Die politische Philosophie des Kommunitarismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

22 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus
1.1 Michael J. Sandel und das Schicksal des ungebundenen Selbst
1.2 Charles Taylor und das Paradox des Atomismus

2. Der kommunitaristische Liberalismus
2.1 Michael Walzer und die Kunst der Trennung
2.2 Amitai Etzioni und der responsive Kommunitarismus

Fazit, Kritik und Ausblick

Bibliographie

Einleitung

„Ich und noch einmal ich und als Erfüllungshilfe Du. Und wenn nicht Du, dann Du.“1 So oder so ähnlich könnte unser derzeitiges Miteinander umschrieben werden – treffend und doch betroffen machend. Immer mehr Nachrichten ereilen uns, die ein Durchsetzen von Individualinteressen auf Kosten der Gemeinschaft zum Inhalt haben. So werden Steuern hinterzogen, indem sie, am deutschen Fiskus vorbei, in sogenannte „Steueroa-sen“ verlagert werden. Hier spricht sich das Ziel der Geldmaximierung des Einzelnen aus. Was allerdings im Unterton mitschwingt, ist der Missstand unserer Gesellschaft. Jener, der soziale Bindungen aushöhlt und schwächt, Pflichten vergessen und morali-sche Werte relativ erscheinen lässt. Das kann dann soweit führen, das eine Gesellschaft unfähig wird, äußeren wie inneren Angriffe standzuhalten2. Nun stellt sich die Frage, worin dieser Missstand besteht? Ist es die Überbetonung des Individuums und dessen Rechte, die an dem Desinteresse an Staat, Politik und Gesellschaft Schuld hat? Einen solchen Zusammenhang sieht der Kommunitarismus jedenfalls als gegeben an. Entstanden in den frühen achtziger Jahren in den USA, findet diese politische Philo-sophie ihren Ausgangspunkt in der theoretischen Debatte um die Vertragstheorie John Rawls`3. Das anhaltende Interesse an jener politisch-philosophischen Strömung er-scheint angesichts der bereits erwähnten Schieflage unserer Gesellschaft bzw. der West-lichen im Allgemeinen verständlich und ist daher Grund genug, sich mit dem kommuni-tären Denken auseinander zu setzen. Im Rahmen der Frage, was den Kommunitarismus in seiner Gesamtheit als politische Philosophie auszeichnet, soll diese Darstellung drei-geteilt werden. Beginnend mit der theoretisch-philosophischen Debatte um die Konsti-tution des Individuums, wird mithilfe der Überlegungen Michael Walzers eine Brücke zu der praktisch-politischen Relevanz des Kommunitarismus geschlagen. Ohne eine Vollständigkeit beanspruchen zu wollen, soll zumindest bewusst gemacht werden, dass es durchaus einen Zusammenhang zwischen dem übersteigerten Individualismus und der Auflösungstendenz sozialer Bindungen in unserer Gesellschaft gibt.

1. Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus

1.1 Michael J. Sandel

und das Schicksal des ungebundenen Selbst Welche politische Philosophie liegt den heutigen Praktiken und Institutionen zugrunde? Es ist die liberale Vorstellung, welche Gebote der Gerechtigkeit, Fairness und des indi-viduellen Rechts besonders akzentuiert – ja beinahe überakzentuiert. Der hierbei inne-wohnende Hauptgedanke ist der, dass eine gerechte Gesellschaft ihren Bürgern ermög-lichen sollte, eigene Ziele zu verwirklichen, anstatt selbst besondere Ziele zu formulie-ren, zu verfolgen und zu fördern. Das setzt wiederum die Aufgabe einer bestimmten KonzeptiondesGuten voraus, da jeder Bürger, laut der liberalen Argumen­tation, eigene Vorstellungen vom Guten hat. Solange die Ziele eines Bürgers die Frei-heit eines anderen nicht einschränken oder verletzen, können diese auch ohne Abstriche realisiert werden. Die Vertreter des Liberalismus rechtfertigen dies mit der Begründung, dass so, eine Übereinstimmung mit dem Begriff Recht am besten gewährleistet werden kann. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft hängt also davon ab, inwieweit sie auf eine Wahl zwischen konkurrierenden Zwecken und Zielen verzichtet. Ein telos Gedanke muss demzufolge ausgeschlossen werden. Einzig der Rahmen, indem die Bürger ihre Zielvorstellungen verwirklichen können, soll mithilfe des Gesetzes und der Verfassung von einer Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden. Die Folge ist, dass einerseits, die individuellen Rechte vor dem Druck des Allgemeinwohls geschützt wer-den müssen und andererseits, darf und kann das hierfür zugrundliegende Gerechtig-keitsprinzip keine besondere Vorstellung des guten Lebens haben. Letztendlich räumt der Liberalismus dem Recht eine Vorrangstellung gegenüber dem Guten ein4. Die mora-lische Dimension, welche daraus erwächst, gerät nun ins Visier der folgenden Autoren. Mit Michael J. Sandels Schrift „Liberalismus und die Grenzen des Rechts“ von 1982 findet die systematische Kritik an den liberalen Vorstellungen dann auch ihren Anfang. Sandels kritische Bezugnahme auf das elf Jahre zuvor erschienene Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls kann jedoch erst in Verbindung mit den etwa zeitgleich entstandenen Untersuchungen von Charles Taylor, Alasdair MacIntyre und Michael Walzer ein thematisches Sammelbecken bilden, das heute unter dem all-gemeinen Begriff Kommunitarismus subsumiert wird5. Nichtsdestoweniger gilt Sandels Kritik als Ausgangs- und Ansatzpunkt bei der Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Eine Analyse der Vorwürfe Sandels, die er gegen Rawls ins Feld führt, muss demnach folgen.

