das Kind muß nur fortwährend selbst tätig sein, muß die Handlung selbst vorwärts treiben. Daher muß die Handlung leicht verständlich und unbedingt logisch sein.«[74]

3.2. Handlung

Das Spiel Wir bauen eine Stadt ist in zehn Nummern gegliedert; diese tragen weder Bezeichnungen wie »Lied« – geschweige denn »Arie« – noch wirkliche Titel, sondern enthalten in den Überschriften quasi die Regieanweisungen:

1. Marsch. Die Kinder kommen im Gänsemarsch herein
2. Die Kinder in zwei Gruppen
3. Zu dieser Musik wird das Bauen dargestellt
4. Der Lehrer oder ein zuschauendes Kind fragt die Kinder: Welche Leute kommen denn in Eure Stadt?
5. Frage an die Kinder: Wie kommen denn diese Leute in Eure Stadt?
Frage: Und woher kommen all diese Leute? Hierauf folgt die zweite Strophe
6. Während dieser Musik stellen die Kinder dar, wie den neu ankommenden Leuten die Stadt gezeigt wird
7. Frage: Was macht denn aber ihr selber in der Stadt? Kann als Pantomime dargestellt werden
8. Zwei Kinder spielen ›Besuch‹
9. Während die Kinder leise, geheimnisvoll und mit Spannung dieses Lied singen, wird von fünf oder sechs Kindern die darin geschilderte Räubergeschichte pantomimisch dargestellt
10. Frage: Gibt es denn in Eurer Stadt auch erwachsene Leute?

Der ›Verkehrsschutzmann‹ stellt sich auf und läßt alle Kinder vorbeipassieren. Abmarsch.

Im Kursivdruck ist als Anregung für die ausführenden Kinder oder die anleitenden Betreuer das Geschehen ausgedrückt, das zu der jeweiligen Musik darzustellen ist. Da es sich lediglich um sehr allgemeine Handlungsanweisungen handelt, ist die konkrete Umsetzung flexibel und durchaus improvisatorisch möglich.

Diese – obgleich sparsamen – Regieanweisungen verraten einiges über das Kindbild der Zeit, denn beispielsweise Gänsemarsch gehört wohl eher zu den pseudokindlichen Verhaltensweisen, die von Erwachsenen gerne oktroyiert werden, um eine Gruppe von Kindern zu organisieren. Aus heutiger Sicht, ergibt sich ein Widerspruch zwischen der angestrebten freien Entfaltung der Kinder durch eine am Improvisationsgedanken angelehnte Tätigkeit, die ihrem natürlichen Spielverhalten nachempfunden sein soll und der Wirklichkeit des militärisch strengen Erziehungssystems. Den gleichen widersprüchlichen Eindruck erweckt auch der Polizist, der in der letzten Nummer Verkehrserziehung betreibt. Auch er stellt für heutiges Empfinden ein Eindringen erwachsener Autoritätsausübung in die angebliche Orientierung an natürlichen kindlichen Spielmustern dar.

Es gibt in Wir bauen eine Stadt keinen inneren Handlungszusammenhang dergestalt, dass eine Nummer zwingend aus der vorangegangenen hervorgeht, sondern es handelt sich um eine lose Aneinanderreihung von Einzelszenen, die aber durchaus in einem logischen Zusammenhang stehen. Verknüpft werden sie durch die Fragen, die ein Erwachsener oder ein anderes Kind zwischen den Nummern zu stellen hat; auf diese Weise werden die als Antwort folgenden Nummern vorbereitet und zu einem zusammenhängenden Handlungsstrang verknüpft. Kiwha Kim erklärt diesen nur lose geknüpften Zusammenhang zum durchgehenden Prinzip der hindemithschen Laienkompositionen:

»Die meisten pädagogischen Kompositionen bestehen aus mehreren Mikroeinheiten, die formal zusammengehören, aber vom Ganzen nicht immer abhängig sind.«[75]

