Essen als sozialer Parameter in Nikolaj Gogol's 'Revizor'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

44 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Der soziale Aspekt des Essens

III. Čin – Hierarchische Strukturen bei Gogol'
III.1. allgemeine Voraussetzungen
III.2. Rang in Russland
III.3. Rang bei Gogol'

IV. Essverhalten und Thematisierung von Essen im Revizor
- ein sozialer Parameter
IV.1. Ein vorbereitendes Moment
IV.2. Ein lokaler Dreh- und Angelpunkt
IV.3. Ein hierarchisches System des Essens
IV.3.1. Pejorativ-Bereich
IV.3.2. Neutraler Bereich
IV.3.3. Ameliorativ-Bereich
IV.3.4. Hyperbolischer Ameliorativ-Bereich
IV.4. Resümee

V. Conclusio

VI. Bibliographie

VII. APPENDIX
VII.1. Referenzen auf Essen im Revizor

I. Einleitung

Sir Toby ... Does not our lives consist of the four elements?

Sir Andrew Faith, so they say, but I think it rather consists of eating and drinking.

Sir Toby Thou´rt a scholar; let us therefore eat and drink.[1]

Alle Tiere – und auch der Mensch – müssen essen und trinken, um zu überleben, und einen großen Teil ihres Verhaltens darauf richten, Nahrung und Flüssigkeit zu beschaffen und zu sich zu nehmen. Daher sind Essen und Trinken die mit Abstand häufigsten Verhaltensweisen des Menschen, aber zugleich auch die selbstverständlichsten, so dass über Ursachen und Hintergründe in der Regel kaum nachgedacht wird. Dennoch hat sich ihr Sinn nie darin erschöpft, den kreatürlichen Hunger zu stillen. Essen und Trinken waren stets zugleich eine „besondere Lustquelle menschlicher Existenz ... immer auch Genuss und Kommunikation, ... Heimat, Glück, Versöhnung, Macht, Verführung und Erkenntnis“[2]. Weil die Ernährung solch fundamentale Bedeutung hat, spielt sie seit jeher eine leiblich-geistige Doppelrolle im Leben des Menschen, der als „mangeur biologique“ und „mangeur social“ bzw. „homo edens“ und homo culinarius“[3] zugleich auftritt. Sein Nahrungsverhalten kann nur im Schnittpunkt zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ bzw. ‚Ernährung‘ und ‚Essen‘ gedacht werden, und seine Essgewohnheiten sind als Elemente der Primärsozialisation und Enkulturation eng mit unserem angestammten Kommunikationssystem verbunden. Wer vom Essen spricht, spricht in der Tat zugleich von Aspekten der Kultur.

Dieser Konnex kommt auch im darstellenden Reden vom Essen[4] zum Ausdruck, das Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Verbreitet ist solch ein Reden, bei dem Essen zu einem bedeutsamen Motiv wird, nicht nur in pragmatisch orientierten Texten wie den ‚Tischzuchten‘ oder den Rezeptbüchern für die Küche, sondern in allen Gattungen der Literatur. Bereits in der biblischen Erzählung vom Sündenfall sowie zahlreichen Mythen vom ‚Gottesessen‘ werden Essen und Erkennen in ihrem Ursprung miteinander verknüpft. Über lange Jahrhunderte werden beide Komponenten, vor allem im System der traditionellen Diätetik, aber auch in der sogenannten ‚gastrosophischen‘[5] Literatur, in einer makrobiotischen, holistischen Sicht betrachtet. Im 19. Jahrhundert kommt es jedoch im Zuge der Ausdifferenzierung der universitären Wissenschaften zu einer fatalen Aufspaltung dieser ursprünglich ganzheitlichen Betrachtungsweise, mit der Folge, dass die Beschäftigung mit der Nahrungsaufnahme bis in die jüngere Gegenwart hinein fast ausschließlich den biochemisch-physiologisch-medizinisch ausgerichteten Ernährungswissen-schaften zugewiesen wird, wogegen die soziokulturellen Aspekte des Essens im Rahmen der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften keinen festen Platz mehr einnehmen.[6] Die konsequente Vernachlässigung der menschlichen Ernährung als ‚Kulturthema‘ findet erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Ende, als die Mentalitätshistoriker der französischen Annales-Schule sich für eine Erforschung dieses Themenkomplexes einsetzen und damit eine internationale Entwicklung auslösen, die das Essen als ein „soziales Totalphänomen“ betrachtet und dieses in einem fachübergreifenden Ansatz aufzuarbeiten versucht, durch den allein man der Vielschichtigkeit des Themas gerecht werden kann.[7] Doch eine literaturwissenschaftliche Mahlzeitenforschung scheint sich zunächst eher langsam zu etablieren. Noch 1987 bekundet Wierlacher sein Bedauern, dass es auf diesem Gebiet, wobei er sich vornehmlich auf den deutschsprachigen Raum bezieht, bislang nur sehr wenig Sichtungshilfen gebe.[8] Doch eine entscheidende Entwicklung setzt nach Watson/ Caldwell zu Beginn der 1990er Jahre in der anglophonen Welt ein, wovon regelmäßige Fernseh-Kochshows und Kochbücher auf den Spitzenplätzen der Auslagen großer Buchhändler ein sichtbares Zeugnis gäben. „Food studies now constitute recognized subdisciplines in the fields of anthropology, sociology, history, culture studies, medicine, and business. Undergraduate classes that focus explicitly on food are oversubscribed in many universities and graduate degrees in food studies open the door to many professions, not just nutrition counseling or advertising.“[9]

