Soziale Sicherheit und sozialer Wandel - der konservative Wohlfahrtsstaat im Vergleich


Vordiplomarbeit, 2003

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Sozialstaat aus soziologischer Perspektive
2.1 Soziale Sicherheit
2.2 Die Träger Sozialer Sicherheit

3. Sozialstruktureller Wandel
3.1 Familie
3.2 Demographischer Wandel
3.3 Wandel der Arbeitsmarktstrukturen

4. Schlussteil

5. Schaubild und Tabelle

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Kanzler sagt dem Wohlfahrtsstaat Ade“[1] überschreibt der Tagesspiegel seinen Leitartikel zur Regierungserklärung der rot-grünen Koalition, wohl nicht ganz frei von Ironie. Dennoch gibt die Überschrift prägnant die Stoßrichtung des öffentlichen Diskurses um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme wieder. Unverholen bedienen sich vor allem Neoliberale, Ökonomen und Unternehmerverbände einer Krisenrhetorik und zeichnen die Zukunft des Wohlfahrtstaates in apokalyptischen Farben. Meist folgt dann der empfohlenen Therapie der wohlfahrtsstaatlichen Krise die passende Diagnose. Zunehmend wird dessen Konzept argumentativ ad absurdum geführt, indem ihm unterstellt wird, er beschäftige sich damit die Probleme zu lösen die er selber produziert z.b. die hohe Arbeitslosigkeit. Hinter solchen Kassandrarufen verbirgt sich ein verteilungspolitischer Konflikt um ein langsamer wachsendes Sozialprodukt das von einer geringer werdenden Zahl an Erwerbstätigen produziert wird. Von einer Krise könnte nur gesprochen werden, wenn tatsächlich, wie es die Überschrift im Tagesspiegel suggeriert, das baldige Ende des Wohlfahrtsstaates bevorstehen würde. Dies ist natürlich nicht der Fall, jedoch steht der Sozialstaat[2] vor unabweisbaren Herausforderungen. Meinen Fokus will ich hier vor allem auf drei Sozialstrukturelle Wandlungsprozesse legen die m.E. die größten Implikationen für die zukünftigen Chancen soziale Sicherheit zu erhalten. Zum einen beschreibe ich den Wandel der Familie als einen elementaren Träger sozialer Sicherheit und ihren Abschied von der bürgerlichen Kernfamilie. Der zweite, davon nicht unabhängige Wandlungsprozess ist der demographische Wandel, der aus einem Rückgang der Fertilität und einer Zunahme der Lebenserwartung resultiert. Hier werde ich mich vor allem an den entsprechenden Kapiteln des Buches die politische Ökonomie des Sozialstaates von Heiner Ganßmann halten. Der dritte Strang des sozialstaatlich relevanten strukturellen Wandels, ist der Wandel der Arbeitsmarktstrukturen. Das Stichwort ist hier der Übergang von der industriellen zur post-industriellen Gesellschaft. Hier werde ich mich vor allem auf den Text von Iverson/Wren the trilemma of the service economy beziehen. Die genannten sozialstrukturellen Verschiebung, natürlich in unterschiedlichem Ausmaß, sind in allen hochentwickelten Wohlfahrtstaaten (welche weitgehend deckungsgleich mit den 24 OECD-Ländern sind) zu beobachten. Die Frage inwieweit hier Globalisierungseffekte wirksam sind, würde den Umfang dieser Arbeit sprengen. Wenn man jedoch Globalisierung nicht als weltweiten Differenzierungsprozess, sondern vor allem als Zunahme des Finanz- und Warenverkehrs versteht, relativiert sich möglicherweise der durch die Globalisierung verursachte Druck auf den Sozialstaat, der sich unter solchen Stichworten wie „Standortdebatte“ oder „Lohndumping“ manifestiert. Denn der größte Jobmotor, vor allem im Niedriglohnbereich, ist der Dienstleistungssektor, und der ist kaum in den Welthandel involviert[3], was natürlich an der immateriellen Qualität dieses Wirtschaftsgutes liegt. Um die Herausforderungen und Möglichkeiten des deutschen Wohlfahrtsstaates konservativer Prägung, auf den ich mich konzentrieren will, zu begreifen ist es dennoch sinnvoll diesen auf internationaler Ebene mit den sozialdemokratischen und liberalen Wohlfahrtsstaatstypen[4] zu kontrastieren. Hier Folge ich wie Iverson/Wren der Typologie Gosta Esping-Andersons. So hoffe ich zeigen zu können, wie der deutsche Wohlfahrtsstaat mit den sozialstrukturellen Wandlungsprozessen konstruktiv umgehen kann, ohne seine integrative Kraft zu verlieren.

