Das Märchen von der 'verschleierten' Frau. Metamorphosen eines Motivs von Schiller bis Hofmannsthal


Examensarbeit, 2006

110 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


1.) EINLEITUNG

Die folgende Arbeit wird sich mit verschiedenen Texten und Textgattungen von unterschiedlichen Autoren hauptsächlich aus dem 19. Jahrhundert befassen, denen das Motiv der verschleierten Frau gemeinsam ist. Diese Texte sollen gattungs- und epochengerecht interpretiert werden, um sich dann den verschleierten Gestalten in ihnen adäquat zuwenden zu können. Es wird das Beziehungsgeflecht um die verschleierte Frau zu untersuchen sein, um heraus zu arbeiten, inwiefern sie eine zentrale Funktion in den Texten innehat, bzw. welche Rolle sie in ihnen spielt.

Um die Bedeutung des Schleiers herauszustellen, muß man den Blick auf das bzw. die Verschleierte selbst richten.

Die Untersuchung soll zeigen, ob immer das- oder dieselbe hinter dem Schleier zu finden ist. Die Fragestellung der Arbeit läßt vermuten, daß sich in den verschiedenen Texten wohl eine Wandlung des oder der Verschleierten vollzieht. Danach muß eventuell die Frage geklärt werden, warum es überhaupt eine Verschleierung gegeben hat, was sie beabsichtigt und was sie bewirkt.

Außerdem muß man den Zustand der Verschleierten beachten, nämlich ob die Verschleierung bestehen bleibt, oder ob es eine Entschleierung gibt. Wenn letzteres eintritt, interessieren dann zwei Fragen: erstens der Zeitpunkt derselben und zweitens die Person, die die Entschleierung vornimmt: die verschleierte Person selbst oder jemand anderes. Die Entschleierung, wenn es denn zu ihr gekommen ist, hat meist gravierende Konsequenzen für die Entwicklung der Handlung bzw. für den Protagonisten und sein direktes Umfeld.

Von zwei Texten, dem Libretto Emanuel Schikaneders zu Mozarts Oper Die Zauberflöte und Novalis` Kunstmärchen Hyazinth und Rosenblütchen, abgesehen, besiegelt die Entschleierung den Untergang des Protagonisten und dadurch indirekt auch den Untergang der ihm nahestehenden Personen. In Tiecks Runenberg, den Bergwerktexten und in Hofmannsthals Märchenfragment von der verschleierten Frau (ohne die nachträglichen Notizen) wird der Protagonist letztendlich zum Opfer eines inneren, psychischen Konfliktes, den er nur durch seinen Rückzug aus dem realen Leben in Wahnsinn oder Tod auflösen kann.

Der Held steht in all diesen Texten zwischen zwei Frauen, von denen die eine aus der realen Welt des Alltags stammt und die andere einem phantastischen Unterweltsreich angehört, welches durch die verschleierte Frau repräsentiert wird.

Analysen der einzelnen Werke sollen nun über die Identität der verschleierten Frauengestalten, ihre Motivationen und ihre jeweilige Bedeutung für den Text Aufschluß geben.

Es handelt sich in chronologischer Reihenfolge um die hier aufgelisteten Texte:

- das Libretto zu Mozarts Oper Die Zauberflöte (1791),
- Friedrich von Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais (1795),
- Friedrich von Hardenbergs (Novalis`) Kunstmärchen Hyazinth und Rosenblütchen aus dem Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais (1798/1799), 1802 erschienen
- Ludwig Tiecks Kunstmärchen Der Runenberg (1802) aus dem Phantasus, einer „Sammlung von Märchen, Schauspielen und Novellen“[1]
- E.T.A. Hoffmanns Novelle Die Bergwerke zu Falun aus der Sammlung Die Serapions-Brüder (1819-21), die Erzählungen und Märchen enthält.
- Richard Wagners unvertontes dramatisches Opernfragment Die Bergwerke zu Falun (1841/2),
- Hugo von Hofmannsthals Drama Das Bergwerk zu Falun (1899) und
- sein fragmentarisches Märchen Das Märchen von der verschleierten Frau (1900).

2. HAUPTTEIL

2.1 Die Zauberflöte (Libretto von Schikaneder, 1791)

Die Zauberflöte ist sicherlich Mozarts bekannteste Oper, die sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut. Wer kennt nicht Taminos berühmte Bildnisarie (1. Aufzug, 4. Auftritt) oder die eindrucksvolle Arie (1.Aufzug, 6. Auftritt) der Königin der Nacht, die sich in anmutigen Koloraturen zum höchsten singbaren Ton, dem f´´´, emporschwingt und in der die Königin Tamino zum Retter ihrer Tochter Pamina erwählt.

Die Oper führt zu einem guten Ende, Tamino und Pamina werden ein glückliches Paar, und auch Papageno findet seine Papagena.

Die Liebe der Königskinder war und ist stark genug, um alle Gefahren und Prüfungen zu überstehen.

Diese Aussage und die wunderbare Musik dürften wohl der Grund für die Popularität der Zauberflöte bis heute sein.

Für das Thema dieser Arbeit ist jedoch ein Hintergrundswissen vonnöten, das der emeritierte Ägyptologie-Professor Jan Assmann in seinem Buch zur Zauberflöte umfassend, plausibel und gut verständlich liefert.[2] Er konzentriert sich auf das freimaurerische Umfeld, in welchem die Zauberflöte entstanden ist, und auf das Verhältnis der Freimauer zu Ägypten und den ägyptischen Mysterien, die in der Zauberflöte eine nicht geringe Rolle spielen, da ja schließlich Tamino und Pamina zu Priestern der Isis, der Göttin der ägyptischen Mysterien, geweiht werden. Ohne die Kenntnis dieses Buches kann man die Verschleierung der Königin der Nacht nicht deuten.

Sie ist allerdings nicht die einzige verschleierte Person in der Oper, aber Hauptgegenstand der Untersuchung. Ihr ist kein gutes Ende beschieden, da untypischerweise sie untergeht und nicht der Held wie in den meisten Texten dieser Arbeit. Warum ausgerechnet sie mit ihrem ebenfalls verschleierten Gefolge in die Hölle fährt, wird mit Jan Assmanns Hilfe leicht zu zeigen sein. Sie ist Vertreterin einer Haltung, deren Zeit die Freimaurer als beendet angesehen haben.

Jan Assmann interessierte sich also für die Hintergründe der Zauberflöte, für den Subtext, der eine Ritualshandlung schildert und meist unbeachtet bleibt.

