Oberschlesische Identität? Zur Lage der Deutschen Minderheit


Bachelorarbeit, 2008

53 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG
1.1 GEGENSTAND UND AUFBAU DER ARBEIT
1.2 ZUM FORSCHUNGSGEGENSTAND IN DER LITERATUR

2. MAKROEBENE
2.1 OBERSCHLESIEN
2.1.1 ABRISS DER GESCHICHTE BIS DER WENDE
2.1.2 DREI WOIWODSCHAFTEN-EIN SCHLESIEN
2.1.3 CHARAKTERISTIKA DER BEVÖLKERUNG IN DER REGION
2.2 DIE SITUATION DER DEUTSCHEN MINDERHEIT IN OBERSCHLESEIN IN DEM ZEITRAUM 1945-1989
2.2.1 DIE AUSGANGSLAGE NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
2.2.2 DIE DEUTSCHEN UNTER POLNISCH-KOMMUNISTISCHER HERRSCHAFT
2.3 DIE DEUTSCHE MINDERHEIT IN OBERSCHLESIEN SEIT DER WENDE
2.3.2 OFFIZIELLE RECHTLICHE ANERKENNUNG DER DEUTSCHEN MINDERHEIT
2.3.3 INFRASTRUKTUR UND EINRICHTUNGEN DER DEUTSCHEN MINDERHEIT
2.3.4 SOZIOKULTURELLE LAGE DER DEUTSCHEN MINDERHEIT IN OBERSCHLESIEN

3. MIKROEBENE
3.1 BEGRIFFSBESTIMMUNG
3.1.1 IDENTITÄT / STAATSANGEHÖRIGKEIT
3.1.2 KULTURELLE AUTONOMIE
3.2 PROZESS DES IDENTITÄTSWANDELS UND PROBLEME DER IDENTITÄTSFINDUNG SEIT 1990
3.2.1 ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES IDENTITÄTSPROBLEMS
3.2.2 SCHLESIER-DEUTSCHE, POLEN ODER AUTOCHTONEN?
3.2.3 SCHLESISCHE NATIONALITÄT ODER IDENTITÄT?
3.2.4 VON WIEDERENTDECKUNG DES DEUTSCHTUMS BIS ZUM NEUEN SCHLESIERBEWUSSTSEIN – ZUSAMMENSETZUNG
3.3 DIE DEUTSCHE MINDERHEIT IN OBERSCHLESIEN ZWISCHEN INTEGRATION, ASSIMILATION UND SEGREGATION
3.3.1 DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN MEHRHEIT UND MINDERHEIT
3.3.2 REGIONALIDENTITÄT IN DER SPRACHE
3.3.3 ANALYSE DES PROBLEMS

4. SCHLUSSFOLGERUNGEN

5. ENGLISH SUMMARY

ABBILDUNGS-UND TABELLENVERZEICHNIS

ABKÜRRZUNGSVERZEICHNIS

LITERATURVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

1.1 Gegenstand und Aufbau der Arbeit

Die Situation der deutschen Minderheit in Oberschlesien ist heute eine Frage politischer, linguistischer, soziologischer und gesellschaftlicher Natur. Die Oberschlesier als ein Grenzvolk der polnischen und deutschen Identität zwischen den Ursprüngen des slawischen und des germanischen Kulturkreises und der Sprache, haben eine besondere Kulturautonomie und Identität durch verschiedene Elemente der beiden Traditionen und Kulturerben gestaltet. Das Hin- und Hergerissen Sein der Schlesier zwischen polnischer und deutscher Identität und Kultur bildet ein wesentliches gesellschaftliches Problem und zusätzlich einen Gegenstand von Kontroversen. Seit Jahrhunderten ist Schlesien fast immer historisch und politisch Verhandlungskraft unterschiedlicher Großmachtinteressen gewesen und stand unter abwechselnden Einflüssen. Daraus entsteht das Problem der Identitätsfindung unter den Bewohnern Schlesiens, das bis zur Gegenwart unentwirrbar scheint. Heute könnte man Oberschlesien als Symbol eines Streites um den kulturellen Ursprung von Volksvermögen bezeichnen. Es ist auch ein Streit um die nationale Identität von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Dichtern, die teilweise für beide Nationen dienten, sowie um die staatliche Zugehörigkeit des Gebietes selbst. Das akute Problem heute ist jedoch der Identitätswandel der Bewohner Schlesiens, die nach vielen Jahren des Annährungsprozesses und dem damit verbundenen Entfremdungsgefühl immer noch versuchen, einen neutralen Weg des Zusammenlebens in der besonderen ethnischen Zusammensetzung der Region zu finden. Daraus lassen sich somit viele Konflikte und Probleme auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene ableiten, die seit der offiziellen Anerkennung der deutschen Minderheit in Polen vor 18 Jahren immer wieder Emotionen hervorrufen.

