Michael Endes "Momo" - ein Kunstmärchen?


Studienarbeit, 2008

25 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

0. Einführung

1. Das Wunderbare: Zur Poetologie „Momos“
1.1 Zur Wirklichkeitsauffassung Michael Endes
1.2 Das Arsenal des Wunderbaren
1.2.1 Die Textur
1.2.2 Raum und Zeit
1.3 Personal und Konstellationen des Wunderbaren
1.4 Schauplätze des Wunderbaren

2. „Momo“ als phantastische Erzählung
2.1 Pro phantastische Erzählung
2.2 Contra phantastische Erzählung

3. Ergebnisse

Quellen

Anlage

Anlage

0. Einführung

Ohne Vorstellungskraft kann man nämlich auch die Wirklichkeit nicht erreichen, auch die äußere nicht.1

Michael Ende ist Autor der bekannten „Jim Knopf“ – Bücher, der „Unendlichen Geschichte“ und schließlich auch von „Momo“, welches in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen soll. In der Buchhandlung lässt es sich meist in der Rubrik Kinderliteratur finden und gilt dort wiederum als Märchen oder Phantasiegeschichte. Ende selbst fügte seinem Buch den Untertitel „Die seltsame Geschichte von Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“ hinzu und verweist mit diesem Umriss allem Anschein nach auf die Eig-nung der Lektüre speziell für Kinder.

„Momo“ – ein Märchenroman. „Momo“ – eine phantastische Erzählung. „Momo“ – ein Ro­man der Phantasie und des Traumes. „Momo“ – ein Fluchtroman. „Momo“ – ein Phantasie-stück. „Momo“ – ein Wirklichkeitsmärchen. Eine literaturwissenschaftliche Zuordnung scheint aufgrund der Fülle von literarischen Gattungen nur schwer möglich, der Laie würde „Momo“ wohl einfach in die Kategorie Kinderbuch einordnen. Das allerdings, so Hajna Stoy-an, entspräche am wenigsten der Vorstellung des Autors: „Wie erfolgreich er auch war, so litt er doch zeitlebens unter dem Etikett des reinen Kinderbuchautors.“2 – mit dieser Bezeichnung wird man vor allem „Momo“ keinesfalls gerecht. Doch wozu gehört dieses Werk dann? Ist es am Ende eine Mischform aus den oben genannten Genres? Oder ist es noch viel mehr?

In dieser Arbeit soll untersucht werden, ob es sich bei „Momo“ ganz und gar um ein „Kunst-märchen“ handeln könnte und ob es sich damit direkt neben etablierte Kunstmärchen wie bei-spielsweise die eines Tiecks oder Hofmannsthals in eine Reihe stellen kann. Die Idee, dieses Werk Michael Endes als Kunstmärchen zu betrachten, ist nicht abwegig – das wird die fol-gende Darstellung zeigen, die sich an der von Paul-Wolfgang Wührl entworfenen Poetologie des Kunstmärchens orientiert.

Dabei wird das Augenmerk zunächst auf das Arsenal des Wunderbaren, das Personal, Kons-tellationen und Schauplätze desselben zu richten sein. Definitorische Annäherungen bezüglich Begriffen wie dem des Wunderbaren, Phantastischen oder des Kunstmärchens selbst sind da-bei unabkömmlich, wenngleich jetzt schon festgestellt werden kann, dass es die Definition dieser Begriffe nicht gibt und nicht geben kann.

Die Idee von „Momo“ als Kunstmärchen ist wie gesagt nicht abwegig, dennoch verschließt sich die Literaturwissenschaft bislang der genaueren Betrachtung von Michael Endes Werk und damit der Auseinandersetzung mit dem Bestseller, der 1973 erschien und recht bald dar-auf sehr erfolgreich verfilmt wurde.