Im folgenden sollen kurz die wichtigsten Fragestellungen Assmanns aufgelistet werden, den unter anderem auch die Bedeutung der verschleierten Frau für die Freimaurer und für die Handlung der Oper interessierten. Er möchte in seinem Buch die Gedächtnisgeschichte der Mysterien der Isis untersuchen, die Mysteriologie des 18. Jahrhunderts, die Mysterienforschungen der Wiener Freimaurer und was man sich im 18. Jahrhundert unter den Mysterien der Isis vorstellte.[3]

Wenngleich sich auch Elemente der ägyptischen Formsprache erhalten haben und die Mysterien der Isis in dieser Oper vorkommen, spielt diese jedoch nicht im alten Ägypten, sondern an einem utopischen Ort.[4]

Ein weiterer wichtiger Fragenkomplex betrifft das Thema der Oper und die Charaktere. Die Königin der Nacht erweist sich auch hinsichtlich dieser Fragestellung als wohl am interessantesten, da es offensichtlich ist, daß sie eine Veränderung erfährt, die man mit der Bruchtheorie erklären wollte, aber nicht hinreichend konnte. Darauf ist noch an späterer Stelle einzugehen.

Zuerst sei ein Blick in den Text der Oper geworfen, vor allem auf die Stellen, an denen die Königin der Nacht eine Rolle spielt, um dann beantworten zu können, welcher Art diese Veränderung ist, wann sie eintritt und welche Folgen sie hat.

2.1.1 Die Figur der Königin der Nacht

Die Königin der Nacht ist die wichtigste weibliche Figur neben ihrer Tochter Pamina, die in eine Handlung eingebunden ist. Ihr Mann, der Vater ihrer Tochter Pamina, ist gestorben. Doch gibt es noch einen männlichen Herrscher in der Zauberflöte, der allerdings als ihr Gegenspieler fungiert: Sarastro. Dies läßt sich schon dem Personenregister entnehmen, auf das es sich lohnt, einen Blick zu werfen.

Die Anordnung desselben mag zunächst verwundern, weil Sarastro diese Liste anführt, obgleich er erst gegen Ende des ersten Aufzugs im 18. Auftritt erscheint. Tamino folgt als zweiter, doch hätte man ihn als Hauptperson an erster Stelle erwartet, gefolgt von Papageno, Pamina und der Königin der Nacht. Die Reihenfolge ihres Auftretens scheint jedoch nichts über die Bedeutung der jeweiligen Personen für die Oper auszusagen.

Vielmehr läßt sich aus dieser Anordnung schon ein Hinweis auf die Interpretation der gesamten Oper entnehmen, die jedoch nicht vorweggenommen werden soll. Es fällt auf, daß die Anordnung von einer Hierarchie geprägt ist: Zuerst werden Sarastro und die ihm Unterstehenden angeführt, danach die Königin der Nacht nebst Tochter und Damen, ferner Papagena und Papageno. Schon daraus wird die Opposition der Königin und Sarastros ersichtlich, von der man durch Paminas Raub zum ersten Mal erfährt.

Die Schauplätze der Oper entsprechen dieser Opposition: Die ersten acht Auftritte des ersten Aufzugs spielen im märchenhaften Reich der Königin der Nacht, die in Dschinnistan, im Geisterland, wohnt.[5] Der Rest der Oper findet in Sarastros Wirkungsbereich statt.

Festzustellen ist zuerst einmal, daß es verschiedene verschleierte Gestalten in der Zauberflöte gibt: natürlich die Königin, ihre Damen, Isis und, auf den ersten Blick merkwürdig, auch Tamino, wobei der Schleier bei ihm kein Kleidungsstück ist. Der Schleier hat eine zusätzliche Funktion, die über die eines Kleidungsstücks hinausgeht: er ist auch noch ein Symbol. Logischerweise müßte auch Pamina verschleiert sein, doch darüber wird in der Oper keine Aussage gemacht.

Doch zuerst soll nur einmal die Königin der Nacht interessieren.

Die Königin der Nacht tritt insgesamt nur dreimal auf, nämlich im sechsten Auftritt des ersten Aufzuges und im achten und dreißigsten Auftritt des zweiten Aufzuges, doch zieht sich ihre Präsenz durch das ganze Stück, da von ihr gesprochen wird oder ihre Anweisungen von den drei Damen überbracht werden. Ihre beiden letzten Auftritte finden in Sarastros Wirkungsbereich statt wie auch die meisten Auftritte der Oper. Dies alles deutet schon auf den Untergang ihrer selbst und ihres Reiches am Ende hin.

Es bietet sich an, zunächst die Fakten über die Königin der Nacht zusammenzustellen und danach die Änderung in ihrem Verhalten andern gegenüber festzuhalten.

Von Papageno ist zu erfahren, daß ihr Antlitz hinter einem durchwebten Schleier verborgen ist. Papageno ist außer sich über die Unkenntnis Taminos, daß die Königin für keinen Sterblichen zu sehen ist (S.11f.). Papagenos Worte spielen deutlich auf den Spruch der Isis auf dem verschleierten Bild zu Sais an: „Kein Sterblicher hat meinen Schleier je gelüftet“.[6] Es verwundert nicht, daß auch die drei Damen wie ihre Herrin verschleiert sind, da sie so ihre Zugehörigkeit zu deren Reich ausdrücken. Ob Pamina grundsätzlich wie ihre Mutter verschleiert ist, erfährt man nicht. Tatsache ist jedoch, dass alle Personen in Sarastros Herrschaftsbereich unverschleiert sind. Sarastro verkündet auch Tamino, daß dieser seinen „nächtlichen Schleier“ (S.36) verlieren wird. Dieser Schleier drückt ebenfalls die Opposition zwischen der Königin der Nacht und Sarastro aus.[7]

Kamio[8] bezeichnet ihn richtigerweise als hermeneutischen Schleier im Gegensatz zum ontologischen Schleier der Isis, hinter dem sich die Wahrheit alles Seienden verbirgt und enthüllt.

Fakt ist aber auch, daß sich das äußere Erscheinungsbild der Königin der Nacht nicht ändert, wohl aber ihr Verhalten.

Im ersten Aufzug, der im Reich der Königin, einer felsigen Gegend mit Bäumen und einem Tempel, spielt, wird Tamino und Papageno, aber auch dem Zuschauer und Leser, die Königin als eine umsichtige Herrscherin und treusorgende Mutter präsentiert. Den schönen Tamino, der von einer Schlange verfolgt wird, läßt sie durch ihre drei Damen retten. Doch die Herrscherin hat wohl nicht so ganz uneigennützig gehandelt, wie man aus Taminos späterer Äußerung, er sei durch fremde Macht hierher gekommen (S.12), entnehmen kann. Es ist anzunehmen, daß die Schlange von der Königin geschickt worden ist, damit Tamino ihr für die Rettung seines Lebens dankbar sein muß und ihr dann seinerseits wieder einen Gefallen tun will. Papageno steht schon in einem Dienstverhältnis zur Königin, indem er für sie Vögel fängt und im Gegenzug Speis und Trank erhält (S.11). Tamino erfährt seine Aufgabe kurz nach seiner Rettung: Die drei Damen überreichen ihm ein Bildnis der Königstochter Pamina, die er im Auftrag der Königin finden solle. Zum Dank werde er Schwiegersohn der Königin werden, wenn er Pamina lieben könne (S.14). Die drei Damen berichten vom mütterlichen Herz der Königin, die den Jüngling zum Dank glücklich machen wolle, falls er ihre Tochter rette (S.15). Die Entführung gehe aufs Konto eines bösen Dämons (S.16). Die Königin der Nacht präsentiert sich kurz darauf dem nun für sie eingenommenen Tamino als treu sorgende Mutter, die über den Raub ihrer Tochter untröstlich ist und die durch ihn ihr Glück verloren hat. Ihre Kraft habe nicht ausgereicht, um Pamina zu beschützen. Deshalb habe sie Tamino als Retter für ihre Tochter auserkoren, da er über die entscheidenden Eigenschaften verfüge, um Pamina zu befreien. Er sei nämlich unschuldig, weise und fromm.