Das Themengebiet ist sehr problematisch und dabei auch sehr umfangreich. Die Geschichte der Entstehung der deutschen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg umfasst vielerlei Aspekte, wie Repressionen, „Repolonisierung“ und „Entdeutschung“, Vertreibungen mit Einschluss der Bemühungen um Ratifizierung der Minderheitsrechte, sowie um Anerkennung der Deutschen in Polen nach dem Ende der Parteiherrschaft im Jahr 1989. Um die Problematik der schlesischen Identität zu verstehen, ist es wichtig, alle diesen Aspekte in Betracht zu ziehen, da diese Ereignisse inhärent wahrscheinlich die gegenwärtige Lage der deutschen Minderheit geprägt haben. Da diese Bachelorarbeit in ihrem Ausmaß begrenzt ist, wird es leider nicht möglich sein, alle diese Ereignisse tief genug zu beschreiben. Ich versuche trotzdem, kurz diese Aspekte näher darzustellen, die in die tiefergehende Analyse des Identitätsproblems einführen sollten.

Das Thema meiner Bachelorarbeit lautet daher „Oberschlesische Identität? – Zur Lage der deutschen Minderheit“. Die Struktur der Arbeit wird in zwei Teile gegliedert – in die Makro- und die Mikroebene, um zuerst eine breitere Aussicht auf die Lage der deutschen Minderheit in Oberschlesien und ihre Situation in der Region zu schaffen und damit dann tiefergehend das Identitätsphänomen analysieren zu können. Auf der Makroebene wird zuerst auf die statistisch-historischen Angaben Schlesiens kurz eingegangen, die notwendig für das Verständnis des Problems sind. Dann versuche ich die Frage zu beantworten, wie die deutsche Minderheit in Oberschlesien rechtlich und soziokulturell organisiert ist. In erster Linie geht es um die statistischen Daten und um die Infrastruktur der deutschen Minderheit. In diesem Teil wird besonders auf die Entstehungsgeschichte der deutschen Minderheit und auf die Charakteristika der Region Schlesiens eingegangen, da diese für die Schlussfolgerungen der Mikroebene hilfreich sind. Den Schwerpunkt meiner Bachelorarbeit bildet das Thema der Identität der deutschen Minderheit und der polnischen Mehrheit in Oberschlesien. Um die Identitätsproblematik der Oberschlesier zu erklären, versuche ich zunächst in diesem Abschnitt den Begriff Identität zu definieren. Da es heute schwierig ist, die Gruppen voneinander abzugrenzen, fokussiere ich mich in der Mikroanalyse auf das Phänomen der schlesischen Gruppe, die unter den Bewohnern Schlesiens als kulturell „neutral“ gilt. In diesem Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich mit dem Problem der Identität und der doppelten Staatsangehörigkeit. Damit möchte ich folgende Fragestellungen beantworten:

- Wen könnte man heute Schlesier nennen?
- Sind Schlesier Polen oder Deutsche?
- Welche Identität nehmen sie selbst an und gibt es überhaupt eine schlesische Nationalität/Nation oder ist diese lediglich eine kulturelle Abwandlung?
- Welche Rolle spielt die Region in diesem Diskurs, und warum wählen die deutschen Mitglieder vorwiegend die schlesische Nationalität in Befragungen und streben nach einer schlesischen Autonomie?
- Welche Bedeutung hat der Begriff Sprachidentität für die Gruppen, und welche Sprache (Deutsch, Polnisch oder Schlesisch) ist wichtiger für die Identitätsstiftung?

Schließlich versuche ich die These der Arbeit darzulegen, dass die deutsche Minderheit heute zwischen Integration, Assimilation und Segregation steht und, zwischen den beiden Kulturen lebend, eine eigene schlesische Kulturautonomie bildet.