2. Der Sozialstaat aus soziologischer Perspektive

Historisch kann der Sozialstaat als Antwort auf Urbanisierungs-, Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse gesehen werden. Die mit einer zunehmenden Arbeitsteilung einhergehende Entwicklung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, konfrontierte die westlichen Nationalstaaten mit massiven Interessenkonflikten und neuen Bedürfnissen nach sozialer Sicherheit. Ein Beispiel für die zunehmende gesellschaftliche Desintegration auf der Mikroebene, ist die Auflösungen der dörflichen Sippenverbände, die mit einer Herauslösung junger Männer[5] aus der familialen Kontext einhergeht. Auch christlich-karitative Einrichtungen büßen ihre Fähigkeit zum Schutz vor sozialen Notständen im Zuge der Säkularisierung ein. Im 19.Jhd. wird außerdem deutlich, dass auf neue Formen der materiellen Reproduktion eine adäquate Antwort gefunden werden muss. Unter kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen wird die Arbeitkraft zur Ware, von einer Pauperisierung sind vor allem die Bevölkerungsgruppen bedroht, dessen Arbeitskraft einen geringen oder keinen Warenwert hat, also Frauen, Kinder und Alte. Politisch bedeutend ist aber vor allem die „Arbeiterfrage“ dessen Antwort eine Entschärfung des Konfliktes Kapital/Arbeit sein musste. Im deutschen Reich wurde darauf vergleichsweise früh mit den Sozialgesetzen reagiert. Das von Bismarck entworfen Konzept sozialer Sicherung mit einer Kranken-, Unfall-, Renten- und Invaliditätsversicherung, bei dem sich die Leistungen des Sozialstaates konzentrisch um die Lohnarbeit entfalten, hat noch heute seine Gültigkeit in der BRD. Der moderne Wohlfahrtsstaat in dem die sozialen Sicherungssysteme institutionell[6] verankert sind und tendenziell die Gesamtbevölkerung erfassen, entstanden in den meisten OECD-Ländern nach dem zweiten Weltkrieg. Die spezifischen Kombination von Demokratie und Kapitalismus bedingt in diesen Ländern drei Sphären der Erzeugung sozialer Sicherheit, die ich im folgenden Kapitel erläutern werden. Zuerst werde ich jedoch erläutern was unter sozialer Sicherheit zu verstehen ist.

2.1 Soziale Sicherheit

Die Frage, inwieweit es einem Gemeinwesen gelingt sozialer Sicherheit zu stabilisieren, betrifft nicht nur die modernen Industriegesellschaften, sie gehört zur conditio humane, sie ist sozusagen eine anthropologische Grundkonstante. In der modernen Sozialpolitik wird „sozial Sicherheit“ gerne auch als Kampfbegriff benutzt. Das soziale Sicherheit eine Wertidee ist und deswegen kein praktisches Handlungsziel sein kein, darauf weist F.X. Kaufmann in seinem Buch Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem hin. Er unterscheidet drei Dimensionen sozialer Sicherheit:

Erstens eine retrospektive Auffassung von „Sicherheit und Geborgenheit“, die als Sicherheit nur einen zustand umfassender statischer Ordnung anerkennen will, in der die menschliche Psyche durch sichtbare Außengaranten, die „ganzheitliche Ordnung“ repräsentieren, stabilisiert wird. Zweitens eine pragmatische Auffassung von „Systemsicherheit“ als herstellbare, berechenbare Verfügbarkeit von Mitteln zu beliebigen Zwecken und drittens eine psychologische Auffassung von Selbstsicherheit als Leitbild subjektiver Identität.[7]