Bis zu ihrem nächsten Auftritt bleibt die Königin wieder durch ihre Anweisungen indirekt präsent. Sie begnadigt Papageno ein zweites Mal (S.18f.).

Die Königin erweist sich als engagiert und fürsorglich, indem sie Tamino die Zauberflöte aushändigen läßt, welche ihn im Unglück unterstützen solle. Sie hat die Eigenschaft, die Leidenschaft der Menschen zu verwandeln. Die negativen Gefühle könnten zu positiven umgewandelt werden. Glück und Zufriedenheit der Menschen erkennen alle als mehr wert an als Geld (S.19). Des weiteren wird Papageno von der Königin als Begleiter für Tamino bestimmt. Beide sollen sich gegenseitig schützen (S.19f.). Papageno bekommt Silberglöckchen zu seinem Schutze ausgehändigt. Er ist nun wie auch Tamino vollständig ausgestattet für die schwierige Mission.

Die Szenerie wechselt: man befindet sich nun ab dem neunten Auftritt und dem gesamten zweiten Aufzug in Sarastros Herrscherbereich, anfangs in einem prächtigen ägyptischen Zimmer. Pamina ist in einer schlimmen Lage: ihr Fluchtversuch ist mißglückt, und Monostatos begehrt sie. Aus Paminas Sicht bekommt der Zuschauer bzw. Leser den Eindruck vermittelt, dass die Königin eine gute und zärtliche Mutter sei, die aus Gram um ihre ermordete Tochter nicht mehr leben könne (S.22f.).

Doch im weitern Verlauf sind sowohl das junge Paar und Papageno einerseits und der Zuschauer bzw. Leser andererseits gezwungen, einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der Figur der Königin der Nacht hinzunehmen. Aus der Perspektive dieser Personen erscheint die Königin der Nacht als Opfer, deren unschuldige Tochter von einem Bösewicht geraubt worden ist. Mutter und Tochter verbindet eine zärtliche Liebe, und die Mutter erweist sich als engagiert und treu sorgend, was die Rettungsaktion ihrer Tochter betrifft. Doch aus dem Munde Sarastros, der im 18. Auftritt des zweiten Aufzuges endlich erscheint, lernt man eine ganz andere Seite der Königin kennen. Sarastro hat Pamina nicht geraubt, weil er sie als Liebesobjekt für sich selbst besitzen will, sondern um sie vor ihrer stolzen Mutter zu schützen, die ihm als Gegenspielerin an Macht unterlegen sei (S.34). Sarastro stehe mit den göttlichen Gesetzen in Einklang, welche Pamina und Tamino füreinander bestimmt hätten. Die Königin hingegen widersetze sich diesen Gesetzen und ziele darauf, das Volk durch Aberglauben und Blendwerk zu berücken und Sarastros Tempelbau zu zerstören (S.37).

Tamino ist inzwischen auf die Seite Sarastros gewechselt und will als Sieg die Weisheitslehre und als Lohn Pamina erhalten (S.40). Um diesen eingeschlagenen Weg zu durchkreuzen, erscheinen im fünften Auftritt prompt die drei Damen, die zum Verlassen dieses Ortes auffordern, weil ihnen allen sonst der Tod drohe, und die Nähe der Königin verkünden, die unterirdisch in die Tempelanlage eingedrungen ist (S. 42). Allein Tamino bleibt standhaft. Die drei Damen werden von den Priestern entdeckt und müssen selbst in die Hölle fahren (S.44). Die Richtigkeit der Aussage Sarastros wird durch den nächsten Auftritt der Königin bestätigt. Da die drei Damen nun ausgeschaltet sind, muß sie selbst aktiv werden. Sie erscheint ihrer Tochter Pamina im achten Auftritt. Pamina wird von ihrer Mutter über die Vergangenheit informiert: Paminas Vater übergab Sarastro freiwillig den siebenfachen Sonnenkreis. Mutter und Tochter sollen sich der Führung weiser Männer übergeben. Die Königin fordert Pamina und Tamino zur Flucht vor ihrem Todfeinde Sarastro auf (S.47), der sie stürzen wolle. Um dieses bereits von Sarastro von ihr gemalte Bild noch zu vervollkommnen, verlangt sie von ihrer Tochter, Sarastro zu ermorden. Ansonsten sei Pamina nicht mehr länger ihre Tochter. Pamina kann dies nicht ausführen. Sarastro tritt auf und kündigt an, seiner Feindin zu vergeben (S.50f.). Im dreißigsten und letzten Auftritt erscheinen die Königin und ihr Gefolge mit schwarzen Fackeln, um in den Tempel einzudringen. Die Königin hat Monostatos Pamina als Gemahlin versprochen. Sie wollen Sarastro und seine Anhänger ermorden. Doch dessen Macht ist stärker, und die Königin fährt samt Gefolge in die ewige Nacht der Hölle. Pamina, die durch den Fluch ihrer Mutter und aus anscheinend verschmähter Liebe Taminos Selbstmord begehen wollte (S.64), hat sich dadurch, daß sie nun ihren Platz an Taminos Seite eingenommen hat, endgültig von ihrer übermächtigen, lieblosen Mutter losgesagt. Die Oper endet mit der Klärung der Machtverhältnisse und mit einem in die Mysterien der Isis eingeweihten neuen jungen Herrscherpaar.

Daß sich in der Zauberflöte zwei feindliche Machtprinzipien, die symbolisch durch die Nacht und die Sonne repräsentiert werden, gegenüberstehen, ist deutlich geworden. Jan Assmann zeigt in besagtem Buch, daß die Oper nicht ein gänzlich utopisches Märchen erzählt, in dem eben die guten Kräfte über die bösen siegen, sondern auch aktuelle Zeitbezüge zum ausgehenden 18. Jahrhunderte herstellt.