1.2 Zum Forschungsgegenstand in der Literatur

Da die Thematik der deutsch-polnischen Beziehungen mit Hinblick auf die gemeinsame Geschichte sehr oft als kontrovers gesehen wird, ist es sehr wichtig bei der Untersuchung, die Annährung an Schlesien von beiden Seiten zu betrachten. Ein einseitiger Blick auf die Geschichte sollte so weit wie möglich vermieden werden. Man sollte sowohl die deutsche, als auch die polnische Ausführung der Geschichte berücksichtigen, um zu einem objektiven Ergebnis zu gelangen. Deswegen ist es mir in dieser Arbeit wichtig, beide Sichtweisen zu beachten. Der Abriss der Geschichte Schlesiens ist daher auf der Basis des Werks von Joachim Bahlcke „Schlesien und die Schlesier“[1] und auf der Basis der Zusammenarbeit von Julian Bartosz und Hannes Hofbauers „Schlesien“[2] entstanden. Für das Verständnis der deutsch-polnischen Beziehungen waren mir die Publikationen in dem deutsch-polnischen Magazin Dialog von einer der Autoritäten in diesem Bereich - Adam Krzemiński - und das neu herausgegebene Buch – Interview mit Władysław Bartoszewski: „Mimo wszystko“[3] von Michał Komar - eine große Hilfe.

Die Untersuchung der oberschlesischen Identität bis 1989 ist kompliziert wegen der polnischen Politik dieser Zeit, die der Existenz von Deutschen in Polen widersprochen hatte. Die Quellen zur Erforschung des Bewusstseins der oberschlesischen Bevölkerung sind somit zu diesem Zeitraum begrenzt. Die Publikationen, die jedoch nach der Wende entstanden sind, weisen nach, dass die Problematik der schlesischen Identität von großer Bedeutung ist. Wichtig ist dabei zu beachten, dass die Differenzen in den Schätzungen der Anzahl der Mitglieder der deutschen Minderheit in Polen, die zwischen polnischen und deutschen Forschern bestehen, das Ergebnis unterschiedlicher Berechnungskriterien sind. Da die Existenz von Deutschen in Polen jahrzehntelang tabuisiert wurde und diese Repressionen und Diskriminierung ausgesetzt waren, hatte die deutsche Minderheit nach der Wende das Bedürfnis ihre Existenz zu manifestieren und sich in Verbänden zu organisieren. Seit der offiziellen Anerkennung der deutschen Minderheit 1990 versucht man die Thematik sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Literatur und Publizistik tiefgehend zu bearbeiten. Ein Standardwerk für die Thematik der deutschen Minderheit ist das Buch „Deutsche in Polen. Geschichte und Gegenwart einer Minderheit“[4] von Thomas Urban, das sowohl die Entstehungsgeschichte der Minderheit als auch den Kern der Situation objektiv betrachtet. Viele Publizisten haben sich außerdem seit 2002 mit einem ganz neuen Phänomen des Identitätswandels in Schlesien beschäftigt. Aus den Angaben, die bei der letzten Volkszählung in Polen gemacht wurden, ergab sich nämlich, dass in Polen 173 000 Menschen leben, die angeben, dass sie „schlesischer Nationalität“ seien.[5] Seit diesem Zeitpunkt ist auch die Problematik des neuen Schlesiertums.[6] Gegenstand von Untersuchungen, besonders in der polnischen Presse geworden. Zu dieser Thematik sind auch viele Forschungen der Schlesischen Universität in Kattowitz verfügbar, die leider meistens nicht in die deutsche Sprache übersetzt wurden.

2. MAKROEBENE

In diesem Abschnitt möchte ich die wichtigsten Aspekte zum Verständnis des Identitätsproblems in Oberschlesien aus einer breiten Perspektive beschreiben. Zunächst wird auf die Charakteristika der Region, ihre wechselhafte Geschichte und politische Ereignisse des Zeitraums 1945-1991 eingegangen und dann werden die wichtigsten Aspekte der Anerkennung der deutschen Minderheit in Polen analysiert.

2.1 OBERSCHLESIEN

2.1.1 Abriss der Geschichte bis zur Wende

Einer der prominentesten schlesischen Politiker und Forscher des XIX. Jahrhunderts, Emil Szramek, formulierte eine These über den komplexen Charakter Schlesiens, das sich im Zuge des deutschen, polnischen, preußischen und tschechischen Einflusses ständig veränderte und verschiedene Rollen übernahm. Noch heute steht Schlesien sowohl unter deutschem als auch unter polnischem kulturellen Einfluss und ist deswegen eine besondere Region auf der zeitgeschichtlichen Karte Polens. Um diese Besonderheit zu verstehen, sollte man zuerst die Vergangenheit beschreiben. In diesem Abschnitt möchte ich einige der Fakten der deutsch–polnischen Geschichte in Schlesien in Auszügen vorstellen, welche die zwischenmenschlichen und internationalen Beziehungen in der Region stark geprägt haben. Da die Geschichte Schlesiens so kompliziert ist, konzentriere ich mich nur auf die Ereignisse, die für das Problem der deutschen Minderheit relevant sind.