Watson/ Caldwell machen mit dieser Aussage auf den weiteren wesentlichen Punkt aufmerksam, dass man das Phänomen des Essens auf mehreren Untersuchungsebenen erforschen könne und möglichst viele Fachdisziplinen hinzugezogen werden sollten[10]. Becker nennt spezialisierte Einzelzweige, die sich innerhalb der verschiedenen Fächergruppen herausgebildet haben: die historische Ernährungsforschung, die Ernährungssoziologie, die Kultur- und Sozialanthropologie, die ethnologische bzw. völkerkundliche Nahrungsforschung, die Ernährungspsychologie, aber auch die Theologie, die Semiotik, die Kunstgeschichte sowie die sprach-, kommunikations- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen.[11] Idealerweise sollte jeder Disziplin, und damit den in ihren Kontext eingebundenen Funktionen von Essen, gleichermaßen Rechnung getragen werden. Dementsprechend werden in der aktuellen Essensforschung vor allem die Vielfalt und die wechselseitige Verschränkung der verschiedenen Funktionen der menschlichen Ernährung hervorgehoben. Wie komplex das Zusammenspiel all dieser Dimensionen des Essens schließlich ist, mag eine überblicksartige Zusammenstellung der verschiedenen „biological and cultural functions of food“ veranschaulichen, wie sie sich bei Paul Fieldhouse findet:

Food is used to: 1. Satisfy hunger and nourish the body. 2. Initiate and maintain personal and business relationaships. 3. Demonstrate the nature and extent of relationships. 4. Provide a focus for communal activities. 5. Express love and caring. 6. Express individuality. 7. Proclaim the separateness of a group. 8. Demonstrate belongingness to a group. 9. Cope with psychological or emotional stress. 10. Reward or punish. 11. Signify social status. 12. Bolster self-esteem and gain recognition. 13. Wield political and economic power. 14. Prevent, diagnose and treat physical illness. 15. Prevent, diagnose and treat psychological illness. 16. Symbolise emotional experiences. 17. Display piety. 18. Represent security. 19. Express moral sentiments. 20. Signify wealth.[12]

In diesem Sinne kann man in der Tat sagen, dass das Gesamtphänomen ‚Essen‘ weit über eine bloße Aufnahme von Nahrung hinausgeht. Speiseordnungen erweisen sich als „‚Offenbarungen‘ über Kulturen“ und man kann vom Essen als „sozialem Totalphänomen“ sprechen[13], Essen als „universal medium that illuminates a wide range of ... cultural practices“ sehen, bis zu dem Grade, dass es in manchen Fällen gar unmöglich sei „to image studies of [for example] marriage, exchange, or religion that do not consider food.“[14]