Man muß hinsichtlich der Königin der Nacht auf folgende Fragen eine Erklärung finden: 1.) Wie kann man sich die Wandlung der Königin der Nacht von der treusorgenden Mutter zur dämonischen Furie erklären? 2.) Ist sie Isis, die damals als verschleierte Göttin von Sais und als Göttin ihrer Mysterien bekannt war?[9]

Doch auch Sarastro scheint eine Wandlung durchzumachen, denn aus dem Bösewicht und bösen Dämon wird im zweiten Teil ein milder, weiser und gerechter Herrscher: Beispiele seines menschlichen Verhaltens finden sich im ersten Aufzug, 19. Auftritt, als Sarastro Paminas Liebe zu Tamino respektiert (S.34) und statt Pamina Monostatos für deren Fluchtversuch bestraft, weil der Mohr sich lügnerisch bei ihm einschmeicheln wollte (S.35). Er zeigt sich als Helfer für Tamino, der in das Heiligtum des größten Lichts blicken soll (S.36). Nur zu ihrem eigenen Schutz habe er, ein Freund Ihres Vaters, Pamina ihrer frevlerischen Mutter entrissen und wegen ihrer Bestimmung als Gattin für Tamino, um mit diesem die Herrschaft in Sarastros Reich anzutreten.

Obige Fragen konnte die Bruchtheorie nicht zufriedenstellend beantworten. Diese besagt, daß Mozart und sein Librettist Schikaneder mit Rücksicht auf ein Konkurrenzwerk oder aus andern Gründen mitten in der Arbeit die Konzeption der Oper vollkommen umgeworfen haben.[10] Da klingen Jan Assmanns Ausführungen schon viel überzeugender. Er betont ausdrücklich, daß man nicht danach fragen dürfe, wer die Königin der Nacht sei, sondern nur, wie sie erscheine, und zwar aus folgendem Grund: die Königin und auch Sarastro bleiben an sich in ihrem Wesen gleich.[11] Daß man meint, von ihnen eine Wesensänderung zu erleben, erkläre sich aus der Tatsache, einer Initiationshandlung ausgesetzt zu sein, und nicht nur Tamino und Pamina, sondern auch der Leser bzw. Zuschauer seien in sie miteinbezogen. Das bedeutet, daß man unter dem Eindruck der Initiation dieselbe Person anders erlebt. Nicht die Personen haben sich geändert, sondern der Blick auf sie. Auf diese geänderte Wahrnehmung ihrer selbst haben die Personen keinen Einfluß.

Dieser Perspektivwechsel sei schon von vornherein einkalkuliert worden. Wenn die Identität der Königin nicht interessieren soll, müsste man die Frage besser umformulieren: Wofür steht die Königin der Nacht, oder was wird durch sie repräsentiert?

Man kommt nun nicht mehr umhin, näher in die Welt der Mysterien einzutauchen.

Die antiken Mysterien wurden in den intellektuellen Kreisen, insbesondere in denen der Freimaurer, viel diskutiert. Diese stellten sich die Frage einer religiösen Wahrheit und ihrer Erkennbarkeit für den Menschen. Als Gegenbegriff zur Mysterienreligion trat im Zeitalter der Aufklärung die Offenbarungsreligion.

Als Mutter aller Mysterien galt die ägyptische Religion. Das Jahrhundert der Aufklärung rückte immer entschiedener von der Idee der Offenbarung ab zugunsten der Idee einer natürlichen, dem Menschen kraft seiner Vernunft zugänglichen Theologie. Diese auf Vernunft gegründete Theologie suchte man im alten Ägypten in den ägyptischen Mysterien. Als entscheidendes Kriterium der Mysterienreligionen im Gegensatz zur Offenbarungsreligion gilt die Einweihung oder Initiation. Sie unterscheidet zwischen Eingeweihten, den Priestern, und Profanen, den Mysten. Die Einweihungsriten zielen auf eine starke affektive Beeindruckung des Initianden, der zum Gelingen kein Vorwissen über die Riten mitbringen darf. Die Freimaurer stützten sich auf diese Quellen, um ihren eigenen Standort in Staat und Gesellschaft zu bestimmen. Diese Idee von Geheimnis und Gemeinschaft faszinierte die Freimaurer an den Mysterien, da sie Bezüge zu ihrer eigenen Situation herstellen konnten.[12]

Daß die Königin der Nacht in der ersten Szene isishafte Züge trägt, ist unbestreitbar. Sie soll ja als klagende Mutter gezeigt werden und rückt dadurch in die Nähe einer zweiten Demeter, deren Tochter Persephone von Hades geraubt wurde. Die Griechen setzten dann Demeter der ägyptischen Isis gleich. In den frühesten Bühnenbildentwürfen taucht als eindeutiges ikonographisches Merkmal der Isis die Mondsichel der Himmelskönigin, der Regina coeli, auf (S.63). Ein weiteres Indiz, daß nicht auf die Identität der Königin der Nacht Wert gelegt wird, zeigt sich in ihren unterschiedlichen Benennungen, die aus dem jeweiligen Wissensgrund der Personen entspringen. Im ersten Aufzug wird von ihr nie als der Königin der Nacht gesprochen, sondern immer nur als der „nächtlichen“ und „sternflammenden“ Königin, als die sie dort erscheint. Im zweiten Aufzug bekommt sie wenig schmeichelhafte Attribute zugewiesen, die hauptsächlich von Sarastro stammen, da er eine andere Facette ihres Charakters kennt: mehrmals bezeichnet er sie als stolzes und böses Weib und als Heuchlerin (S.37, S.50, S.72). Weil nun die Königin der Nacht gegen Ende in Sarastos Sonnenreich eingedrungen ist, ist es wichtig, sie als seine Gegenspielerin auszuweisen, weswegen sie dort direkt als „Königin der Nacht“ im Gegensatz zum „Sonnenkönig“ erwähnt wird (S.46, S.71).

„Die Wandlung der Königin der Nacht von einer isis- und demeterartigen Göttin zu einer dämonischen Rachefurie der Finsternis ist logisch nicht nachvollziehbar und stellt das eigentliche Rätsel der Zauberflöte dar.“ Durch den schockartigen Wechsel der Perspektiven solle die im ersten Aufzug aufgebaute Illusion zerstört werden, um so einen Prozeß der inneren Umkehr, einer Sinneswandlung zu initiieren. Einweihung bedeute nämlich nicht nur Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch Demaskierung der bisherigen Täuschung, die auch das Publikum erfährt. Es gehe nicht um eine Verwandlung der Königin, sondern um eine Wandlung des Blicks, den Tamino und das Publikum auf sie werfen.[13]

2.1.2 Die Funktion der Schleier

Die von Jan Assmann aufgeworfene Frage, ob die Königin Isis sei, kann man wohl mit „nein“ beantworten. Weshalb, soll dargelegt werden. Obwohl sowohl die Göttin als auch die Königin verschleiert sind, und obwohl die Königin isishafte Züge, wenn auch nur eingangs, aufweist, sind sie keinesfalls identisch. Die Königin der Nacht bleibt ständig verschleiert und geht am Ende unter. Die Mysterien der Isis sind am Schluß glücklich vollzogen und sehen einer sicheren Zukunft entgegen. Isis ist auch nicht gänzlich unsichtbar wie die Königin der Nacht hinter ihrem dichten, schwarzen Schleier: Isis zeigt sich in ihrem durchlässigeren Schleier dem Neophyten in der letzten Stufe der Einweihung, in der Epoptie, welche nach Ansicht der freimaurerischen Mysterientheorie zum politischen Wirken befähigt.[14]

Bevor jedoch die Bedeutung des Schleiers mithilfe der Mysterientheorie der Freimaurer erklärt werden wird, seien noch einige kurze Bemerkungen zu Isis und der Königin gestattet. Isis selbst taucht im Personenregister nicht auf, da sie keine Sprech- oder Singrolle hat. Über sie wird lediglich berichtet, oder sie wird angerufen und besungen.