Nur die zweite Dimension von sozialer Sicherheit lässt sich direkt mit einem staatlichen System sozialer Sicherung gewährleisten, jedoch nur in Kombination mit einer Ökonomie, die entsprechenden materiellen Güter produziert. Bei diesem sehr weit gefassten Begriff von sozialer Sicherheit hat deren subjektive Dimension eine entscheidende Bedeutung. Diese ist natürlich nicht unabhängig von der „Verfügbarkeit von Mitteln“, geht jedoch darüber hinaus. Die Frage nach „dem sozialen Wandel und der sozialen Sicherheit“ ist also auch die Frage danach, inwieweit trotz des

Individualisierungsprozesses, der sich z.B. in einer Zunahme der räumlichen Mobilität, Dynamisierung des Arbeitslebens oder in der Instabilität der Ehen äußert, subjektive Dimensionen sozialer Sicherheit aufrechterhalten werden können.[8] Im Folgen werde ich den Bergriff „sozialer Sicherheit“ im Sinne der o.g. Systemsicherheit verwenden und bei einer differierenden Verwendung darauf hinweisen.

2.2 Die Träger Sozialer Sicherheit

Der Staat kann also soziale Sicherheit im materiellen Sinne gewährleisten, ist aber auch in der Dimension der „Systemsicherheit“ auf weitere Träger sozialer Sicherheit angewiesen, die in verschiedenen Sphären operieren. Notwendigerweise müssen die zur sozialen Sicherung verwendbaren Güter in einer Produktionssphäre erst hergestellt werden. In der Produktionssphäre ist die unternehmerische Freiheit garantiert und Waren werden in freien Tauschaktionen generell nur dann getauscht, wenn eine win-win Situation besteht. Dies gilt grundsätzlich auch für den Arbeitsmarkt, die Warenförmigkeit der Arbeit wird aber durch sozialstaatliche Verteilungsprozesse in unterschiedlichem Maße wieder relativiert[9]. Der Arbeitsmarkt sollte, um soziale Sicherheit zu gewährleisten, ein hohes Beschäftigungsniveau realisieren und so das Risiko des Einkommensausfalles minimieren. Da die Ressourcenallokation der Produktionssphäre grundsätzlich nur dem Leistungsprinzip unterliegt, organisiert der Staat, unter dem Druck seines Gewaltmonopols, in der Verteilungssphäre eine Ressourcenallokation, die auch den nicht erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen (Alte, Kinder, Behinderte, Arbeitslose) ein Einkommen sichert. Diesen Einkommenstransfer kann man auch als vertikale oder horizontale Umverteilung betrachten. Unter horizontaler Umverteilung versteht man einen Ausgleich der Einkommensverteilung zwischen den Phasen Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit, also der Kindheit, der Ausbildung, im Falle von Krankheit und im Alter. Unter vertikaler Umverteilung versteht man die Umverteilung von Einkommen zu einem bestimmten Zeitpunkt, im Sinne einer Ungleichheitsreduktion, z.b. von Erwerbstätigen zu Arbeitslosen. Die hohe Akzeptanz sozialer Sicherung erklärt sich vor allem aus der Perspektive der horizontalen Umverteilung. In der Reproduktionssphäre soll die Familie in der sozialstaatlichen Konzeption neben den Reproduktion- und den Sozialisationsleistungen auch ein Versorgungsverbund auf der Mikroebene sein und neben gegenseitiger Unterstützung mit Sach-, Finanz- und Dienstleistungen, die aus moralischen Verpflichtungen erfolgen und nicht dem Nutzenkalkül der Marktlogik folgen, auch die subjektive Dimension sozialer Sicherheit aufrechterhalten. Verschiedene Wohlfahrtsstaaten setzen ihre Schwerpunkte auf unterschiedliche Sphären der Gewährleistung sozialer Sicherheit, dies wird welfare-mix genannt. In den USA wird beispielweise die gesundheitliche Versicherung, in hohem Maße der Marktlogik folgend, mittels privater Versicherung organisiert. In Deutschland wird Sozialhilfe nur dann gewährleistet, wenn keine finanzielle Hilfe durch Familienmitglieder möglich ist. In Schweden bekommt jeder Bürger unabhängig vom Markteinkommen ein vergleichsweise generöses staatliches Grundeinkommen. Esping-Anderson hat in seinem Buch the three worlds of welfare capitalism auf deskriptiver Ebene anhand des Dekommodifizierungs- und Stratifizierungsniveaus sozialer Sicherungssysteme drei Wohlfahrtstaatstypen herausgearbeitet. „Diese Typologie lässt sich, obgleich anders gebildet, zunächst einfach so interpretieren, dass liberale Sozialpolitik eher zu Marktlösungen von Sicherheitsproblemen tendiert, konservative mehr an der Erhaltung und Stärkung der traditionellen Familienfunktion interessiert ist und sozialdemokratische Sozialpolitik vorzugsweise staatliche Instanzen einsetzt.“[10]