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es jedoch völlig unmöglich, das „Kulturthema Essen“ einer möglichst systematischen und vollständigen Aufbereitung zu unterziehen.[15] Deshalb werde ich mich im Folgenden lediglich auf die soziale Funktion des Essens beschränken und eine Möglichkeit ihrer literarischen Konzeptualisierung und Inszenierung an einem ausgewählten Einzelwerk analysieren. Ein für eine solche Arbeit auf dem Gebiet der Slavistik sehr geeigneter Text ist der Revizor von Nikolaj Gogol'. Dem Thema „Essen“ begegnen wir darüber hinaus in mehreren Einzelwerken des Autors. So greift z.B. Wördehoff mehrfach auf Gogol'-Zitate zurück, um in „Dementis der Diät. Der russische Magen“[16] die russische Esskultur und -mentalität in einem recht kurzen Kapitel anschaulich zu machen. Der Revizor aber bietet sich für eine solche Arbeit geradezu an, da in diesem Stück so häufig und kontinuierlich Referenzen auf das Essen vorkommen wie in keinem anderen Stück Gogol's[17]. Man ist sogar geneigt zu sagen, das Stück werde im Grunde durch das Essen selbst in Szene gesetzt. Inwiefern Essen nun ein soziales Phänomen sein und man menschliches Essverhalten als Gradmesser von Hierarchiestrukturen, in gewisser Hinsicht quasi als Rangabzeichen begreifen kann, wird offenbar, wenn man einem zentralen und immer wiederkehrenden Phänomen in Gogol's Gesamtwerk Beachtung schenkt und dazu in Relation setzt, dem Rangdenken und –verhalten der Menschen, vornehmlich der Beamten zur Zeit Nikolaus I. Es ist überaus interessant, wie Gogol' im Revizor beide Aspekte miteinander verwebt, so dass sich allein aus den Essensszenen ein lebendiges und anschauliches Abbild eines sozialen Bewusstseins ablesen lässt, wie es in der Epoche des Autors vorgelegen haben mag. Die Tatsache, dass in der gesichteten Sekundärliteratur beide Aspekte kaum bzw. so gut wie gar nicht, geschweige denn in ihrer Wechselwirkung miteinander, untersucht worden sind[18], stellt einen zusätzlichen Anreiz zu der vorliegenden Arbeit dar.

Im folgenden Kapitel soll zunächst untersucht werden, inwiefern Essen Aspekt sozialer Kommunikation sein kann und welches Potential ihm in diesem Rahmen innewohnt. Das sich anschließende Kapitel konzentriert sich dann auf das Sozialgefüge in seiner vertikalen Ausprägung, insbesondere soll anhand einiger ausgewählter Texte erörtert werden, wie wichtig hierarchische Strukturen in Gogol's Werken bzw. für den Autor selbst sind. Auf dieser Basis baut Kapitel IV auf und widmet sich der Aufgabe speziell am Revizor herauszuarbeiten, wie Essen und Referenzen auf Essen im literarischen Kontext genutzt werden, um hierarchische Strukturen zu kreieren oder zu demonstrieren, und somit als sozialer Parameter gelesen werden können. Zum Schluss werden diese auf einen Aspekt fokussierten Erkenntnisse wieder in größeren Zusammenhang gesetzt und in Relation zum Theaterstück als Ganzem sowie zum Gesamtwerk Gogol's betrachtet, auf dass schließlich der Frage nach der Autorintention im Hinblick auf die Wechselwirkung mit den Rezipienten des Stücks nachgegangen werden kann.

II. Der soziale Aspekt des Essens

Die Geschichte der Menschheit stellt sich von Anfang an und zu einem wesentlichen Teil als eine „Sozialgeschichte des Essens“[19] dar. Sie ist die Geschichte eines Kampfes gegen den Hunger und den Durst, der von Anbeginn eine der wichtigsten Triebfedern der Weltgeschichte wie der Politik geblieben ist. Hungersnöte haben noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa Todesopfer gefordert und fordern sie bis heute in Millionenhöhe in der ganzen Welt. Dabei kam und kommt neben dem körperlich-materiellen stets auch dem „psychisch-soziokulturellen Aspekt“[20] entscheidende Bedeutung zu. Denn zwischen Bedürfnis (Hunger und Appetit) und Befriedigung (Essen und Trinken) implementiert der Mensch das kulturelle System der Küche, kulturspezifische Normen, Konventionen und das Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen im Rahmen von Makro-, Regional- und Subkulturen ihre Erfahrungen interpretieren und bestimmen, was als Lebensmittel angesehen, zum Verzehr zubereitet und aus welchem Anlass, in welcher Situation, wie, warum und mit wem gegessen wird.