Diese Arbeit will weder den Inhalt dieses Märchenromans wiedergeben, noch den Kunstmär-chenbegriff fokussieren, vielmehr will sie mithilfe dieser beiden Komponenten aufzeigen, in welchen Punkten sie einander entsprechen – vor allem „Momo“ dem Gattungsbegriff – und welche Fragestellungen bzw. Aspekte (noch) nicht zu klären sind. Dazu werden einige Motive aus dem Werk weiterverfolgt.

Die Person Michael Ende selbst wird diesbezüglich auch beleuchtet, um herauszufinden, wel-che biografischen Faktoren zur Entstehung eines potentiellen Kunstmärchens geführt haben (können). Hierzu werden Aussagen von Ende selbst herangezogen, um sich seinem eigenen Verständnis von Bezeichnungen anzunähern, wie er sie etwa in dem oben genannten Zitat anbrachte: „Vorstellungskraft“ und „innere/ äußerliche Wirklichkeit“.

Wie schon erwähnt verzichtet diese Arbeit auf eine Inhaltswiedergabe „Momos“, es werden im Folgenden allein die Hauptmotive, die für die Kunstmärchen-Kategorisierung von Bedeu-tung sind, in Augenschein genommen. Zur Orientierung aber liegt der Arbeit sowohl eine Übersicht über die inhaltliche Erzählstruktur (Anlage I), als auch eine Übersicht über die Raumstruktur (Anlage II) bei, die bei Bedarf herangezogen werden.3

1. Das Wunderbare: Zur Poetologie „Momos“

Um das „Wunderbare“, das laut Wührl „den deutschen Kunstmärchen erst ihr eigentümliches Gepräge, die Gestalt einer fremden und doch vertrauten, in sich stimmigen Welt“4 gibt, in dem Werk „Momo“ zu lokalisieren, bedarf es schon zu Beginn zumindest eines orientieren-den Verständnisses dieses Begriffes des „Wunderbaren“. Um zunächst bei Wührl zu bleiben; er legt die Bedeutung folgendermaßen fest: „Das Wunderbare wird hier als die zentral wir-kende Macht verstanden, die (...) die Märchenthematik auf signifikante Weise entwickelt“5. Schon nach diesem Umriss ergäben sich jedoch Unstimmigkeiten in Bezug auf Stoyans Stu-die, die sich mit Endes Werken beschäftigt und konstatiert, dass erst „der Schluss (dieses) Märchenromans (...) ins Wunderbare über(geht)“, dem voran gingen hingegen „die Charak-terzüge einer phantastischen Erzählung“6. Hierin wird also schon das ambivalente und durch-aus subjektiv geprägte Verständnis des „Wunderbaren“ kenntlich, das sich im Verlauf dieser Arbeit vielleicht nur ein wenig näher bestimmen lassen wird, aber aus einer zu Stoyan ver-schiedenen Sicht, die auf die gattungsimmanente7 Komponente des „Wunderbaren“ ein ande-res, subtileres Licht auf „Momo“ zu werfen versucht.

Unter Zuhilfenahme von Hans Schumachers Aufsatz „Bemerkungen zu Initiationsstrukturen in Märchen und phantastischer Erzählung“ erscheint dagegen Stoyans Verständnis dieses Märchenromans als eine phantastischen Erzählung nicht stichhaltig, denn angelehnt an Schu-machers Darstellung und Bezug auf das Gelingen (bzw. Misslingen) einer Initiation entsprä-che „Momo“ keineswegs einer phantastischen Erzählung per se.8 Auf derartige Auslegungen und definitorische Probleme wird wie schon gesagt an jeweiliger Stelle verwiesen.