Zwar gibt es Solopartien, in denen Kinder für eine Nummer, oder auch nur für eine Strophe, die Rolle einer handelnden und sprechenden Person, beispielsweise die des Lehrers, annehmen, aber es gibt keine wiederkehrenden Charaktere und somit auch keine wirkliche Charakterisierung einzelner Rollen, textlich oder musikalisch. Wir bauen eine Stadt ist insofern strukturell noch eine Frühform späterer musikdramatischer Gattungen für Kinder, als die Handlung nicht durch Dialoge ausgedrückt wird, der Text also nicht einzelnen Rollen in den Mund gelegt ist, sondern das Geschehen von einem Kollektiv erzählt und – je nach Aufführungsgestalt – szenisch oder gestisch untermalt wird. In den meisten Nummern handelt es sich bei dem zu singenden Text um einen äußerlich betrachtenden und erläuternden.

3.3. Text

Wie in der Stoffwahl wird auch in der Sprachgestaltung des szenischen Spiels eine Orientierung an den kindlichen Alltagsgewohnheiten proklamiert:

»Die sprachliche Formulierung der Texte der szenischen Spiele lehnt sich ebenso an die Alltagssprache des Kindes an wie der Stoff an die alltägliche Spielwelt. Den szenischen Spielen ist eine ganz ungekünstelte Prosasprache eigen, die mit der gebundenen Sprache der späteren Spiele nichts gemein hat«.[76]

Bedingt durch die Thematik im Falle des Spiels Wir bauen eine Stadt – die Kinder stellen den Bau einer eigenen Stadt dar – ist die Sprache bewusst neutral und unkindisch gehalten und verzichtet weitgehend auf Verniedlichungen oder ähnliche Formen kindertümelnder Sprache. Das bedeutet aber nicht, dass die Sprachgestaltung nicht den Forderungen nach natürlicher kindlicher Ausdruckweise gerecht würde. Die meisten Nummern sind von der Warte der Kinder gesprochen und auch ihrem Wortschatz angepasst, doch die Selbständigkeit, die aus dem Vorhaben spricht, eine eigene Stadt zu bauen, wird unterstützt durch eine auf Infantilismen verzichtende Sprache. Gelegentlich werden allerdings auch die Rollen Erwachsener angenommen (z. B. in Nr. 7 und Nr. 8), in welchen Fällen die abweichende Perspektive auch textlich zum Ausdruck kommt, indem diese Sätze besonders »erwachsen« klingen. Da die Kinder im Laufe des Stückes sowohl in ihrer Eigenschaft als Kinder sprechen, als auch Erwachsene darstellen, muss dieser Kontrast sprachlich deutlich gemacht werden. Beobachtet man Kinder beim Spielen, so stellt man fest, dass sie häufig in die Rolle von Erwachsenen schlüpfen und dabei auch deren sprachliche Gewohnheiten nachzuahmen versuchen. Robert Seitz bedient sich dieses Umstandes und legt den Kindern, bzw. in diesen Sätzen »Erwachsenen«, einen Text in den Mund, der gleichzeitig eine glaubwürdige Imitation eines Erwachsenengesprächs ist, dabei aber aus dem Munde der Kinder nicht altklug klingt. Aus heutiger Sicht gibt der Text der zweiten Strophe von Nr. 8 Auskunft über die pädagogischen Methoden, die in den Klassenräumen herrschten – trotz Reformpädagogik und dem offiziellen Begehren, auf das Kind einzugehen. So heißt es an dieser Stelle:

Erstes Kind: »Guten Tag, Herr Lehrer, wie lernt denn mein Sohn?«

Zweites Kind: »Nichts. Der Junge ist dumm.

Gestern musste ich ihn wieder schlagen,

weil der Kerl so frech war,

die ganze Kreide zum Frühstück zu essen.« (Wir bauen eine Stadt, S. 11)

Neben der Selbstverständlichkeit der Prügelstrafe lässt sich an dieser Strophe auch zeigen dass es sich erkennbar um eine kindliche Nachahmung eines Erwachsenengesprächs handelt, da von einem Lehrer gegenüber einem Elternteil weder die Äußerung »Der Junge ist dumm« denkbar scheint noch die Begründung, er habe bestraft werden müssen, weil er die ganze Kreide zum Frühstück gegessen habe.