In der Entwicklungsgeschichte des Menschen, der langfristig nur in der Gemeinschaft überlebensfähig ist, gehören die Beschaffung, die Zubereitung und der Verzehr der Nahrung zu den Haupttätigkeiten des Lebens. Sie können bloß gemeinschaftlich bewältigt werden und sind daher bestimmten Regeln unterworfen, die mit strengen Rollenverteilungen einhergehen. Bereits in der Gesellschaft der Jäger und Sammler wird das Wild von den Männern in der Gruppe gejagt, erlegt, zerteilt und an den Ort des Verzehrs befördert, während die Frauen das Sammeln pflanzlicher Nahrung und die Aufgabe der Zubereitung übernehmen. Da also die Nahrungsbeschaffung den Einsatz jedes Mitglieds der Gemeinschaft erfordert, werden eine Koordination der Kräfte sowie gegenseitige Rücksichtnahme notwendig, ein Prinzip, dem auch der gemeinschaftliche Verzehr unterworfen ist, so dass jeder gemäß seinem Einsatz oder seiner Rolle an der Beute beteiligt wird. Diese Konstitution einer Essgemeinschaft privilegiert den erfolgreichen Jäger in gewissem Maße, über den ‚Besitz‘, der streng genommen nur ihm zusteht, zum Wohl der Gemeinschaft verfügen zu können und durch eine gezielte Vergabe der einzelnen Teile der Beute eine soziale (Rang-) Ordnung zu schaffen, die zur Stabilisierung der Gemeinschaft beitragen soll.

Diese Grundstrukturen des Ernährungsverhaltens verkomplizieren sich mit dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht in einer Weise, die letztlich für die Herausbildung der strukturierten Gesellschaft überhaupt verantwortlich ist. Die Verfügungsgewalt über die Nahrungsquellen entwickelt sich nun vom punktuellen, eher zufälligen und zeitlich begrenzten ‚Besitz“ einer erlegten Beute hin zu einem dauerhaften Eigentumsverhältnis, wobei in jedem Einzelbereich ein Überschuss an Nahrungsmitteln produziert wird, dessen Bestimmung ausdrücklich in der Verteilung an die Mitglieder der Gemeinschaft liegt. Hierin liegt die Entstehung sowohl gesellschaftlicher Machtstrukturen als auch politischer Bündnisse begründet, denn da der jeweilige ‚Besitzer‘ darüber zu befinden hat, welchen Teil seiner erwirtschafteten Güter er abgibt und welche Personengruppen er innerhalb der Gesellschaft entsprechend berücksichtigt, wächst seine Macht deutlich an. Denn einerseits verbinden sich mit der Redistribution stets bestimmte Privilegierungen und Benachteiligungen, wodurch soziale Hierarchien geschaffen werden, und andererseits erfordern der Schutz und die Verteidigung der ‚Produktionsmittel‘ eine Unterstützung durch Verbündete, die der ‚Besitzer‘ wiederum durch entsprechendes Austeilen an sich bindet und somit der politischen Lagerbildung Vorschub leistet.

Seit mit der Einrichtung von Ackerbau und Viehzucht die Verteilung der Lebensmittel an die Macht privilegierter Redistributeure gebunden ist, die bestimmte Vorteile für sich selbst und ihre Nächsten in Anspruch nehmen, ist die Gesellschaft in verschiedene Schichten gespalten, die sich durch unterschiedliche ‚Ernährungsstile‘ auszeichnen und auch über diese identifizieren lassen:

Das Essverhalten, d.h. die Speisen selbst und die Art und Weise ihrer Zubereitung und ihres Verzehrs können als der ursprüngliche Ausdruck einer sozialen Schicht bzw. allgemein als Indikator gesellschaftlicher Hierarchie angesehen werden. Dabei zeichnet sich die Ernährung der oberen Schichten sowohl im quantitativen („manger plus“) als auch im qualitativen Bereich („manger mieux“) durch eine Vorrangstellung aus, die von den mittleren und unteren Schichten im Bestreben nach Aufstieg und Anerkennung zwar imitiert, jedoch aufgrund ökonomischer Zwänge nur sehr unvollständig erreicht werden kann. Brillant-Savarins berühmtes Diktum ‚Dis-moi que tu manges, je te dirai ce que tu es“ bringt auf den Punkt, was in kultursoziologischer und sozialhistorischer Terminologie als ‚schichtenspezifischer Ernährungsstil‘ beschrieben wird ...“[21]

Der Ernährungsstil konstatiert folglich einen Teil des Habitus einer bestimmten Gesellschaftsschicht, der als Produkt kollektiver Geschichte und individueller Erfahrungen beschrieben werden und Ausdruck der Zugehörigkeit bzw. Distanz zu einem bestimmten Milieu sein kann. Nach dem traditionellen, ‚statischen‘, dreigliedrigen Gesellschaftsmodell lässt sich entsprechend eine Einteilung Ober-, Mittel- und Unterklasse vornehmen[22], mit denen dann – insbesondere in der französischen Esskultur des „Bürgerlichen Zeitalters“[23] – die „grande cuisine“, die „cuisine bourgeoise“ und die „cuisine paysanne“ korrespondieren. Essgewohnheiten sind also elementare Unterscheidungskriterien für gesellschaftliche Schichten, und es ist die logische Konsequenz, dass Prestige und Repräsentationsbedürfnisse stets die Tafelfreuden begleiten.[24]

Essgewohnheiten unterscheiden gesellschaftliche Klassen und legen sie fest. Auf der Tafel des Adels waren über Jahrhunderte einfache Suppen, Schlachtfleisch, Eingeweide sowie Schweinefleisch und Huhn verpönt. Stattdessen werden als Herrenessen Wild, Wildgeflügel, Fische, Austern und Krebse bevorzugt, die durch Jagd- und Fischrechte mit dem Eigentum an Grund und Boden verbunden waren. Auch die patrizische Oberschicht distanzierte sich von den Nahrungsmitteln des Volkes. Eine Dame von Welt aß weder Kohl noch Bohnen, niemals Zwiebeln, Lauch oder gar Knoblauch. Die Autoren der Rezepturen und Kochbücher des 14., 15. und 16. Jahrhunderts sowie die Köche des Adels oder des Patriziats legen mit ihren Anweisungen den standesgemäßen Gebrauch und die Zubereitung der Nahrungsmittel fest. Diese Köche verstehen sich als Meister ihres Faches und Repräsentanten ihrer Herrschaft.[25]

In diesem Kontext mag es von besonderem Interesse sein, dass das Sprechen und Schreiben über das Essen traditionell durch die Perspektive der Oberschicht bestimmt wird, wie Becker[26] ergänzt. Aber wenn die soziale Bindungs- und Differenzierungskraft der Nahrung auch im Falle der (Drei-) Teilung der gesellschaftlichen Klassen am offensichtlichsten wird, so ist der Bereich der Ernährung doch auch allgemein sehr stark mit den Elementen des sozialen Lebens verwoben. Er berührt, verbindet und beeinflusst viele Teilbereiche des menschlichen Lebens:

- Essen und Trinken haben eine so große Bedeutung, dass sie oftmals mit Ereignissen verknüpft werden, die primär nichts mit Ernährung zu tun haben.
- Essen ist sehr stark verbunden mit Geschlechter-Rollen, denn jede Phase der Produktion und Zubereitung von Nahrung wird entweder Männern oder Frauen zugeordnet.
- Die Kultur jeder Gemeinschaft wird den Kindern auch durch das Essen in der Familie vermittelt.
- Essen ist die bevorzugte Art und Weise, um soziale Beziehungen zu initiieren oder aufrechtzuerhalten.[27]

Am komprimiertesten findet sich der soziale Aspekt des Essens aber vielleicht in den Worten Raths beschrieben, der zwischen dem Mahl als ‚terminus ad quem‘ (das heißt das Mahl als Ziel sozialer Aktion) und als ‚terminus a quo‘ (das heißt das Mahl als Ausgangspunkt sozialer Aktion) unterscheidet: „Soziale Verhältnisse [...] schaffen [...] Ess-Situationen, andererseits stiftet Essen soziale Situationen.“[28]