Die Königin ist eine handelnde und singende Person der Oper, jedoch unterscheidet sie sich in einem wichtigen Aspekt von den anderen Hauptpersonen, der auch mit ihrer Verschleierung zusammenhängt: Sie ist nicht persönlich gezeichnet. Von Tamino, Papageno, Pamina und Papagena werden Angaben zu ihrem Alter und ihren Charaktereigenschaften (S.53) gemacht, Paminas Äußeres wird sogar genau beschrieben (S.24). Der nachtschwarze Schleier der Königin gibt nichts von ihr frei, was auf ihr Äußeres schließen lassen könnte, da er nur nach einer Seite hin durchlässig ist. Diese Tatsache unterscheidet sie von Isis, deren Schleier nach beiden Seiten hin transparent ist. Die Figur der Königin der Nacht hat allegorischen Charakter. Deshalb trägt sie keinen Namen. Sie verkörpert den Aberglauben, und ihr Schleier ist der Schleier des Aberglaubens. Dieser trennt sie von der Wahrheit, wohingegen Isis die verschleierte Wahrheit ist, die sich, anders als der Gott der Offenbarungsreligion, nur den Eingeweihten zeigt. Somit kann man festhalten, dass im zweiten Aufzug eine schroffe Abwendung von dem vorherigen isishaften Bild der Königin zu verzeichnen ist. Sie ist das diametral Entgegengesetzte von Isis. Die Nacht des Aberglaubens steht dem Licht der Wahrheit gegenüber, deren Hochhaltung sich Sarastro als „Weiser“ und „Oberster“ des Ordens verschrieben hat.[15]

Zur Bedeutung der Isis für das 18. Jahrhundert äußert sich Jan Assmann ausführlich (S.118f.). In kurzer Zusammenfassung seien ihre wichtigsten Funktionen wiedergegeben. Ausführlichere Angaben werden noch bei Schillers Verschleiertem Bildnis zu Sais folgen.[16] Isis galt im 18. Jahrhundert nicht nur als Göttin der Natur, sondern auch als Dea panthea, als allumfassende Gottheit. Ihr Ausspruch auf der Inschrift des verschleierten Bildnisses zu Sais galt im 18. Jahrhundert als Credo einer natürlichen Theologie, das die Aufklärung der biblischen Offenbarungstheologie entgegensetzte. Die Wahrheit zeige sich nur in Sinn- und Abbildern, in Allegorien und Mythen in der Welt, die durch Weisheit und Vernunft vom Epopten zu deuten sind. Sie bildet den Gegensatz zum Aberglauben und ist mit dem höchsten Wesen und Schöpfer des Weltalls identisch. Den Brüdern der Wahren Eintracht lag die Verehrung und die Erforschung der Göttin sehr am Herzen.[17]

Es läßt sich zwar keine Aussage zum Ort der Oper machen, wohl aber zur Zeit, in der sie spielt. Die Oper spielt in einer unbestimmten Zeit der Gegenwart, nämlich in der Zeit, die als Übergangszeit zwischen der Nacht des Aberglaubens und dem Licht der Vernunft empfunden wird. Das irdische Paradies wird als Nahziel angesehen. Somit ist die Zauberflöte eine Oper der Hoffnung.[18]

William Warburton beschreibt die heidnischen Religionen als zweigesichtig: sie hätten das exoterische Gesicht der Volksreligion und das esoterische Gesicht einer Elitereligion bzw. der Mysterien. In der Volksreligion gehe es um Feste, Opferkult und Frömmigkeit, in den Mysterien dagegen um sittliche, geistige, wissenschaftliche und spirituelle Bildung und Ausbildung. In der Zauberflöte soll der Neophyt den Schleier der Volksreligion als Irrtum erkennen und abwerfen, an deren Stelle die Königin der Nacht gesetzt wird, und alles, was sie ihm von Sarastro und seinen Eingeweihten erzählt hat.[19] Die Volksreligion ist in den Augen der Eingeweihten Aberglaube und gleichzeitig die Religion des einfachen Volkes, das an keinen elitären Deismus glauben will. So wird auch Tamino als Initiand seinen nächtlichen Schleier verlieren, „um ins Heiligtum des größten Lichts zu blicken“ (S.36), denn beim Einweihungsritual in die Mysterien der Isis geht es in erster Linie um Belehrung und Bildung.[20]

Nach Assmann spielen Mozart und Schikaneder mit ihrem Begriff von Aberglauben auf die katholische Kirche und ihren Marienkult an. Eine vertraute geschichtliche Situation wird so deutlich wie möglich in eine fiktive Handlung übersetzt.[21] Die Kenntnisse, die die Wahrheit betreffen, mussten die Brüder geheim halten, da sie dem allgemeinen Glauben des Volkes entgegengesetzt waren und durch ihre Verbreitung Staat und Religion umgekehrt hätten: Die Wahrheit ist staatsfeindlich. Die Freimaurer verstanden sich als politisch motivierte Vertreter der Aufklärung unter dem Absolutismus und mussten durch Josephs II Freimaurerdekret die Schließung von Logen hinnehmen.[22] Ziel der Maurer war die Selbstvervollkommnung, um so zum Baustein einer neuen Gesellschaft werden zu können. Diese ist jedoch nur im Verband der Gruppe erreichbar.

Die Zauberflöte reinszeniert die Mysterien der Isis und setzt die freimaurerischen Motive unverschlüsselt in allgemein verständlicher Form um.[23] Die Inhalte der Aufklärung werden in einem rituellen Prozeß umgesetzt, der den Initianden von der Nacht zum Licht führt. Wird der Ritualcharakter der Oper nicht durchschaut, handelt es sich um eine Verwandlung der Königin der Nacht von einer guten mit isis- und demeterhaften Zügen ausgestatteten Fee in eine Furie. Versteht man, dass die Oper eine Ritualshandlung beschreibt, erkennt man vielmehr die innere Wandlung Taminos und Paminas, durch die nun ein anderer Blickwinkel entstanden ist.[24]