Es ist das Schicksal des ungebundenen Selbst, welches laut Sandel den Libe-ralismus zum Wanken bringt, zumindest Rawls` anthropologische Vorannahme unhalt-bar erscheinen lässt. Wie geschieht dies? Zunächst stützt sich die rawlsche Argumenta­tion, philosophisch gesehen, auf Immanuel Kant, genauer, auf die Annahme eines transzendentalen Subjekts. Denn erst die Teilhabe an diesem befähigt uns zu einem freien moralischen Handeln, weil nur sonach der Naturdeterminiertheit, dem äußeren Umstand und empirischen Zweck entgangen werden kann. Kant versteht dies als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit, die vorausgesetzt werden muss, um den Menschen als ein Selbstzweck und nicht als bloßes Mittel begreifen zu können6. Dieses Menschenbild wirkt natürlich auf die Politik ein. Und zwar so, wie das Subjekt a priori seinen Zielen vorangeht, so kommt dem Rechten der Vorrang vor dem Guten zu. Würde aber die Gesellschaft eine bestimmte Konzeption des Guten verfolgen, dann wäre die Selbstzweckhaftigkeit bzw. die Autonomie von Teilen der Angehörigen dieser ernstlich bedroht. Eine gerechte Gesellschaft kann deshalb keine besondere Konzeption des Gu-ten für sich beanspruchen. Der Versuch von John Rawls besteht jetzt darin, „die Priori-tät des Rechten vor der Unklarheit des transzendentalen Subjekts [zu] retten“7. Dies ermöglicht er mit der Konstruktion eines Urzustandes, welcher den Vorrang ver-ständlicher, ergo weltnäher begründen soll. Bei dieser vereinfachten Situation werden wir in die Lage versetzt, unsere politischen und moralischen Gewissheiten an einem Gerechtigkeitstest zu überprüfen. Die vorherrschende Frage ist dabei, welche Prinzipien wir zur Steuerung unserer Gesellschaft wählen würden? Allerdings kommt bei diesem Entschluss die besondere Situation des Urzustandes zur Geltung. Denn in jenem Zu-stand wären wir prinzipiell alle gleich und würden jegliche Entscheidung hinter einem Schleierdes Nichtwissens treffen8. Dies bedeutet, dass wir keine Kennt-nis über unsere besonderen, jeweils individuellen Fähigkeiten haben. So wird ein mög- liches Kalkül bei der Wahl, aus dem Vor- oder Nachteile entstehen könnten, von vorn-herein verhindert. Niemand weiß, welche Person, also arm oder reich, stark oder schwach, glücklich oder unglücklich, er in dieser Gesellschaft sein wird. Individual-oder Gruppeninteressen, Ziele oder bestimmte Konzeptionen des Guten nehmen infol-gedessen keinen Einfluss auf den Entscheid. In solch einer fiktiven Situation des Urzu-standes würden wir nach Rawls die Prinzipiender Gerechtigkeit wäh-len9. Obwohl wir unsere individuelle Beschaffenheit nicht kennen können, so hat doch Rawls ein gewisses Menschenbild, das indirekt in sein Konstrukt, somit in unsere fikti-ve Entscheidungsfindung, einfließt. Er setzt „ein bestimmtes Bild der Person bzw. der Art voraus, wie wir als Wesen beschaffen sein müssen, damit wir die Gerechtigkeit für die höchste Tugend halten. Das ist das Bild des ungebundenen, d.h. gegenüber Zwecken und Zielen als primär und unabhängig verstandenen Selbst.