Ein sehr anschauliches Beispiel für Essen als Kommunikationsmittel, das einerseits enorme soziale Bindungskraft, aber andererseits auch Sprengkraft in sich trägt, liefert der russische Film Panzerkreuzer Potemkin[29]. Hier entzündet sich aufgrund des Essens ein Konflikt, der zum Aufstand der Besatzung[30] führt. Als viele der Matrosen das ihnen zugeteilte schlechte Essen (als Symbol ihrer allgemein schlechten Situation?) ablehnen, schreitet der Kommandant ein. (Setzt er die Essensverweigerung einer Befehlsverweigerung gleich bzw. einem Angriff auf seine Autorität?[31].) Nachdem er den Matrosen eine öffentliche Stellungnahme abverlangt hat, wem die Suppe schmecke, gibt er Order, diejenigen zu erschießen, die sie ablehnen, worauf es zur Revolte kommt. Nachdem diese zugunsten der Aufständischen verlaufen ist, bahren sie ein Opfer, den Matrosen Vakulinčuk, der eine wesentliche Rolle während der Revolte innehatte, im Hafen Odessas auf und legen ein Schild anbei mit den Worten „iz-za ložki boršča“. Die Bevölkerung der Stadt solidarisiert sich mit der Besatzung und versorgt diese mit Essen und anderen lebensnotwendigen Dingen. Damit nimmt die Stadt die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen der zaristischen Truppen in Kauf, denn mit der Essensversorgung hat sie sich nach geltender Logik auf die Seite der Aufständischen gestellt.

III. Čin – Hierarchische Strukturen bei Gogol'

III.1. allgemeine Voraussetzungen

Hierarchien[32] kommen und kamen, soweit bekannt, zu allen Zeiten in allen menschlichen Kulturen und Lebensbereichen vor, um das Funktionieren von Gruppenorganisationen zu gewährleisten. Die Tatsache, dass sich Hierarchieverhalten auch bei fast allen Säugetieren – und hier besonders ausgeprägt bei nicht-menschlichen Primaten – findet, spricht laut Mizera[33] dafür, dass Hierarchien ein biologisch verankerter, also natürlicher Bestandteil des Sozialverhaltens sind und ursprünglich lebenspraktische Bedeutung haben. Welch eine zentrale sowie dominante Rolle hierarchische Strukturen im Leben des Menschen einnehmen, deutet Mizera mit den Worten v. Cubes an: „Das Rangordnungssystem beim Menschen ist Bestandteil des phylogenetischen Programms; es kann ebenso wenig wie sexuelles oder aggressives Verhalten wegerzogen werden.“[34] Zunächst wiesen menschliche Hierarchiesysteme noch sehr große Ähnlichkeit mit denen nicht-menschlicher Primaten auf, wurden im Laufe der Evolution jedoch immer komplexer und differenzierter, und es entwickelten sich aus ursprünglich rein individuellen Funktionshierarchien spätestens mit der Gründung größerer Gesellschaften bzw. Staaten kollektive Hierarchien. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Menschheitsgeschichte, die sich grob in vier Hauptzeitalter einteilen lässt:

[...]


[1] Shakespeare, William: „Twelfth Night, or What You Will“ in: Wells, Stanley/ Taylor, Gary: The Complete Oxford Shakespeare. Volume II. Comedies. London 1993. (II,3) S. 727.

[2] Wierlacher, Alois: Vom Essen in der deutschen Literatur. Mahlzeiten in Erzähltexten von Goethe bis Grass. Stuttgart 1987.S. 13.

[3] Vgl. Becker, Karin: Der Gourmand, der Bourgeois und der Romancier. Die französische Esskultur in Literatur und Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a.M. 2000. S. 2.

[4] Der Begriff ‚Essen‘ ist in diesem Sinne in einem weiteren Zusammenhang zu sehen. Er referiert nicht exklusiv auf Nahrungsgegenstände, sondern ebenso auf die Einnahme derselben, sowie Verhaltensweisen bei der Einnahme etc.

[5] Becker 256 ff.