[...]


[1] Tagesspiegel, 30.10.02

[2] teilweise wird der Begriff Sozialstaat in Abgrenzung vom Wohlfahrtstaatsbegriff benutzt der das umfangreiche skandinavischen System staatlich organisierter sozialer Sicherung bezeichnet. Ich werde die Begriffe synonym verwenden.

[3] Nur 2% der Produktion des Dienstleistungssektors werden exportiert, im Vergleich zu 50% im Industriesektor. The trilemma of service Economy S.508

[4] zu den liberalen Wohlfahrtstaaten zahlen nach Esping-Anderson (USA, Kanada, Großbritannien, Australien) zu den konservativen (Östereich, Frankreich, Italien, Niederlande Deutschland, Belgien und zu den sozialdemokratischen (Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen)

[5] Aichinger, H. Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik (S.39)

[6] In Deutschland druckt sich die Verpflichtung des Staates auf die Wohlfahrt seiner Bürger im GG §20 und §28 aus. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat“. Nun lässt sich die Sozialstaatlichkeit nicht allein aus der Verpflichtung auf ein Gemeinwohl erklären. Wenn man im Sinne eines „methodologischen Individualismus“ Nutzenmaximierende Akteure voraussetzt, ist es fraglich wie es überhaupt zu staatlichem handeln kommen kann. Einen Erklärungsansatz bietet Mancur Olsen in the logic of collective action. Hier zeigt er, dass die Bereitstellung öffentlicher Güter nur von kollektiven Akteuren unter dem Einsatz von Zwang gewährleistet werden kann.

[7] F.-X. Kaufmann Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem (S.341)

[8] Tatsächlich diagnostizieren viele soziologische Gegenwartsdiagnosen, als Folge der Zunahme an Kontingenzen in hochdifferenzierten Gesellschaften, einen Zerfall solch subjektiver Dimensionen sozialer Sicherheit. (z.B Richard Sennet der flexible Mensch oder Peter Gross’ Multioptionsgesellschaft)

[9] Der Fachbegriff hierfür ist der „Grad der Dekommodifizierung“

[10] H. Ganßmann die politische Ökonomie des Sozialstaates (S.27)

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Soziale Sicherheit und sozialer Wandel - der konservative Wohlfahrtsstaat im Vergleich
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Die politische Ökonomie des Sozialstaats - Heiner Ganßmann
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
23
Katalognummer
V13329
ISBN (eBook)
9783638190145
Dateigröße
430 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Mit Tabelle und Schaubild
Schlagworte
Esping-Anderson; Wohlfahrtsstaat; Sozialstaat; Iverson; soziale Sicherheit
Arbeit zitieren
Richard Heidler (Autor:in), 2003, Soziale Sicherheit und sozialer Wandel - der konservative Wohlfahrtsstaat im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13329

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