1.1 Zur Wirklichkeitsauffassung Michael Endes

Wührl stellt das „Wunderbare“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und geht diesbezüglich vorerst vom Volksmärchen aus, in welchem sich schon „das Wunschdenken des Schwachen, Unterlegenen, im Leben zu kurz gekommenen längst seiner bemächtigt“ hat. Der Wunsch dient also schon im Volksmärchen als Leitmotiv und wird im Zuge der Erzählung als richtig oder falsch bewertet. „Im Kunstmärchen“, so Wührl weiter, „liegen die Zusammenhänge ähn-lich, sind aber erheblich komplizierter“. Der Wunsch, dem auch Momo folgt, würde demnach also nicht einfach bewertet, sondern (in ihrem Kosmos) derart universalisiert, dass er schließ-lich das Wunderbare evoziere. Denn „der Wunsch sucht nach Möglichkeiten, die Enge, Be-grenztheit, Armseligkeit oder Rätselhaftigkeit der wirklichen Welt zu überwinden“9.

Hiermit wäre nun ein Hauptmotiv angesprochen, das für die Klärung der Hauptfrage „Ist ‚Momo’ ein Kunstmärchen?“ von großer Bedeutung ist. Das Motiv der Wirklichkeit.

Michael Ende selbst hatte ein sehr besondere, philosophische Sicht auf diese Thematik, wie im ersten Zitat (Vgl. S. 3) schon deutlich wird. Er ist sich durchaus der Trennung von Realem und Imaginärem bewusst, kommt aber zu dem Schluss, dass selbst die Wirklichkeit nur mit einem gewissen Maß an Vorstellungskraft wahrgenommen werden kann.

...der Spiegel, wie man ihn auch aus ‚Alice im Wunderland’ kennt, (ist) ein höchst merkwürdiges Phänomen (...) Eine total imaginäre Welt, die aber vollkommen aussieht wie eine wirkliche Welt. Und die-ses vollkommen Imaginäre hat zumindest Ähnlichkeit mit dem, was alle Kunst macht. Insofern ist alle Kunst und alle Literatur ein Spiegel, denn es handelt sich ja immer um eine imaginäre, vorgestellte Welt, die aber in sich dann eine Wirklichkeit bekommt.10

Ende sieht also auch in seinem Werk eine realitätsunabhängige Wirklichkeit, die aus dem Imaginären heraus ent- und bestehen kann. Und die Vorstellungskraft kann es nur auf Grund-lage von Bewusstsein geben, von dem wiederum die Wirklichkeit abhängig ist. „Diese Grundüberzeugung“, so Steinbach, „hat weit reichende Folgen für Endes Wirklichkeitsauffas-sung und Erzähltechnik“.11

Wie wirkt sich dies auf „Momo“ aus? Dieser Frage soll nun an Beispielen diskutiert werden, zunächst aber ein Exkurs in die biografischen Einflüsse, die wohl auf „Momo“ gewirkt haben.

Der 1929 in Garmisch-Partenkirchen geborene Sohn eines Kunstmalers „wächst in der Schwabinger Bohème unter Malern, Bildhauern und Literaten auf“. Der Einfluss seines Va-ters Edgar, der als einer der ersten deutschen Surrealisten gilt, hat sich nachhaltig auf seine künstlerische Wirklichkeitsauffassung ausgewirkt und zu der besonderen Ästhetik seiner Lite-ratur beigetragen. Stoyan bemerkt in ihrer Auseinandersetzung, dass Ende vor allem „das zwecksfreie Spiel des Denkens“12 übernimmt.

Nach der Schule arbeitet Ende als Filmkritiker beim Bayerischen Rundfunk und als Regisseur am Volkstheater. Anfang der fünfziger Jahre gerät er nicht nur in eine finanzielle, sondern auch in eine künstlerisch-literarische Krise: „Die vierjährige Auseinandersetzung mit den the-oretischen Schriften Brechts treibt ihn in eine Sackgasse, aus der er nicht mehr herausfin-det“13. Auch Dietrich Steinbach stellt Brechts Bedeutung für Michael Ende deutlich heraus; er sei für ihn eine Art Übervater gewesen, er „verkörpert(e) für ihn die politische, ausdrücklich und gewollt gesellschaftskritische, lehrhafte, fremden, d.h. außerkünstlerischen Zwecken die-nende Literatur“. Am Ende seines inneren Konflikts lehnt er aber Brechts Standpunkt ab und ist nahe daran, das Schreiben aufzugeben. Doch die Krise ebnet und manifestiert vielmehr Endes „eigenes literarisches Selbstverständnis und Selbstbewusstsein“14.