Abschließend muß noch ein wichtiger Unterschied der Zauberflöte zu den übrigen Texten erwähnt werden. Pamina läuft niemals Gefahr, Tamino an die verschleierten Frau(en) zu verlieren, denn ihr ist bestimmt, mit ihm die Herrschaft über das Sonnenreich anzutreten.[25] Tamino wendet sich niemals in einer persönlichen Liebesbeziehung der verschleierten Königin und der verschleierten Isis zu. Er wechselt zwar von der einen Verschleierten zur anderen, tauscht aber nur in ideeller Hinsicht die Fronten. Die in einem Gedicht Alxingers (s.u.) beschriebene Beziehung, die der Neophyt mit der Wahrheit eingeht, wird als Liebesbeziehung dargestellt und geht deshalb über einen symbolischen Charakter hinaus. Anders als üblich ist Tamino bei den Prüfungen durch Feuer und Wasser nicht allein, sondern Pamina begleitet ihn. Sie, die für diese Prüfungen zuerst nicht vorgesehen war, hat sich als würdig erwiesen: „Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, ist würdig und wird eingeweiht.“[26]

Tamino liebt ideell die Weisheit und real Pamina, ja die Liebe zu Pamina verschmilzt ihm auf diesem Wege ununterscheidbar und untrennbar mit der Liebe zur Weisheit.[27]

Zuletzt sei noch ein Blick auf die Namen des Paares geworfen: Der Name Pamina ist wahrscheinlich griechischen Ursprungs und bedeutet „immerwährende Vollmondnacht“. Dieser Name entspricht dem Wunsch ihrer Mutter, die Nacht des Aberglaubens aufrechtzuerhalten. Die Schleierlosigkeit Paminas und ihre hellen, sicher von ihrem Sonnen-Vater vererbten Haare zeigen an, daß sie sich schon aufgrund Sarastros Einfluß in einem Ablösungsprozeß von ihrer sinistren Mutter befindet, der ihr zuerst noch nicht bewußt ist.

Tamino wird aus griech. tamias (Herr, Gebieter) abgeleitet.[28]

Diesem Namen wird er voll gerecht als Herrscher in einem vereinigten Sonnen- und Nachtreich.[29]

2.2 Das verschleierte Bild zu Sais (Friedrich von Schiller, 1795)

Auch Friedrich von Schillers im neunten Stück seiner Horen veröffentliche Ballade von 1795 „Das verschleierte Bildnis zu Sais“ trägt der Ägyptenbegeisterung in den 90iger Jahren des 18. Jahrhunderts Rechnung.[30] Sie ist unter dem Einfluß von freimaurerischem Gedankengut entstanden und spielt, anders als die Zauberflöte, tatsächlich in Ägypten, genauer in Sais in Unterägypten, im Nildelta. Wieder bilden die Mysterien der Isis den Handlungshintergrund, sie sind indirekt sogar der Auslöser für die sich entwickelnde Handlung. Aus der Zeit der Weimarer Klassik ist jedoch kein anderes Werk Schillers mit diesem Hintergrund bekannt.

Hauptfigur der Ballade ist ein griechischer Jüngling, den des „Wissens heißer Durst“ (V.1) nach Sais treibt, um in die Geheimnisse der Mysterien eingeweiht zu werden. Um es vorwegzunehmen: die Kontaktaufnahme zur verschleierten Frau scheitert, vielmehr bezahlt der Jüngling diesen Vorstoß mit einem frühen Tod. In diesem Text gibt es keine Rivalin aus dem realen Leben, weil die Handlung des Jünglings nicht durch ein Liebesdefizit motiviert ist, sondern allein aus Wißbegierde geschieht. Er erhofft sich von der verschleierten Frau keine Liebe, sondern Einsicht und Allerkenntnis in die höheren Zusammenhänge:

„Was hab ich, wenn ich nicht alles habe?“ […] Gibt`s etwa hier ein Weniger und Mehr? […] Nimm einen Ton aus einer Harmonie, nimm eine Farbe aus dem Regenbogen, und alles, was dir bleibt, ist nichts, solang das schöne All der Töne fehlt und Farben“ (V.7-17).

Doch zuerst soll noch der Aufbau der Ballade betrachtet werden.

Die Ballade besteht aus sieben ungereimten, unterschiedlich langen Strophen. Vom Inhalt her ergibt sich folgende Gliederung: Strophe I (V.1-17) ist Exposition. Der wißbegierige Jüngling möchte sich nicht mit Bruchstücken zufrieden geben, sondern die höhere Ordnung hinter den Dingen verstehen.

In Strophe II (V.18-26) treten der Jüngling und der Hierophant vor das verschleierte Bildnis. Der Jüngling erfährt, dies sei die verhüllte Wahrheit. Danach, in Strophe III (V.27-41), erwähnt der Priester das Verbot der Gottheit, ihren Schleier nicht unerlaubt und vorzeitig zu entfernen. Die Belastung des Gewissens bei Verstoß gegen dieses göttliche Gesetz sei „zentnerschwer“ (V.41). Der Jüngling kann nicht verstehen, warum der Priester diesen leichten Schleier nicht schon längst aufgedeckt hat. Ebenso sieht er den Grund für das Verbot nicht, da man mit gerade dem belohnt wird, weswegen man das Gebot eigentlich nicht brechen soll: die Wahrheit zu sehen (V.32).[31]

Den Wendepunkt bildet Strophe IV (V.42-49). Schlaflos ringt er mit seiner Wißbegier und begibt sich schließlich in das „Innere der Rotonde“ (V.48). Die Strophen V (V.50-58) und VI (V.59-72) verzögern die Katastrophe. Erstere beschreibt die unheimliche Atmosphäre, letztere schildert den Kampf des Gewissens mit der Wißbegierde, welche in der anschließenden Enthüllung der Gestalt gipfelt. Was und ob der Jüngling überhaupt etwas geschaut hat, bleibt ungenannt. Ihm kommt es jedoch so vor, als werde er vom Echo verspottet, was laut Assmann (S.10) an das zweite Gebot „Du sollst Dir kein Bildnis machen“ erinnert. Gott ist unsichtbar, nur eine Stimme habe man gehört. Der Mensch solle nicht schauen wollen, sondern nur gehorchen (S.10).

Die letzte Strophe beschreibt die Katastrophe (V.73-85), die Folgen der Entschleierung für den Jüngling. Seine Heiterkeit ist dahin, und gramgebeugt verstirbt er zu früh. Man kann annehmen, dass der frühe Tod die Strafe für seine Hybris ist. Der Jüngling warnt nämlich noch andere davor, zur Wahrheit durch Schuld zu gelangen.

Wie Schiller mit diesem Stoff in Berührung kam und was ihn daran faszinierte, sei im folgenden ausgeführt.