“10 An dieser anthropologi-schen Prämisse nimmt Sandel nun Anstoß und wird Hauptgegenstand seiner Kritik. Denn die daraus entstehende Identität, welche losgelöst von unmittelbaren Zielen und Interessen ist und vielmehr durch die Fähigkeit, diese zu wählen, bestimmt wird, hat dramatische Folgen für die Gesellschaftsform. Zwar können wir als ungebundenes Selbst einer freiwillig entstandenen Gemeinschaft beitreten, doch sobald es zu weiter-gehenden Verpflichtungen kommen würde, müssten wir diese, um unser Ungebunden-sein zu wahren, verlassen. Die Stärke des ungebundenen Selbst offenbart sich also in der Form, dass wir keine Sklaven unserer Ziele und Zwecke, sowie befreit von Zwän-gen der Natur, der sozialen Verpflichtung, des ererbten Status und der Tradition sind. Wie erlösend muss diese Vorstellung von einem Subjekt, welches autonom und damit souverän in seinen Entscheidungen ist, wirken? Zweifellos entlastend und doch schei-nen jene Versprechungen Rawls` bei der näheren Betrachtung seiner Gerechtigkeits-prinzipien nicht einlösbar. Für Sandel wird dies gerade an dem zweiten grundlegendsten Prinzip der rawlschen Gerechtigkeitstheorie offensichtlich. So heißt es bei Rawls: „So-ziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“11 Folglich werden bei diesem Differenzierungsprinzip, Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft und die Bereitschaft „der Besserweggekommenen“ zu teilen, impliziert. Letzteres wird für Sandel zum casus cnactus, nämlich dann, wenn sich die Frage stellt, was „diese Bes- serweggekommenen“ dazu bewegt, zu teilen? Die Eigenschaften eines ungebundenen Selbst, sowie es Rawls postuliert, können wahrlich keine Bereitschaft, eigene Vorteile mit anderen zu teilen, belegen. Auch das Argument Rawls`, dass Talente, welche zu Vorteilen des Einzelnen führen, angeboren und daher unverdient sind, ergo ausgegli-chen werden müssen12, liefert keinen stichhaltigen Grund, zu teilen. Vielmehr entpuppt sich für Sandel das Differenzierungsprinzip, ähnlich wie der Utilitarismus, als Tei-lungsprinzip. So endet die Annahme, dass meine Vorzüge ein Produkt des Zufalls seien, mit dem Vorrecht der Gesellschaft, aus den sich ergebenden Gewinn meines Vorzuges, einen Nutzen zu ziehen13. Statt sich freischwebend einer freiwillig entstandenen Ge-meinschaft anzuschließen, findet sich das ungebundene Selbst dann vielmehr in einem zusammengeketteten Kollektiv wieder, mit dem es unweigerlich verwickelt ist. Das Differenzierungsprinzip möchte gern gemeinschaftlich bzw. moralisch verpflichtend wirken, kann es jedoch nicht, da das liberale oder ungebundene Selbst jegliches Funda­ment, das mittels konstitutiver Ziele und Verknüpfungen entsteht, durch seinen „Cha-rakter“ verwirft14. Zusammengefasst stellt sich Sandel das ungebundene Selbst eben nicht als ideale, frei und rational handelnde Person vor, sondern als eine „Person ohne jeglichen Charakter, ohne moralisches Rückrat“15. Das Schicksal, das dem ungebunde-nen Selbst ereilt, ist ein Hin- und Hertaumeln zwischen Losgelöst- und Verwickelt-sein16.