[6] Da man den ‚niederen‘ Kulturgütern des Alltagslebens nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt hat.

[7] Vgl. Becker 3, Anm. 10-12.

[8] Vgl. Wierlacher 14.

[9] Watson/ Caldwell (Hgg.): The Cultural Politics of Food and Eating. Malden MA 2005. S. 1.

[10] Worin sie mit Wierlacher, Becker und Logue übereinstimmen.

[11] Becker 6. Für eine einführende Überblicksdarstellung siehe Kapitel 1 „Kulturthema Essen: Ein »soziales Totalphänomen«“ S. 1-79.

[12] Fieldhouse, Paul: „Preface“ in: Food & Nutrition. Customs and Culture. New York 1986 (nach Becker 4).

[13] Vgl. Wierlacher 13.

[14] Watson/ Caldwell 1.

[15] Wie es sich beispielsweise Becker, wenn auch nur in Form eines denkbaren Ansatzes von vielen, zur Aufgabe macht.

[16] Wördehoff, Bernhard: „Sage mir Muse vom Schmause ...“. Vom Essen und Trinken in der Weltliteratur. Darmstadt 2000. S.136-143.

[17] Vgl. Anhang.

[18] Wohingegen andere Aspekte in Gogol's Werk sich eines größeren wissenschaftlichen Interesses zu erfreuen scheinen und folglich auf die eine oder andere Weise immer wieder in der Sekundärliteratur untersucht werden. Wie z.B. das ‚Komische‘(Vgl. Krziwon, A.: Das Komische in Gogol's Erzählungen. Frankfurt a.M. 1994./ Larsson, A.: „Das Lachen“ in: ders: Gogol' und das Problem der menschlichen Identität. Die „Petersburger Erzählungen“ und der „Revisor“ als Beispiele für ein grundlegendes Thema in den Werken von N. V. Gogol'. München 1992. S. 40-41/ Markovič, V.: „O sootnošenii komičeskogo i tragičeskogo v p'ese Gogolja »Revizor«“ in: Mann, Jurij (Hg.): Gogol' kak javlenie mirovoj literatury. Moskau 2003. S. 149-160/ Recho, K.: “Smech Gogolja i japonskaja literaturnaja tradicija“ in: Mann, Ju. (Hg.): Gogol' i mirovaja literatura. Moskau 1988. S. 275-319/ Erlich, V.: „The Importance of Being a Comedy Writer“ in: ders.: Gogol. New Haven/ London 1969. S. 98-111) oder das ‚Fantastische‘ (Vgl. Archipov, Ju./ Borev, Ju.: „Grotesk Gogolja i fantastičeskoe načalo v nemeckojazyčnych literaturach“ in: Mann, Ju. (Hg.): Gogol' i mirovaja literatura. Moskau 1988. S. 116-140/ Pečerskaja, T.: „Ešče raz o fantastičeskom v „Šineli“ Gogolja“ in: Mann, Jurij (Hg.): Gogol' kak javlenie mirovoj literatury. Moskau 2003. S. 202-207/ Salfeld, H.-E.: „Phantasiestruktur und Abwehr in Gogol's »Toten Seelen« und im »Mantel«“ in: Lübcke, Elisabeth: Gogol' in der Schule. Hamburg 1985. S. 37-56), um nur einige zu nennen.

[19] Vgl. Neumann, Gerhard: “Essen und Lebensqualität“ in: Neumann, Gerhard/ Wierlacher, Alois/ Wild, Rainer (Hg.): Essen und Lebensqualität. Natur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Frankfurt 2001. S. 16.

[20] Vgl. Becker 1.

[21] Becker 75-76.

[22] Wie es zum Beispiel der Kultursoziologe Pierre Bourdieu tut.

[23] Vgl. Becker 78.

[24] Sehr ausführliche Beispiele zur Veranschaulichung dieses Prinzips in Bezug auf die russische (Ess-)Kultur im historischen Verlauf finden sich in Smith, R.E.F./ Christian, David: Bread and Salt. A social and economic history of food and drink in Russia. Cambridge 1984. Als Themenschwerpunkte und gewissermaßen auch Antagonismen werden Essen und Essensszenarien der einfachen Landbevölkerung und der Gesellschaft am Zarenhofe beschrieben.