Bis zum Jahr 1289 gehörte Schlesien zur Piastenherrschaft. Nachdem der Beutenische Fürst dem tschechischen König huldigte, ist die Geschichte Schlesiens mit der tschechischen, dann mit der habsburgischen und schließlich, nach dem Jahr 1740, mit der preußischen Herrschaft verbunden. Im Verlauf seiner wechselhaften Geschichte hat Schlesien viele territoriale und politische Veränderungen erfahren. Eine einschneidende Zäsur war das Jahr 1740/41, als König Friedrich II . das Land zunächst okkupierte und dann größtenteils annektierte. Damals, wie die öffentlichen preußischen Angaben zeigen, gaben 59,1% der Bevölkerung an Polen zu sein, 34,4% Deutsche und 4,5% Tschechen.[7] Seit 1740 wuchs Schlesien immer mehr in die preußische Monarchie und schließlich in das Deutsche Kaiserreich hinein. Bis in das XX. Jahrhundert bestand eine erhebliche soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen dem Osten und dem Westen Preußens, wobei die polnische Bevölkerung die Mehrheit im östlichen Teil Schlesiens darstellte, während die Deutschen im westlichen Teil dominierten.[8] Ein neuer Abschnitt der schlesischen Geschichte begann, als die Region nach dem Ergebnis der Volksabstimmung von 1922 (im östlichen Teil) und von 1945 (im ganzen oberschlesischen Bereich) wieder mehrheitlich polnisch wurde. Die Volksabstimmung war aber nicht allein ausschlaggebend für den neuen Grenzverlauf. Einige Gebiete Schlesiens wurden ohne Volksabstimmung abgetreten, andere Gebiete wurden abgetreten, obwohl eine Mehrheit in diesem Gebiet für den Verbleib beim Deutschen Reich stimmte. Es spielten also auch politische Interessen der Sieger des 1. Weltkrieges eine Rolle. Die drei Volksabstimmungen, die zwischen 1920-22 stattgefunden haben, sollten darüber entscheiden, welchem Staate Oberschlesien zugeschlagen werden solle. Damals waren 59,6% der schlesischen Bevölkerung für einen Anschluss an das Deutsche Reich.[9] Gleichzeitig zeigte das Referendum auch, dass 40% der Schlesier ihre atavistischen Ängste überwunden hatten und für den Anschluss an Polen stimmten.[10] Als Ergebnis der dritten Abstimmung und des Aufstands entstand eine politische Grenze, die aber auch die Gesellschaft geteilte. So waren nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Volksabstimmung polnische Oberschlesier aus dem deutschen Teil des Landes in die Woiwodschaft Schlesien übergesiedelt und die deutschen Ostoberschlesier in das Oppelner Gebiet umgesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der weitaus größte Teil Schlesiens Polen einverleibt. Drei Distrikte westlich der Neiße blieben bei Deutschland (sie sind heute Teil des Freistaates Sachsen). Die deutschen Einwohner flohen oder wurden zum überwiegenden Teil vertrieben. Anschließend wurden in Schlesien Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten angesiedelt. Damals begann ein riesiger Prozess der Vertreibung und Umsiedlung, der in seinem Ausmaß und in seinen Folgen sehr dramatisch war. Nach der Untersuchungen der Volkzählung vom 14. Februar 1946 und späterer Dokumente ergibt sich, dass rund 190,3 Tsd. Deutsche aus der Region Oberschlesien in den Jahren 1946-50 ausgesiedelt wurden.[11] Bis zur Wende im Jahre 1989 wurden die Deutschen, die daheim, aber gleichzeitig nicht mehr im eigenen Staat geblieben waren, sowohl auf der beruflichen als auch persönlichen Ebene durch einen eingeschränkten Zugang zum polnischen Bildungssystem und im Berufsleben diskriminiert. Jene, die sich als Polen gefühlt hatten, mussten dies nachweisen und die, welche sich als Oberschlesier identifizierten, wurden als Deutsche behandelt. Das neue totalitäre System erkannte das Bestehen einer zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung in Oberschlesien nicht an. Weder die deutsche Kultur noch die Sprache durften betont oder verwendet werden, im Gegenteil wütete antideutsche Propaganda, welche die negativen Erfahrungen betonte. Das Verbot der deutschen Sprache in großen Teilen Oberschlesiens führte dazu, dass die Generationen nach 1945 kaum noch Deutsch als Muttersprache sprachen. Ähnlich hat sich die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpolen ausgewanderte und ausgesiedelte polnische Bevölkerung verhalten, die ihr Polentum durch das Gemeinschaftsgefühl und mittels der gemeinsamen polnischen Sprache ausdrückte und die schlesische, also deutsch-polnische Kultur zu zerstören versuchte, da diese mit der Unterdrückung des Polnischen und mit dem langjährigen Kampf um die eigene Staatlichkeit assoziiert wurde. Daraus ergab sich das Problem der nationalen und regionalen Identität, das nach der Wende immer stärker ans Licht kam.