Die textliche Faktur des Satzes Nr. 5 hingegen zeigt deutliche Spuren dessen, was Erwachsene häufig als kindgerechte Sprache betrachten. Die lautmalerische Nachahmung der darin genannten Fahrzeuge (»Töff. Töff. [...] Sss. Sss. [...] Sch. Sch. [...] Tut. Tut«) kennt man vor allem von der kindgerichteten Sprache Erwachsener, die natürlich bei entsprechend häufiger Wiederholung von den Kindern aufgegriffen wird. Insbesondere in der zweiten Strophe aber haben die Einwürfe (»Ei. Ei. [...] So. So. [...] Ja. Ja. [...] Juhu.«) ihre Berechtigung als lautmalerische Elemente verloren und wirken nur noch kindisch. Auch in Nr. 10 findet man den Versuch, Kindersprache durch die Verwendung der falschen Pluralform »Onkels« nachzuahmen – ein nicht gerade pädagogisches Vorgehen in einer pädagogischen Komposition, zumal Kinder meist empfindlich reagieren, wenn man sie in ihren Fehlern nachahmt.

Text- und Handlungsstruktur erheben den Anspruch, dem kindlichen Ausdrucksvermögen zu entsprechen und den Kindern somit zu erlauben, ihre volle Konzentration auf die spielerische Tätigkeit zu richten, die schließlich im Zentrum stehen sollte. Offenkundig beinhaltet aber für Robert Seitz der Rückgriff auf das kindliche Ausdrucksvermögen, neben der überwiegend einfachen aber ernsthaften Sprache, auch die Verwendung der oben zitierten Lautnachahmungen, die ebenso Teil des kindlichen Wortschatzes sein können.

3.4. Musik

Wie im Text die ungehinderte Entfaltung der Kinder durch Berücksichtigung ihrer Alltagssprache angestrebt wird, ist auch in der Musik des Spiels Wir bauen eine Stadt eine Orientierung am Improvisationsgedanken festzustellen, um damit Freiräume zu schaffen. Hindemith selbst sagt dazu: »Die Musik dieses Stücks ist kurz und einfach, das Ganze ist mehr ein Rahmen für die schöpferische Tätigkeit der Kinder, als eine regelrechte Komposition.«[77]

Er gestattet ausdrücklich, mit der Musik sehr frei zu verfahren, und macht dies insofern obligatorisch, als die Partitur zugleich der Klavierauszug ist – oder umgekehrt, die Partitur für jede Aufführung auf der Basis des Klavierauszuges erstellt werden muss.

Die Mindeststärke des Orchesters besteht aus drei Spielern, wobei die genaue Besetzung nicht definiert ist (s. Wir bauen eine Stadt, S. 2). Die Stimmbezeichnung in der Partitur spricht nur von hohen Stimmen, mittleren Stimmen und tiefen Stimmen, darüber hinaus gibt es eine notierte Schlagzeugstimme für Tamburin, Triangel oder Trommel. Hindemith erläutert in seinem Vorwort das Konzept so, dass die Besetzung der Stimmen an den jeweils verfügbaren Instrumenten orientiert werden soll, überdies können die Ober- oder Unterstimme oktaviert verdoppelt werden, wenn Instrumente vertreten sind, deren Tonlage über oder unter der der beiden Außenstimmen liegen. Die sich hier offenbarende Dominanz des musikalischen Materials über die Klangwirkung zeugt natürlich einerseits von Rücksicht auf unterschiedliche Aufführungsbedingungen, könnte aber andererseits auch als typisches Merkmal der Zeit gedeutet werden, die auch in der Musik Wert auf Nüchternheit und Objektivität (sofern dies eine gültige Eigenschaft von Musik sein kann) legte. Da durch die Musik keine bestimmten Emotionen beim Hörer hervorgerufen werden sollen, ist Klangfarbe zweitrangig und es kann den Ausführenden zugestanden werden, alle Besetzungsentscheidungen nach Verfügbarkeit der Instrumente zu treffen.