1.2 Charles Taylor und das Paradox des Atomismus

Ähnlich wie Michael J. Sandel kritisiert Charles Taylor das liberalistische Menschen-bild und hebt damit jene tiefgreifende Grundsatzfrage einmal mehr in den Vordergrund. Doch im Gegensatz zu Sandel argumentiert Taylor bei der Frage, ob das Subjekt ein soziales Wesen oder ein singuläres Atom sei, philosophisch grundsätzlicher. Dabei un-ternimmt er den Versuch, die Bedingungen der liberalen Theorie systematisch zu be- schreiben. Die neuzeitliche Vertragstheorie lehnt er ab, weil sie gerade von einem a t o m i s t i s c h e n I n d i v i d u u m ausgeht17. Denn solch ein losgelöster und auf sich gestellter Mensch bzw. ungebundenes Selbst, um es mit den Worten Rawls` auszu-drücken, kann keine moralisches Substanz in sich tragen, da außerhalb einer Gemein-schaft jede Auseinandersetzung über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit fehlt. Der Maß-stab, was Gut und Böse sei, welcher die Gemeinschaft im Diskurs hervorbringt, fällt demnach weg. Es hätte dann etwas possenhaftes, zu glauben, dass ein Subjekt ohne I-dentität sich in einem fiktiven Urzustand auf einen Vertrag, der die Prinzipien der Ge-rechtigkeit zur Grundlage hat, mit anderen einigt und diesen auch respektiert. Für Tay­lor wird die Gesellschaft daher unablässig, um auch und gerade seine egoistischen Ziele verfolgen zu können. Allzu gern werden nämlich die Bedingungen für unseren moder-nen Individualismus vergessen, übersehen und verdrängt. An diesem Punkt hört das Alltagsbewusstsein auf und die kritische Auseinandersetzung Taylors mit dem Atomis-mus, der die anthropologische Prämisse für die Vertragstheorie von Thomas Hobbes und John Locke bildet, setzt ein. Deren atomistisch modelliertes Individuum, welches sich zu den anderen wie ein abstoßendes Gasmolekül verhält, ist für Taylor untragbar18. Seine Position wird umso deutlicher, wenn man die Argumente gegen die Überlegungen Robert Nozicks aus den 70er Jahren zurate zieht. Nozicks Darstellung „Anarchie, Staat, Utopie“, in der die Forderung eines Minimalstaates laut wird, ist für Taylor die Fortfüh-rung des Atomismus Gedankens schlechthin. Mit dem Eingangssatz des Buches „Indi-viduen haben Rechte“19 wird sodann der Vorrang des Individualrechts vor jeglichen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft offenkundig. Betrachtet man unsere heu-tige Verhaltensweise in und gegenüber der Gesellschaft bzw. unsere politische Selbst-wahrnehmung, so scheint dieser Satz beschreibend und treffender als jeder andere zu sein. Gegen diese Plausibilität richtet sich nun Taylors systematische Argumentation, indem er sich auf die politische Philosophie der Antike beruft. Hierbei wird der Mensch als gesellschaftliches Wesen, das nur im Umgang mit Seinesgleichen überleben kann, begriffen. Erst mit Hobbes vollführt sich der Bruch mit jener historischen Tradition und endet schließlich mit einer genauen Umkehrung dieser. Die Beobachtung, dass unser Zusammenleben aufgrund der zunehmenden Ausspezialisierung bzw. Arbeitsteilung noch tiefreichender verflochten ist, als es antike Gemeinschaften jemals waren, muss dazuführen, ein einseitiges Denken in atomistischen Dimensionen gänzlich auf-zugeben20. Ein weiteres und weitaus interessanteres, fast ein „Totschlagargument“ Tay­lors ist, dass ein solcher „Primat der Rechte“21 durch sein egoistisches Verhalten die Existenz einer Gesellschaft ernstlich bedroht. Dann, wenn ein jeder beharrlich auf sein Recht gegenüber den Ansprüchen einer Gesellschaft besteht, kann es im Extremfall zu einer Zerstörung dieser kommen. Aber „mit der Zerstörung der Gesellschaft würde ich meine eigenen Möglichkeiten untergraben, diese Fähigkeiten zu verwirklichen. Indem ich also mein Recht verteidigte, würde ich mich zugleich zu einer Lebensweise ver-dammen, die ich aufgrund derselben Überlegungen, die mich das Recht behaupten lie-ßen, als verstümmelt begreifen müsste. Und es wäre paradox, dies als Bestätigung mei-ner Rechte zu verteidigen.