2.1.2 Drei Woiwodschaften – ein Schlesien

Schlesien ist eine Region in Mitteleuropa beiderseits der Oder, die in Bezug auf Region zum größten Teil seit 1945 zu Polen gehört, als die Westverschiebung des polnischen Staatsgebietes bei der Potsdamer Konferenz („Dreimächtekonferenz“) stattfand. Polen erhielt damit im Westen die ehemals reichsdeutschen Gebiete Südostpreußen, Hinterpommern, Ost-Brandenburg, den östlich der Lausitzer Neiße liegenden Hauptteil Schlesiens sowie Danzig als sogenannte Kompensation der im Osten verlorenen Gebiete.[12] Kleinere Teile der Region gehören derzeit auch zu Deutschland und Tschechien.

Im Jahr 1998 wurde in Polen nach der Verwaltungsreform die während der kommunistischen Zeiten existierende administrative Struktur der 49 Woiwodschaften auf 16 neue Woiwodschaften reduziert. Drei davon liegen heute auf dem Gebiet der historischen Region Schlesien: Die Woiwodschaften Niederschlesien, Oppeln und Schlesien (Dolnośląskie, Opolskie, Śląskie)[13]. Ich beschäftige mich in meiner Arbeit mit dem historischen Gebiet Oberschlesien, das heute die zwei Woiwodschaften Oppeln, mit dem Hauptsitz in Oppeln, und Schlesien, mit dem Hauptsitz in Kattowitz, umfasst. Genauer gesagt ist Oberschlesien heute ein besonderes historisches Gebiet und eine ethnische Region im südlichen Teil Schlesiens, die zu einem Teil auf dem tschechischen Territorium und zum größten Teil in den polnischen Woiwodschaften Schlesien und Oppeln liegt, wobei der östliche Teil ein weiträumiges Industriegebiet bildet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1.: Deutsches Reich in den Grenzen 1871-1918.

URL: http://www.stoklossa.de/ahnen/pagebilder/bild_karte_schlesien.gif. (Abfrage: 20.02.2008).

Abb. 2.: Kulturlandschaft Schlesien.

URL: http://www.kulturwerk-schlesien.de/storage/pic/karten/54_karte.gif. (Abfrage:20.02.2008).

Abb. 3.: Schlesien im Jahr 2000. In: Bartosz/Hofbauer 2000:207.