[25] Zischka, Ulrike: Die anständige Lust. Von Esskultur und Tafelsitten. München 1993. S. 8.

[26] Becker 78.

[27] Hirmer, Andrea: „Theoretische Anmerkungen“ in ibd.: La comida de antes. Das Essen von früher. Ernährung im Wandel auf der kanarischen Insel El Hierro. Bayreuth 1995. S. 170-171.

[28] Rath, C. D.: Die Reste der Tafelrunde. Das Abenteuer der Esskultur. Reinbek bei Hamburg 1984. S. 174. Rezitiert nach Becker 74.

[29] Bronenosec Potemkin, UdSSR 1925. Der Stummfilmklassiker von Sergej M. Eisenštejn gilt bis heute als ein Meilenstein der Filmgeschichte und wurde u.a. 1958 auf der Brüsseler Weltausstellung zum „Besten Film aller Zeiten“ gekürt sowie 2003 in den Filmkanon aufgenommen, der jungen Menschen das Filmgenre näher bringen soll.

[30] Unter dem historisch bedeutsamen Begriff „Meuterei von Odessa“ (1905) in die russische Geschichte eingegangen.

[31] Vgl. dazu Becker 66: „[...] mit jemandem die Nahrung zu teilen [gilt] in allen Kulturen als Zeichen friedlichen Entgegenkommens oder gar als Freundschaftsbeweis. [...] Wer [...] Essen anbietet, signalisiert den Wunsch nach einvernehmlichem Auskommen [...] Umgekehrt bedeutet die Ablehnung eines Nahrungsgeschenks, dass man den Konflikt sucht, und kommt nicht selten einer regelrechten ‚Kriegserklärung‘ gleich [...]“.

[32] Wörtlich aus dem Griechichischen übersetzt bedeutet ‚Hierarchie‘ „Herrschaft der Heiligen“, „Heilige Herrschaft“ oder „Heilige Ordnung“. Diese Übersetzungen entsprechen jedoch nicht mehr dem heute konnotierten Sinn des Wortes. Hierarchie kann als ein Terminus verstanden werden, der ein „mehrstufiges Ordnungssystem der Über- und Unterordnung [bezeichnet], in dem Macht oder Autorität, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit und/ oder Rang und Prestige der Individuen oder Gruppen von oben nach unten stufenweise abnehmen. Jede Ebene ist aber auf alle übrigen in einer Art „Menenius-Agrippa-Symbiose“ angewiesen. Hierarchien haben oft – aber nicht zwingend – die Form einer Pyramide.“ Vgl. Mizera, Nicola: Eigenarten menschlichen Hierarchieverhaltens. Düsseldorf 1995. S. 11.

[33] Mizera 15, 128.

[34] Cube, Felix von: „Spiele, Rangordnungskämpfe und Medienkonsum bei Kindern aus der Sicht der Verhaltensbiologie“ in: Meyer, E. (Hg.): Spiel und Medien in Familie, Kindergarten und Schule. Heinsberg 1984. S.90. Rezitiert nach Mizera 51.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Essen als sozialer Parameter in Nikolaj Gogol's 'Revizor'
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Slavisches Seminar)
Veranstaltung
Zwischen Abstinenz und Orgie: Fasten, Hungern, Speisen, Prassen in russischer (und polnischer) Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
44
Katalognummer
V133460
ISBN (eBook)
9783640403028
ISBN (Buch)
9783640403462
Dateigröße
983 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist sinnvoll gegliedert, theoretisch exzellent fundiert, im Analyseteil überzeugend durchgearbeitet und sprachlich auf hohem Niveau gehalten. Der kluge Umgang mit der reichen Sekundärliteratur und die Sammlung von Textbelegen im Anhang sowie der Umfang der Arbeit selbst haben eher den Charakter einer Magister- als einer Seminararbeit. (Auszug aus der Bewertung der Arbeit)
Schlagworte
Gogol, Essen, Revizor, Revisor, Speisen, Essen und Kultur, Ernährung
Arbeit zitieren
Jens Jahnke (Autor:in), 2005, Essen als sozialer Parameter in Nikolaj Gogol's 'Revizor', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133460

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