2.2.1 Entstehung und Hintergründe

Als Quelle der Ballade wird jene von Plutarch im neunten Kapitel seiner Schrift De Iside et Osiride überlieferte Inschrift auf dem Sitzbild der Athena-Isis genannt: „Ich bin alles, was da war, ist und sein wird; kein Sterblicher hat meinen Mantel (peplos) gelüftet“. Proklos überliefert diese Inschrift ebenfalls, allerdings mit drei wichtigen Änderungen: Statt „Sterblicher“ steht „niemand“, was die Götter miteinschließt. Statt „peplos“ führt er „chiton“, ein feinleinenes Untergewand statt eines wollenen Obergewands, an. Der dritte Zusatz lautet: „Die Frucht meines Leibes ist die Sonne“. Schiller übernahm Plutarchs Version, veränderte jedoch etwas Wichtiges: Die Gottheit seines verschleierten Bildes ist nicht mehr Athena-Isis, sondern die Wahrheit. Er folgte hierin womöglich einer ikonographischen Tradition der verhüllten Wahrheit, die nur in Fabeln und Allegorien angedeutet werden kann.[32] Schiller übernahm zwar dieses Motiv und erwähnt diese Inschrift in seinem Aufsatz „Die Sendung Moses“ (1790) und in seiner Studie „Vom Erhabenen“ (1793),[33] aber die Geschichte hat Schiller erfunden. Schiller war selbst kein Freimaurer und auch kein Altphilologe, doch verrät seine Ballade ein großes Interesse am initiatorischen Ägyptendiskurs.

Schiller, der ab 1789 zum Jenaer Kreis gehörte, hatte im Jahre 1787 den jungen Philosophen Karl Leonhard Reinhold (1758-1823) kennen gelernt, Wielands Schwiegersohn, der begeisterter Freimaurer und zugleich Illuminat namens Bruder Decius war.[34] Schillers Schrift „Die Sendung Moses“ vom Spätsommer 1790 zeigt den Einfluß Reinholds, der auch Kantianer war.[35] Schiller orientierte sich an Reinholds Vorlesungen über die hebräischen Mysterien, aus denen er manche Passagen wörtlich übernahm, die sich an Bischof William Warburtons (1698-1773)[36] Werk anschließen, in dem ebenfalls die Inschrift von Sais angeführt wird.[37] Die Mysterienforschung der Freimaurer basierte auf Warburtons Ansatz.[38] Reinhold wollte Stellung beziehen zu einem Streit, ob die Brüder durch hebräische oder ägyptische Mysterien erleuchtet würden. Reinhold formulierte seine These, daß der Monotheismus aus Ägypten stamme, welcher seinen höchsten Ausdruck in dem Verschleierten Bildnis zu Sais finde.[39] Das bedeutet, daß das, was an Erkenntnis in Ägypten nur wenigen Eingeweihten bekannt war, im hebräischen Kontext zum Glauben der Masse wurde. Die esoterische Religion der Vernunft wurde zur exoterischen Offenbarungsreligion.[40] Zwar war auch Mose ein „Auserwählter“, der die Initiation in Ägypten durchlief, doch anders als die Eingeweihten, die dem Schweigegebot unterworfen waren, behielt er sein Wissen nicht für sich, sondern offenbarte es den Massen in Israel. So erklärt sich der Satz Assmanns: „Anstelle der Initiation tritt die Offenbarung“. Der monotheistische Gott offenbart sich zwar auch, wann und immer, wenn er es für angebracht hält, wenigen Auserwählten, doch haben diese eben die Aufgabe, ihn zu verkünden.

Noch wichtiger jedoch war, dass Reinhold Schiller auf Kant hinwies, so daß eine Verbindung der Moses-Welt mit der Kant-Welt im Begriff des Erhabenen zustande kam.[41] Schiller wurde von beiden inspiriert, welche auch die Selbstaussage der Isis zitierten, doch interessierte ihn an deren Aussage vielmehr der Bezug auf den Menschen, während Reinhold den Schwerpunkt auf ihre Gottesaussage setzte.[42]

Bevor eine nähere Auseinandersetzung mit dem Begriff des Erhabenen erfolgt, der zur Klärung, was es mit dem Schleier der Wahrheit nun auf sich hat, beitragen soll, ist eine kurze Zwischenbilanz angebracht.

Festzuhalten ist, daß Schiller verschiedene biblische, platonische, ägyptische und ägyptisierende Motive zu einem Komplex miteinander verquickt hat.

2.2.1.1 Die Neugier des Jünglings

1.) Schiller thematisiert die concupiscentia oculorum. Der Jüngling ist seiner schuldhaften Neugier chancenlos ausgeliefert. Schiller kam es darauf an, nicht die Suche nach Wahrheit zu inkriminieren, denn diese ist nie schuldhaft. Nach Kamio verknüpft Schiller das Problem der Wahrheitserkenntnis mit der Moralität.[43] Schiller trägt damit einem Einwand Herders Rechnung, der dazu führte, dass Schiller die Ballade mit der Formel „Wissen durch Schuld“ enden ließ.[44] Der frühe Tod des Jünglings dürfte wohl die indirekte Strafe für sein Vergehen sein, da er die Auswirkungen dieses Erlebnisses anscheinend nicht verkraftet hat.

2.2.1.2 Die Schuld des Jünglings

Diese beruht auf einer Verletzung des Mysteriengeheimnisses.

Der Jüngling möchte sich nicht mit seinem bis jetzt erreichten Erkenntnisstand bei der Einweihung in die Mysterien der Isis zufrieden geben. Sein Vergehen ist, daß er die (göttliche) Wahrheit gewaltsam erringen will. Das ist Frevel. Christine Harrauer weist auf Schillers besondere Arbeitsweise hin, einzelne Passagen aus Reinholds „Hebräischen Mysterien“ kombiniert zu haben.[45] Es werden zwei Episoden erwähnt, in denen die heiligen Gesetze gebrochen wurden. Einmal frevelte ein Einzuweihender. Er öffnete verbotenerweise eine heilige Lade und wurde daraufhin wahnsinnig. In der zweiten Geschichte handelt es sich um einen Ungeweihten, der in das Adyton, das Allerheiligste, das Innerste, eindrang und Bilder gesehen hatte. Als er draußen davon erzählen wollte, ereilte ihn der Tod. Der Zeitpunkt der relevatio der Göttin darf nur von dieser selbst und nicht von dem Menschen bestimmt werden. Schiller wollte offenkundig diesen menschlichen Wesenszug der Hybris als schuldhaften Forscherdrang in Gedichtform thematisieren.

Allerdings ist eine Mitschuld des Ägypters nicht ganz von der Hand zu weisen. Er stachelt die Neugierde des Jünglings vielmehr noch an, indem er nicht konkretisiert, worin die Strafe für den Gebotsbruch genau besteht. Die Konsequenz aus der Aufdeckung des Schleiers solle lediglich das Sehen der Wahrheit sein. Ob noch eine andere Strafe von Seiten der Göttin damit verbunden sein wird, läßt der Ägypter unbeantwortet. Er weist nur ausschließlich auf die Unverletzlichkeit des Gebots und auf die strafende Instanz im Innern des Jünglings hin, die dieser wohl eher zu fürchten habe als eine direkte Strafe der Göttin selbst: sein Gewissen. Auf der anderen Seite kann der Ägypter möglicherweise auch nicht genau wissen, welche Strafe der Göttin den Frevler erwarten wird, da er sich selbst einer solchen Situation noch nie ausgesetzt hat, denn nach der höheren Wahrheit hat er gar kein Verlangen. Gebot ist für ihn einfach Gebot, das einzuhalten ist. Schiller kam es anscheinend darauf an, das gegensätzliche Verhalten eines Griechen und eines Ägypters herauszustellen. Diese unterschiedliche Haltung untersucht Jan Assmann genauer.46 Assmann unterscheidet verschiedene Arten von Geheimnissen. Er sagt, dem Neugierigen stellten sich konstruktive Geheimnisse eben aufgrund seiner Neugier, oder anders gesagt: Erst dem Neugierigen werde die Welt zum Geheimnis. Ein substantielles Geheimnis sei der Sache eigen und unerforschbar. Diese theoretische Neugier, die anders als die praktische Neugier nur insofern einen Nutzen für den Wissbegierigen hat, als er eben dieselbe befriedigen kann, wird den Griechen zugeschrieben. Ägypten hatte da eine andere Welt- und Geisteshaltung. Die Ägypter staunten über die Welt, anstatt sie zu deuten. Sie kannten nur die praktische Neugier, die allein auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse ausgerichtet war. Diese sei dem Mensch mit dem Tier gemeinsam und diene allein dem Selbsterhaltungstrieb.