2.1.3 Charakteristika der Bevölkerung in der Region

Heute ist Schlesien keine politische Einheit mehr. Das historische Oberschlesien wird von mehr als 1 Million Einwohnern in der Woiwodschaft Oppeln und knapp 4 Millionen Menschen in der Woiwodschaft Schlesien, auf einer Fläche von 21700 km2 bewohnt. Ein Großsteil der Bevölkerung ist römisch-katholischen Glaubens.[14] Das stellt eine Besonderheit dar, da die Mehrheit im östlichen Deutschland meistens protestantisch ist. Ein weiteres sozials Bestimmungsmerkmal der Bewohner wird durch den Charakter der kulturellen ethnischen Grenzregion Oberschlesiens bestimmt. „Der Begriff der kulturellen Grenzregion gilt für solche Gebiete - meistens an der Peripherie des politisch-administrativen Zentrums gelegen - in denen eine deutliche Bewusstheit der gesellschaftlichen Abgeschlossenheit herrscht und die regionale Kulturgestaltung das Ergebnis einer vieljährigen Durchdringung von vielen Kulturen und Traditionen ist, die einen differenzierten Ursprung nachweisen. Die Grenzregionen wurden durch verschiedene Nationalitäten, Einflüsse von unterschiedlichen politischen Systemen und wirtschaftliche Veränderungen geprägt. Schließlich wird die Bevölkerung der Grenzregionen durch die nicht eindeutige und differenzierte Auswahl der Nationalität charakterisiert.“[15] Obwohl in der Mitte Europas gelegen, war Schlesien zu allen Zeiten ein Randgebiet. In der wechselhaften Vergangenheit Oberschlesiens wurde die Geschichte durch die Gegenüberstellung der slawischen und germanischen Kultur und Sprache gekennzeichnet. Das Syndrom der Grenzregion, das für die schlesische Bevölkerung charakterisiert ist, hat somit seinen Ursprung in der ethnischen Vielfalt der Region und den damit verbundenen Identitätsproblemen. Heutzutage weist Schlesien in der polnischen Verwaltung nach Hannes Hofbauer eine regionale Dreiteilung auf, die ihre Entsprechung im Identitätsbild findet, das ebenfalls dreigeteilt ist: „Als autochthone Schlesier bezeichnen sich sowohl diejenigen deutscher Muttersprache (meist Großmuttersprache) als auch die Polnischsprachigen schlesischer Herkunft. Die dritte Form einer schlesischen Existenz findet man bei den Neuzüglern aus dem Osten; sie beruft sich schwach bis gar nicht auf das Schlesische als kulturelle oder sprachliche Gemeinsamkeit.“[16] Da das Kattowitzer Schlesien schon nach der Abstimmung im Jahr 1921 zu Polen gehörte und Oppeln deutsch blieb, entstand eine kulturelle Distanz zwischen den beiden Teilen, die bis heute aktuell ist. Daraus lässt sich weiter nach Hofbauer schließen, dass die schlesische Identität jenseits deutscher und polnischer Nationalität mehr im Oppelner Gebiet zu finden ist. Die differenzierten gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen der beiden Teile Oberschlesiens haben auch einen besonderen Einfluss auf die Identität seiner Bewohner. Das besondere multiethnische Wir-Gefühl hat sich im Oppelner Bezirk als Konsequenz der Distanzierung der Oppelner Bürger vom oberschlesischen Kohlerevier entwickelt.[17] Danuta Berlińska vom Schlesischen Institut in Oppeln bezeichnet diesen Prozess als „Verbrüderungswunder“.[18] Dieses Phänomen hat seinen Einfluss auf die Kluft im Zusammenleben der zahlenmäßig kleinen deutschen Minderheit im Kattowitzer Gebiet mit den Oppelner Deutschen, die sich eher als ruhig und „sauber“ beschreiben, im Gegensatz zu den Vorstellungen über die Bewohner des Industriegebiets.[19] Generell wird „sauber“ mit „deutsch“ assoziiert. Daraus folgen weiter nach Hofbauer die Ängste der polnischen Mehrheit in Bezug auf den Oppelner Regionalismus und das Heimatgefühl, da durch die aktive Führung der deutschen Minderheit Ideen von einer Wiedergeburt deutscher Kultur stark verbreitet sind. Die Bewohner Oberschlesiens weisen daher einen differenzierten Regionalismus in dem Oppelner und Kattowitzer Gebiet auf. Aus der Volkszählung, die im Jahr 2002 in Polen durchgeführt wurde, kann man entnehmen, dass die Bewohner der Woiwodschaft Oppeln sich eher mit der deutschen Identität identifizieren, wobei die Bewohner der Woiwodschaft Schlesien eher eine schlesische Identität angeben. Insgesamt haben 152896 Bewohner Oberschlesiens die deutsche Nationalität angegeben (davon 70% in der Woiwodschaft Oppeln und 21% in der Woiwodschaft Schlesien). Rund 173Tsd. (3% der befragten Oberschlesier) haben sich zur oberschlesischen Nationalität bekannt, wobei 86% auf die Woiwodschaft Schlesien und 14% auf die Woiwodschaft Opplen entfallen. Die größte Gruppe von 104399 Mitgliedern der deutschen Minderheit in Polen befindet sich also im Oppelner Bezirk. Die Woiwodschaft Schlesien ist aus den Angaben des Innenministeriums Heimat für 30531 Bewohner, die ihre Zugehörigkeit zu der deutschen Minderheit während der Volksbefragung im Jahre 2002 bekannt haben.[20] Neben der Frage der Staatsangehörigkeit und Nationalität der Oberschlesier, gab es auch in der Befragung eine Frage zur Sprache. Es ergab sich, dass die Mehrheit der Bewohner (95,7%) die polnische Sprache benutzt. Interessant ist dabei, dass 48200 der Oberschlesier die deutsche Sprache als Kommunikationssprache angegeben haben und 40200 der Bewohner die schlesische Mundart für ihre Kontakte benutzten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Ausgewählte Daten zur Nationalität in Oberschlesien nach den Angaben der Volksbefragung 2002. (Eigene Darstellung).