Hindemith selbst macht im Vorwort seines Lehrstücks, das nach dem gleichen Besetzungsprinzip operiert, nicht nur auf die Möglichkeit der Verdoppelung von Stimmen aufmerksam, sondern äußert sich auch zum Einsatz von Blechblasinstrumenten: »sie sollten hauptsächlich die lauten Stellen mitspielen und können bei begleiteten Chören die Chorstimmen verdoppeln«.[78] Zwar lässt sich diese Äußerung nicht ohne weiteres auf Wir bauen eine Stadt übertragen, da dieses musikalische Spiel praktisch nur aus begleiteten Chören sowie einigen rein instrumentalen Sätzen besteht, in denen sich (mit Ausnahme von Nr. 4 und Nr. 9) keine dynamischen Angaben finden, aber sie macht deutlich, dass Hindemith durchaus eine Differenzierung der Klangfarben mitdachte. Auch in Wir bauen eine Stadt ist es demnach vorstellbar – sofern ein entsprechendes Ensemble zur Verfügung steht – die Einzelstimmen nicht nur als Gesamtes, sondern auch einzelne Phrasen daraus, verschiedenen Instrumenten zuzuweisen.[79]

Doch nicht nur in Bezug auf die Besetzung ist das Stück flexibel zu handhaben, Hindemith gestattet auch ausdrücklich einen freien Umgang mit dem Gesamtablauf:

»Den jeweiligen Bedürfnissen des spielenden Kinderkreises entsprechend kann die Form des Stückes geändert werden: Lieder können wegbleiben, andere Musikstücke, Tänze oder Szenen können eingeschoben werden.« (Wir bauen eine Stadt, S. 2)

Aus dieser Einstellung zum musikalischen Werk spricht Hindemiths bereits 1922 durch die Ideen seiner musikalischen Gesellschaft ausgedrückte Überzeugung, dass der Werkgedanke der Vergangenheit angehören sollte und Komponisten eine größere Einbeziehung des Publikums durch eine Loslösung von diesem Konzept erreichen können. Natürlich sind es im Fall der pädagogischen Musik auch praktische Erwägungen, die den flexiblen Umgang mit dem Notenmaterial nahelegen, um eine Spielbarkeit in möglichst vielen Besetzungskonstellationen zu ermöglichen.

3.4.1. Melodik

Die Vorrangstellung der Melodik gegenüber anderen musikalischen Elementen in Wir bauen eine Stadt ist ein Merkmal, das das Spiel mit anderen Werken Hindemiths aus diesem Schaffensabschnitt teilt.[80] Die melodische Führung aller Stimmen, vokal wie instrumental, zeichnet sich durch große Linearität aus. Diese Linien bestehen maßgeblich aus Sekundschritten sowie kleineren Sprüngen (Terzen bis Quinten). Auch die Instrumentalpartien orientieren sich klar an Sanglichkeit und verzichten aus diesem Grund auf schwierige Sprünge.[81] Der Tritonus, der im melodischen Repertoire anderer Zeitgenossen Hindemiths eine wichtige Stellung einnahm, wurde von Hindemith kompositionstechnisch eher kritisch beurteilt;[82] folglich verzichtete er auf die Verwendung dieses Intervalls als Melodiebaustein innerhalb dieses musikalischen Spiels.

Hindemith selbst betont die melodische Bedeutung der Sekunde[83] und verwendet sie extensiv in dieser Komposition. Die Melodien zeichnen sich zudem durch Geschlossenheit aus; melodische Linien kehren entweder zu ihrem Ausgangston zurück (z. B. Nr. 2 beginnt und endet auf g, auch in Nr. 4 beginnen und enden die Phrasen der Gesangsstimme auf dem gleichen Ton) oder bewegen sich zu tonal verwandten Zielen (in Nr. 7 beginnt die Gesanglinie auf a und endet die Phrase auf d). Die gleichwertige melodische Behandlung aller Stimmen führt zu einer polyphonen Gestaltung der Einzelsätze.