“22 In diesem Moment, bei dem man will, aber die Folge sei­nes Wollens nicht wollen kann, offenbart sich das Paradox des Atomismus für Taylor. Lediglich im sozialen Kontext kann von Rechten und Rechtsansprüchen gesprochen werden. Als Begründer und Beschützer des Rechts für den Einzelnen, geht mit der Auf-lösung der Gesellschaft, das Verlustieren des Individualrechts einher. So kann es auch nicht das Anliegen des Einzelnen sein, seine Möglichkeit und die der Nachkommen, Rechte zu besitzen und zu artikulieren, zu unterwandern und zu gefährden23. Um diesem Paradox zu entgehen, vertritt Taylor eine s o z i a l e T h e s e, nach der sich Recht und Verpflichtung gleichrangig gegenüberstehen. Und weil „die Behauptung von Rechten [...] die Anerkennung einer Verpflichtung zur Zugehörigkeit beinhaltet“24, muss sich das Individuum, um das sein zu können, was es ist, als Teil einer Gemeinschaft verste-hen und dazu beitragen, kulturelle und gesellschaftliche Institutionen (Museen, Parla-mente, Universitäten, Zeitungen usw.) zu schaffen, zu erhalten und zu stabilisieren. Darum nötigt die Reklamation des Rechts auf Selbstbestimmtheit eine ständige Repro-duktion der ebengenannten Vorraussetzungen. Wäre das nicht so, dann würde der Mensch einem Parasiten gleichkommen, ohne etwas beizutragen, würde er nur von den moralischen bzw. rechtlichen Errungenschaften seiner Gesellschaft leben25. Die Frage, „wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie“26, schließt sich daran an. In diesem Kontext nennt Charles Taylor vier Bedingungen, die für ein demokratisch-kommunitaristisches Gemeinwesen unerlässlich sind. Eine Bedingung wäre das Solida- ritätsgefühl, welches über eine allgemeine Verpflichtung zur Demokratie hinausgeht und den Bürger mit jenen anderen, also seinen Mit-Bürgern, verbindet. Eingebettet in den Begriff des Patriotismus, der sich in seinem Bedeutungsgehalt mehr in Richtung Nationalismus verschoben hat, soll dieser nicht rein durch narratives, manchmal sogar fiktives, nationale Identität stiften, sondern eher durch die gemeinsame Anerkennung und Schützung der nationalen Institutionen und Gesetze ein E i n h e i t s g e f ü h l hervorrufen. Die Loyalität gegenüber diesen wird somit entscheidend für die längerfris-tige Stabilität einer Demokratie. Gleichfalls muss die P a r t i z i p a t i o n der Bürger gegeben sein, um einer Verkümmerung des demokratischen Gemeinwesens zu entge-hen. Hier meint Taylor nicht die indirekte Partizipation, die sich auf eine Stimmabgabe aller vier Jahre beschränkt, vielmehr ist es die direkte Partizipation, welche ein Sinn für zivile Macht erzeugt. Das gemeinschaftliche verfolgen von Zielen, z.B. der Einfluss auf politische Prozesse oder die Änderung der öffentlichen Meinung, erweckt ein Gemein-schaftsgefühl, das lediglich in der Praxis für Bürger erfahrbar werden kann und erfahren werden muss. Eine Selbstregierung bzw. eine Herrschaft des Gemeinwillens kann indes nicht angenommen werden, weil die Vielschichtigkeit des Gemeinwillens nicht so ge-eint werden kann, dass die aktive Regierung einer Minderheit dabei vermieden werden könnte. So bleiben Widerspruch und Konkurrenz offen und notwendig für eine lebendi-ge Demokratie. Daher muss es eine zentrale, noch lieber dezentrale, gewählte Instanz geben, welche die Verantwortung trägt und dennoch bereit ist, eine Vielzahl von mögli-chen Formen des direkten Partizipierens zuzulassen. „Entscheidend ist, ob und wie bei-de kombiniert werden können.“27 Ein weitere Herausforderung sieht Taylor in dem Sich-Stellen der Probleme, die sich aus dem Wohlfahrtsstaat ergeben. Der g e g e n s e i t i g e R e s p e k t, Grundlage für jene große Errungenschaft moderner Demokratien, darf, trotz hoher Belastungen, nicht verloren gehen. Sonst würde nicht das „staatliche Auffangnetz“, sondern auch sein „Errichter“ zur Disposition stehen. Wesent-lich für eine intakte Demokratie ist darüber hinaus, als viertes und letztes Element, die W i r t s c h a f t s o r d n u n g zu nennen28. Bei dieser müsste „die Macht der privaten Großunternehmen durch ein Gegengewicht in Gestalt öffentlichen Eigentums ausbalan-ciert, wenn nicht überboten“29 werden. Wie die Balance bzw. das Überbieten aussehen müsste, ohne „tödlich“ auf demokratische Institutionen zu wirken, blendet Taylor aller- dings aus. Letztlich bleibt festzuhalten, dass der Beschwörer der Civil Society30 den zum „common sense“ gehörenden Atomismus als Paradox entlarvt, der seine eigenen sozialen Voraussetzungen untergräbt. Diesem stellt Taylor eine v e r t u (Patriotismus) im Sinne Montesquieu` voran. Wichtige Grundlagen, wie die Kritik am liberalistischen bzw. atomistischen Individualismus, die Gewichtigkeit von sozialen Voraussetzungen oder die Bedingungen für ein demokratisch-kommunitaristisches Gemeinwesen, sind somit geliefert. Hingegen erscheint der praktische Bereich in Taylors Darstellung noch nicht präzise genug, um die politische Bedeutsamkeit der kommunitaristischen Philoso-phie abzudecken31.