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Bevölkerung Oberschlesiens zunächst durch die verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen des Oppelner und Schlesischen Bezirks differenziert und weiterhin durch den römisch-katholischen Glauben, die Sprache und die Identitätsprobleme der drei Gruppen (Autochthone: Deutsch-bzw. Polnischsprachige und Zuzügler), die sich aus der grenzregionalen Charakter Oberschlesiens ergeben, gekennzeichnet sind.

2.2 DIE SITUATION DER DEUTSCHEN MINDERHEIT IN OBERSCHLESIEN IN DEM ZEITRAUM 1945-1989

2.2.1 Die Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Westverschiebung des polnischen Staatsgebiets wurde offiziell zwischen dem 17. Juli und 2. August 1945 bei der Potsdamer Konferenz beschlossen. Polen verlor damit nahezu die gesamte Osthälfte seines Staatsgebiets mit 12,5 Millionen Einwohnern an die Sowjetunion. Als „Ausgleich“ erhielt der polnische Staat im Westen die reichsdeutschen Gebiete Südostpreußen, Hinterpommern, Ost-Brandenburg, den östlich der Lausitzer Neiße liegenden Hauptteil Schlesiens sowie Danzig mit einer Fläche von insgesamt 102800 km2, die im Jahre 1939 von etwa 10 Millionen Deutschen bewohnt waren.[23] Da sich die Alliierten über den künftigen völkerrechtlichen Status der Oder-Neiße-Gebiete nicht einigen konnten, beschlossen sie, diese Gebiete bis zur endgültigen Feststellung der polnischen Westgrenze Polen nur zur Verwaltung zu übergeben.[24] Daraus entstand später unter den Bewohnern des Gebiets die ständige Angst vor einer erneuten Grenzrevision, die einerseits das Gefühl der Vorläufigkeit mit sich brachte und anderseits, meistens unter den Deutschen, die Hoffnung, dass die Entscheidung zur endgültigen Abtretung der Gebiete an Polen nicht getroffen wird. Die Übernahme der östlichen reichsdeutschen Gebiete durch den polnischen Staat bedeutete gleichzeitig für die kommunistischen Behörden die Notwendigkeit, viele neu entstandene nationale Probleme zu lösen. Nach Holger Breit gab es im „Oppelner Schlesien“, wie die in den Grenzen von 1937 gelegenen Kreise des Deutschen Reiches allgemein genannt wurden, noch niemals zuvor eine polnische Verwaltung[25], was auch viele neue administrative Probleme bedeutete. Von Mitte Mai 1946 an war das Jahr durch Vertreibung gekennzeichnet, deren Ergebnis vor allem nachweisen sollte, dass es in den ehemaligen deutschen Ostgebieten keine Deutschen mehr gäbe.[26] In den seit diesem Zeitpunkt polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten kam es zwischen 1945-1948 zu einem fast vollständigen Bevölkerungsaustausch von knapp sieben Millionen Menschen. In Oberschlesien musste die Bevölkerung rund zur Hälfte ihre Heimat verlassen.[27] Ausgenommen hiervon wurden lediglich diejenigen, die man als Fachkräfte in der Industrie benötigte, also Berg- und Facharbeiter, Ingenieure, Ärzte und Krankenschwestern.[28] Die Propaganda der kommunistischen Behörden, die unter anderen in den westlichen Teilen Polens durchgeführt wurde, spielte eine große Rolle in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Indoktrination der polnischen Gesellschaft hatte eine dauerhafte Durchdringung des gesellschaftlichen Bewusstseins mit Stereotypen zur Folge, von den vielen bis heute vorherrschen. Ein wichtiges Element der Propaganda war die These über den historischen Charakter Oberschlesiens. Laut dieser These seien die Gebiete ursprünglich von polnischen Stämmen bewohnt gewesen und die bodenständigen Bewohner der Gebiete hätten meistens eine polnische Gruppe gebildet, die innerhalb der Jahrhunderte germanisiert wurde. Daraus entstand die von der kommunistischen Führung propagierte offizielle Bezeichnung der nach dem Zweiten Weltkrieg westpolnischen Gebiete – „wiedergewonnene Gebiete.“[29] Das Territorium sei „vor Jahrhunderten gewaltsam vom polnischen Staat abgetrennt worden, der deutsche Drang nach Osten habe auch zur Germanisierung der Bevölkerung geführt.“ Mit der Westverschiebung Polens seien die Gebiete endlich „zum Mutterland zurückgekehrt.“[30] Das Ziel der Propaganda war es, die Vertreibung der Deutschen zu rechtfertigen und den Anspruch auf die wirtschaftskräftigen Provinzen zu begründen. Demnach war der nächste Schritt der Propaganda auf die Begründung der Anbindung an die Sowjetunion gerichtet. Einerseits wurden ein deutsches Feindbild und Angst in der Bevölkerung vor der deutschen Minderheit als einer „Fünften Kolonne“ aufgebaut. Anderseits wurde ein Bündnis mit der Sowjetunion als der einzige Garant der Sicherung der Oder-Neiße-Grenze dargestellt.[31] Die deutsche Minderheit stand also vor der schwierigen Aufgabe, sich zu organisieren und die von der Propaganda verbreitete Ängste in der Ausgangslage der kommunistischen Zeiten und in der Atmosphäre der Abgeneigtheit der polnischen Gesellschaft zu bekämpfen.