Festzustellen ist diesbezüglich, dass Ende sich vor allem gegen eine literarische Dogmatik von Lehrhaftigkeit und Gesellschaftskritik aussprach. In einem Gespräch mit dem Politiker Erhard Eppler weist er eine solche Absicht bezüglich seines Buches „Momo“ von sich: das hat sich sozusagen ganz von allein ergeben. Das was mich damals be-schäftigte, war ein rein poetisches Problem. Das hängt mit meinem ganzen Kulturkonzept zusammen: Innenwelt in Außenwelt und Au-ßenwelt in Innenwelt zu verwandeln, sodass das eine sich im anderen wieder erkennt.15

Das Ende seiner künstlerischen Krise wird eingeleitet, als er von einem Bekannten um einen Bilderbuchtext gebeten wird, „dabei überlässt er sich einfach der Lust am Fabulieren, ohne Plan, ohne Absicht“16. 1958 stellt er dann „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ fertig, wodurch er endlich finanzielle Unabhängigkeit erlangt.

[...]


1 Adams, Heidi: Zu Besuch bei Michael Ende. In: DVD Extras „Momo“, BR 1983.

2 Stoyan, Hajna: Die phantastischen Kinderbücher von Michael Ende, Frankfurt am Main 2004, S. 83.

3 Anlage I und Anlage II wurden von René Ferchland erstellt.

4 Wührl, Paul-Wolfgang: Das deutsche Kunstmärchen: Geschichte, Botschaft und Erzählstrukturen, Heidelberg 1984, S. 22.

5 Ebd., S. 25.

6 Stoyan, Hajna: Die phantastischen Kinderbücher von Michael Ende, Frankfurt am Main 2004, S. 108.

7 Das Kunstmärchen wird hier als eigene Gattung verstanden.

8 Vgl. Schumacher, Hans: Bemerkungen zu Initiationsstrukturen in Märchen und phantastischer Erzählung. In: Phantasie und Phantastik: neuere Studien zum Kunstmärchen und zur phantastischen Erzählung, hgg. von Hans Schumacher, Frankfurt am Main 1993, S. 37.

9 Wührl, Paul-Wolfgang: Das deutsche Kunstmärchen. Heidelberg 1984, S. 22f.

10 Adams, Heidi: Zu Besuch bei Michael Ende. In: DVD Extras „Momo“, BR 1983.

11 Vgl. Momo Lehrerbegleitheft, hgg. von Dietrich Steinbach, Stuttgart/ Wien 1994, S. 10.

12 Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, das neue buch, München 1968, S. 26.

13 http://www.thienemann.de/me/biografie.htm

14 Momo Lehrerbegleitheft, hgg. von Dietrich Steinbach, Stuttgart/ Wien 1994, S. 14.

15 Wernsdorff, Christian von: Bilder gegen das Nichts: Zur Wiederkehr der Romantik bei Michael Ende und Peter Handke. Neuss 1983, S. 36.

16 http://www.thienemann.de/me/biografie.htm

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Michael Endes "Momo" - ein Kunstmärchen?
Hochschule
Universität Erfurt  (Kernbereich Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Kunstmärchen
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
25
Katalognummer
V133582
ISBN (eBook)
9783640405183
ISBN (Buch)
9783640405442
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Michael, Endes, Momo, Kunstmärchen
Arbeit zitieren
René Ferchland (Autor:in), 2008, Michael Endes "Momo" - ein Kunstmärchen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133582

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