2. Der kommunitaristische Liberalismus

2.1 Michael Wal zer und die Kunst der Trennung

Nun müssten die vorangehenden Betrachtungen eins deutlich gemacht haben, insofern, dass der Liberalismus ein unzureichendes Bild vom Menschen annimmt und dabei die Wirkkraft der Gemeinschaft oder Gesellschaft vergisst und ausblendet. Gleichzeitig soll aber jene Theorie das Spiegelbild unsrer gesellschaftlichen Praxis sein, indem Maße, dass sie, mittlerweile „in den Köpfen angekommen“, zur Wirklichkeit geworden ist. Die kommunitaristischen Kritiker werfen der liberalen Doktrin also nicht nur Verzerrung, sondern auch Abbildung der Realität vor. Die Verantwortlichkeit für den gefühlten Leitsatz unserer Tage, „jeder nur sich selbst der Nächste“32, ist danach der liberalen Denkweise zuzuschreiben.

Gewiss ergibt sich aus beiden Kritikversionen eine Unvereinbarkeit, welche Michael Walzer erkennt und gleichermaßen bemängelt, doch durch den Hinweis, dass jene Ein-wände einem Nacheinander unterliegen, deren Plausibilität zurückerkämpft. In diesem Zusammenhang macht er auf die zeitliche Abfolge der liberalen Theorie und der libera-len Praxis aufmerksam. Die Konstruktion eines falschen Menschenbildes führt zu einer falschen Konstruktion der Gesellschaft. Die Furcht der Kommunitarier bezieht sich darum auf die zunehmende Annäherung der sozialen Realität an dieses liberalistische Bild. Infolgedessen wird der Prozess, d.h. die reale Tendenz in unserer Gesellschaft, beklagt.

[...]


1 Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990, S. 21f.

2 Vgl. Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, in: Transit, Heft 5, Winter 1992/93, S. 9.

3 Vgl. Zahlmann, Christel (Hg.): Kommunitarismus in der Diskussion. Eine streitbare Einführung, Nörd-lingen21997, S. 7ff.

4 Vgl. Sandel, Michael J.: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundalgen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 18ff.

5 Vgl. Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundalgen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 7.

6 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1903, S. 438ff/Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 1908, S. 86f.

7 Sandel, Michael J.: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, S. 23.

8 Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 140ff.

9 Vgl. Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus, Frankfurt am Main/New York32001, S. 17.

10 Sandel, Michael J.: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, S. 24.

11 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 81.

12 Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 121.

13 Vgl. Sandel, Michael J.: Die Gerechtigkeit und das Gute, in: Van den Brink, Bert/Van Reijen, Willem (Hg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt am Main 1995, S. 203.

14 Vgl. Sandel, Michael J.: Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S. 50ff.

15 Sandel, Michael J.: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, S. 29f.

16 Vgl. ebd., S. 24ff.

17 Vgl. Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus, S. 25f.

18 Vgl. Taylor, Charles: Atomismus, in: Van den Brink, Bert/Van Reijen, Willem (Hg.): Bürgergesell-schaft, Recht und Demokratie, Frankfurt am Main 1995, S. 73ff.

19 Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia, München 1974, S. 11.

20 Vgl. Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus, S. 28.

21 Taylor, Charles: Atomismus, S. 86.

22 Ebd., S. 88.

23 Vgl. ebd., S. 88f.

24 Ebd., S. 90.

25 Vgl. Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus, S. 29ff.

26 Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, S. 5.

27 Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, S. 17.

28 Vgl. ebd., S. 14ff.

29 Ebd., S. 20.

30 Vgl. Taylor, Charles: Die Beschwörung der Civil Society, in: Michalski, Krzysztof (Hg.): Europa und die Civil Society, Stuttgart 1991, S. 52ff.

31 Vgl. Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus, S. 32ff.

32 Etzioni, Amitai: Jeder nur sich selbst der Nächste?. In der Erziehung Werte vermitteln, Freiburg im Breisgau u.a. 2001, S. 9.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die politische Philosophie des Kommunitarismus
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Praktische Philosophie im Ethikunterricht
Note
2.0
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V133673
ISBN (eBook)
9783640404643
ISBN (Buch)
9783640404346
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Philosophie, Kommunitarismus
Arbeit zitieren
Conrad Maul (Autor:in), 2008, Die politische Philosophie des Kommunitarismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133673

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