Jan Assmann erklärt die von der der Griechen abweichende Haltung der Ägypter folgendermaßen: Da die Ägypter den Kosmos als Botschaft verstehen wollten, kamen sie nicht darauf, sie zu erklären. Für sie war die Welt kein Geheimnis, secretum, sondern etwas Unerforschliches, ein mysterium. Der Ägypter ist staunend aufmerksam gegenüber der Natur, um sie verstehen zu können, der Grieche neugierig. Den Ägypter zeichnet Schiller folglich als aufmerksam, andächtig und anbetend. Diese Aufmerksamkeit, gerade weil sie Abstand wahrt, bewahrt letzten Endes das Geheimnis, anstatt es zu zerstören.[47]

[...]


[1] Klaus Lindemann: Das Rätsel des „Es“: Ludwig Tieck: Der Runenberg. In: Wege zum Wunderbaren. Romantische Kunstmärchen und Erzählungen, Paderborn 1997, S.32.

[2] Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München, Wien 2005.

[3] Ders. (2005) S.11f.

[4] Ebenda, S.85.

[5] Ebenda, S.87.

[6] Ebenda, S.62.

[7] Pamina wird auch nicht mit dieser Art von Schleier in Verbindung gebracht. Dies zeigt, daß ihre Initiation nie vorgesehen war, sondern eher spontan erfolgte. s. Assmann (2005) S. 283.

[8] Tatsuyuki Kamio: Wille zur Entschleierung oder Begierde nach Wahrheit- zum Mythos von Isis. In: Kritische Revisionen- Gender und Mythos im literarischen Diskurs, München 1998, S. 273.

[9] Assmann (2005) S.18, 74.

[10] Ebenda, S. 21, 74, S.132f.: Nach der Bruchtheorie hätten Mozart und Schikaneder Die Zauberflöte ursprünglich als Zaubermärchen geplant, mit der Königin der Nacht als guter Fee und Sarastro als bösem Dämon, sich aber dann mitten in der Arbeit eines besseren besonnen und die Handlung auf die Ebene des Mysteriums und der Freimaurerei umgeleitet. Eine interessante Variante bietet Brigid Brophy, die der Auffassung ist, die Autoren seien von einem Freimaurer-Mythos auf den anderen umgeschwenkt.

[11] Ebenda, S.28,64.

[12] Ebenda, S.25ff.

[13] Ebenda, S.133ff.

[14] Ebenda, S.18; 72;216.

[15] Ebenda, S.90f.

[16] vgl. S. 26f. dieser Arbeit

[17] Assmann (2005) S.118f.

[18] Ebenda, S.89ff.

[19] Ebenda, S.162-166.

[20] Ebenda, S.67.

[21] Ebenda, S.287;174.

[22] Ebenda, S.217; 220.

[23] Ebenda, S.24,54.

[24] Ebenda, S.288-291.

[25] Ebenda, S.90.

[26] Ebenda, S.283;66.

[27] Ebenda, S.54.

[28] Ines Schill: Von Alexander bis Zoe. 4000 Vornamen aus aller Welt, Niedernhausen 1994.

[29] vgl. Assmann (2005) S.91 mit Fußnote 19. Er vermutet, daß sich Tamino von Thamos ableitet, dem Titelhelden aus einem Stück Tobias Philipp von Geblers. Die andere Variante klingt vom Kontext her plausibler.

[30] Jan Assmann: Das verschleierte Bild zu Saïs. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe, Stuttgart, Leipzig 1999, S.12.

[31] Assmann (1999) S.9.

[32] Ebenda, S.12f.

[33] Klatt, Norbert: "... des Wissens heisser Durst" : ein literarkritischer Beitrag zu Schillers Gedicht 'Das verschleierte Bild zu Sais' S . 98-112. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29, Stuttgart 1985, S.99.

[34] Assmann (1999) 19f.

[35] Christine Harrauer"»Ich bin, was da ist ...«. Die Göttin von Sais und ihre Deutung von Plutarch bis in die Goethezeit". Sphairos. Wiener Studien. Zeitschrift für Klasische Philologie und Patristik 107/108. Wien, 1994/95, S. 345.

[36] vgl. Assmann (1999) S.34, der als Todesdatum Warburtons das Jahr 1778 anführt.

[37] Klatt (1985) S.100.

[38] Assmann (1999) S.28.

[39] Ebenda, S.24.

[40] Jan und Aleida Assmann: Schleier und Schwelle, München 1999,S. 59, Anm.27.

[41] Assmann (1999) S.23;33.

[42] Harrauer (1994) S.337.

[43] vgl. Kamio, S.276.: Nachfolgendem Satz „Schiller liegt weniger an der Frage, ob der Mensch den Schleier aufheben kann, als vielmehr daran, ob der Mensch den Schleier aufheben darf“, kann man nur teilweise zustimmen, denn es hört sich so an, als sei die absolute Erkenntnis sehr wohl bei richtigem Verhalten erlangbar. Doch dem ist ja nicht so. So kann man höchstens sagen, daß bei Schiller der moralische Aspekt zwar im Vordergrund steht, gleichzeitig aber auch die erkenntnistheoretische Aporie thematisiert wird.

[44] Assmann, S.10f.

[45] Harrauer (1994) S.348-52.

46 Assmann, Schwelle und Schleier, S.45-48.

[47] Ebenda, S.58-64.

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Das Märchen von der 'verschleierten' Frau. Metamorphosen eines Motivs von Schiller bis Hofmannsthal
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
110
Katalognummer
V133433
ISBN (eBook)
9783640400355
ISBN (Buch)
9783640874743
Dateigröße
712 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen, Frau, Metamorphosen, Motivs, Schiller, Hofmannsthal, Thema Märchen
Arbeit zitieren
Heike Dilger (Autor:in), 2006, Das Märchen von der 'verschleierten' Frau. Metamorphosen eines Motivs von Schiller bis Hofmannsthal, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133433

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