3.4.1.1. Melodik der Gesangsstimme

Wie Seitz in der Stoff- und Textgestalt darauf achtete, dass das Spiel für Kinder natürlich und verständlich ist, so bemüht sich auch Hindemith in der musikalischen Gestaltung um eine Orientierung am Kenntnishorizont und den Fähigkeiten der Kinder. Dies äußert sich in der Melodik am Deutlichsten durch die Verwendung weniger, wiederkehrender Prinzipien, die durch ihre Nähe zu Kinderliedmelodik auffallen. Kinderlieder zeichnen sich typischerweise durch Sekundschritte, Dreiklangssprünge, Sequenzierungen und Umkehrungen von Motiven innerhalb eines begrenzten Tonraumes aus, verbunden mit rhythmischer und metrischer Simplizität. Die Melodien der Einzelnummern von Wir bauen eine Stadt sind zwar strukturell nicht in Liedform gebaut,[84] melodisch ist dennoch häufig Ähnlichkeit mit Kinderliedern festzustellen, die sich durch eine deutliche Übereinstimmung mit den genannten Phänomenen äußert.

[...]


[1] Sonntag, S. 13

Alle ausführlichen Literaturangaben sind im Anhang ab Seite 148 zu finden.

[2] Sonntag, S. 13

[3] Wilfried Hiller, ebenfalls Komponist zahlreicher Werke für Kinder, berichtet, das Komponieren für Kinder begonnen zu haben, weil er von dem im Handel erhältlichen Repertoire enttäuscht war und seinem Sohn daraufhin versprach, ihm selbst etwas zu komponieren. Vgl. Hillebrand, S. 33

[4] Für eine umfassende Auflistung vgl. Regler-Bellinger, Sp. 43

[5] vgl. Heister, S. 233

[6] zitiert nach Reiß 2004, S. 23

[7] z.B. Kinderoper Köln oder Wiener Kinderoper

[8] Schmid-Reiter, S. 12

[9] vgl. z.B. Reiß u. Schoenebeck, Bonn & Münster ³1992 u. ²1992

[10] vgl. z.B. Reiß 1995

[11] vgl. z.B. Wendt und Kobler

[12] vgl. Reiß 1990

[13] vgl. Schoenebeck 1990

[14] vgl. Schmid-Reiter 2004

[15] vgl. hierzu v.a. die Schriften von Kiwha Kim, Josef Kloppenburg und Gerd Sannemüller

[16] vgl. z.B. Griffiths 1982

[17] vgl. z.B. Kuna oder Karas

[18] vgl. Červinková 2005

[19] Wendt, S. 183

[20] Reiß 1995, S. 1

[21] vgl. hierzu Huhn, S. 57 sowie Schedl, S. 153: »Gut gemachtes Kindertheater – ich meine hier nicht kindertümliches – ist immer auch Elterntheater und die große Erwachsenenoper ist meines Erachtens kinder- und jugendtauglich.«

[22] McBurney, S. 33

[23] Reiß 2004, S. 54

[24] Huhn, S. 60

[25] ebda., S. 61

[26] Reiß 2004, S. 54

[27] vgl. Braun, S. 11

[28] vgl. Reiß 2004, S. 28

[29] Regler-Bellinger, Sp. 44f.

[30] vgl. Braun, S. 12

[31] Regler-Bellinger, Sp. 45

[32] Pachl, S. 134

[33] vgl. Wendt, S. 183f.

[34] vgl. Regler-Bellinger, Sp. 45

[35] Reiß 2004, S. 32

[36] vgl. Braun, S. 80

[37] Gruhn, S. 220

[38] vgl. Funck, S. 74

[39] vgl. Braun, S. 17

[40] Kloppenburg 2002, S. 47

[41] vgl. Kloppenburg 1996, S. 189

[42] Kolland, S. 47; vgl. hierzu auch Antholz, Sp. 1570: »Soziokulturell bedeutsam ist die Absage artifizieller Konzertmusik und die Ansage laienverbundener Gebrauchsmusik.«

[43] Reusch, S. 75

[44] ebda.