[...]


[1] Bahlcke 1996.

[2] Bartosz/Hofbauer 2000.

[3] Komar 2008.

[4] Urban 1994.

[5] MSWiA [Das Innenministerium] (Stand: 2002): Charakterystyka mniejszości narodowych i etnicznych w Polsce. [Die Charakteristik der nationalen und ethnischen Minderheiten in Polen, A.B.] . URL: http://www.mswia.gov.pl/portal/pl/61/37/ (Abfrage: 10.03.2008).

[6] Der Begriff „das neue Schlesiertum“ bedingt in diesem Sinne „völkische“ Konnotation und umfasst ein größeres kulturelles Konzept.

[7] Vgl. Jacher 1993: 7.

[8] Bahlcke 2000: 11.

[9] Vgl. Kuropka 1996: 184.

[10] Vgl. Bieniasz, S. (o.J): Losy Górnoślązaków w XX. wieku. URL: www.haus.pl/pl/pdf/03.pdf .

(Abfrage: 10.03.2007).

[11] Vgl. Lis 2004: 185.

[12] Breit 1999: 62.

[13] Bartosz/Hofbauer 2000:141.

[14] Vgl. Jacher 1993:15.

[15] Szczepiński 1998:16. [ Übersetzung vom Verf., A.B.].

[16] Bartosz/Hofbauer 2000:146.

[17] Ebd.:143.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] MSWiA [Das Innenministerium ] (Stand: 2002): Charakterystyka mniejszości narodowych i etnicznych w Polsce. [ Die Charakteristik der nationalen und ethnischen Minderheiten in Polen, A.B.] . URL: http://www.mswia.gov.pl/portal/pl/61/37/ (Abfrage: 10.03.2008).

[21] Urząd Statystyczny w Opolu [Das statistische Amt in Oppeln] (Stand: Juli 2003): Raport z wyników spisów powszechnych. Województwo Opolskie. [Die Berichterstattung der Volksbefragung 2002 in der Oppelner Woiwodschaft, A.B.]. URL: http://www.stat.gov.pl/cps/rde/xbcr/opole/ASSETS_nsp2002_raport.pdf. (Abfrage: 12.03.2008).

[22] Urząd Statystyczny w Katowicach [Das statistische Amt in Kattowitz] (Stand: Juli 2003): Raport z wyników spisów powszechnych. Województwo Śląskie. [Die Berichterstattung der Volksbefragung 2002 in der Woiwodschaft Schlesien, A.B.]. URL: http://www.stat.gov.pl/katow/69_151_PLK_HTML.htm. (Abfrage: 12.03.2008).

[23] Breit 1999:62.

[24] Ebd.

[25] Ebd.:63.

[26] Vgl. Madajczyk 2003: 23.

[27] Vgl. Urban 1994: 57.

[28] Vgl. Pawlik 1999: 29.

[29] Vgl. Tyszkiewicz 2003: 51.

[30] Vgl. Urban 1994: 29 f.

[31] Vgl. Komar 2008: 56.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Oberschlesische Identität? Zur Lage der Deutschen Minderheit
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
53
Katalognummer
V133906
ISBN (eBook)
9783640408122
ISBN (Buch)
9783640408191
Dateigröße
1020 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Oberschlesische, Identität, Lage, Deutschen, Minderheit
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Agnieszka Blaszczyk (Autor:in), 2008, Oberschlesische Identität? Zur Lage der Deutschen Minderheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133906

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