[45] vgl. Kloppenburg 2002, S. 33

[46] vgl. hierzu Braun, S. 23

[47] ebda., S. 25

[48] vgl. ebda., S. 14

[49] vgl. Sannemüller 1976, S. 14

[50] vgl. Kloppenburg 1993, S. 135

[51] ebda., S. 136

[52] Sannemüller 1992, S. 27

[53] Brief Hindemiths vom 12. Oktober 1926 an Fritz Jöde. Zitiert nach Hindemith 1982, S. 125f.

[54] aus dem Programmheft der Doppelveranstaltung, zitiert nach Kloppenburg 1996, S. 190

[55] vgl. hierzu z.B. Funck, S. 78

[56] Sannemüller 1976, S. 15

[57] vgl. Kloppenburg 1996, S. 191

[58] ebda.

[59] Schader 1999, S. 42

[60] Hindemith: »Forderungen an den Laien«, S. 42

[61] vgl. Hindemith: »Forderungen an den Laien«, S. 42f.

[62] Adorno äußerte sich verschiedentlich kritisch zu Kompositionen Hindemiths, insbesondere zu seinen Gebrauchsmusiken. Beispielhaft sei hier seine Ansicht zu Hindemiths Bestrebungen, spieltechnisch abgespeckte Kunstmusik zu komponieren, zitiert:

»Man wird an pädagogischen Stücken zeitgenössischer Komponisten von Rang wie Bartók und Hindemith das Gefühl des Gewaltsamen, der veranstalteten Rückbildung der musikalischen Sprache nicht stets los. Der neuen Mittel sich zu bedienen und die Produkte zugleich technisch und geistig im Umkreis des Verständnisses der Schüler zu halten, verfälscht den immanenten Sinn der verwandten Mittel.« Adorno, S. 124

[63] So berichtet von Hilmar Höckner 1980, S. 398; vgl. auch Schader, 1999, S. 37

[64] vgl. Kloppenburg 1996, S. 75

[65] vgl. Braun, S. 81

[66] Hindemith: Vorwort zu Wir bauen eine Stadt, S. 2; alle weiteren Verweise auf dieses Werk beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis genannte Ausgabe und sind in Klammern im laufenden Text angegeben.

[67] vgl. Braun, S. 81

[68] Regler-Bellinger, Sp. 46

[69] vgl. hierzu Braun, S. 80 und S. 65f. für die Erklärung der Spielalter

[70] vgl. Schader 1995, S. 43

[71] vgl. Kim, S. 84

[72] vgl. Braun, S. 81

[73] vgl. ebda., S. 82

[74] Höffer: »Zu meinem Spiel für Kinder Das schwarze Schaf «, in: Melos 5/6 (1930), S. 223, zitiert nach Braun, S. 82

[75] Kim, S. 54

[76] Braun, S. 82

[77] Hindemith: »Mahnung an die Jugend«, S. 121

[78] Hindemith: Lehrstück, S. 2

[79] vgl. hierzu die Aufnahme mit Rundfunk-Kinderchören Leipzig unter der Leitung von Hans Sandig, Berlin Classics 1999

[80] vgl. Sannemüller 1976, S. 56

[81] vgl. Kim, S. 58

[82] vgl. Hindemith ²1940, S. 104ff.

[83] »Das eigentliche Baumaterial der Melodik sind die Sekunden.«, Hindemith ²1940, I, S. 222

[84] vgl. Braun, S. 84

Ende der Leseprobe aus 151 Seiten

Details

Titel
Kinderlieder im Opernhaus oder Arien im Kinderzimmer?
Untertitel
Aspekte kindgerechten Komponierens untersucht an Opern des 20. Jahrhunderts
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Musikwissenschaftliches Seminar)
Note
2,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
151
Katalognummer
V134084
ISBN (eBook)
9783640422166
ISBN (Buch)
9783640421886
Dateigröße
40088 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kinderlieder, Opernhaus, Arien, Kinderzimmer, Aspekte, Komponierens, Opern, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
M.A. Katharina Kierig (Autor:in), 2007, Kinderlieder im Opernhaus oder Arien im Kinderzimmer?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134084

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kinderlieder im Opernhaus oder Arien im Kinderzimmer?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden