Charlotte Brontes "Jane Eyre" als kritische Auseinandersetzung mit dem Rollenmodell des "Angel in the House"


Bachelorarbeit, 2009

37 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Rollenmodell des „Angel in the House“ im viktorianischen Zeitalter

3. Verschiedene Varianten des Modells am Beispiel ausgewählter Frauenfiguren
3.1 Helen Burns – die Inkarnation des selbstlosen Engels
3.2 Miss Temple
3.3 Blanche Ingram – die begabte Schönheit

4. „I am not an angel“ – Janes Weg zu ihrer eigenen Rolle
4.1 Vom Enfant terrible zur disziplinierten jungen Gouvernante
4.2 Als Gouvernante in Thornfield Hall
4.2.1 Erkenntnisse einer emanzipierten Frau
4.2.2 Die Begegnung mit der Konkurrentin
4.2.3 Ein unverhoffter Heiratsantrag
4.2.4 „Mr. Rochester, I will not be yours“ – Jane folgt ihren moralischen Prinzipien
4.3 Die Rückkehr als „independent woman“ und „a marriage between equals“ in Ferndean

5. Schlussbetrachtung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Frauen sitzen in den Chefetagen großer Unternehmen oder nehmen hohe Positionen in der Regierung ein. Sie überholen Männer in vielen Bereichen der Bildung und bringen Karriere und Kinder unter einen Hut. Noch nie zuvor haben es so viele „Alpha-Mädchen“ (siehe „Der Spiegel“, 11.06.2007, S.56) in hohe Positionen geschafft und ein Ende ist nicht abzusehen. Heute hat die Macht auf dem Globus ein weibliches Gesicht. Man denke nur an Angela Merkel, die erste Bundeskanzlerin Deutschlands, Indra Nooyi, die Chefin des Getränkekonzerns Pepsi, Hillary Clinton, US-Außenministerin – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Doch nach wie vor existieren Unterschiede in den Gehältern und Entwicklungsmöglichkeiten, was natürlich auch von Land zu Land unterschiedlich ist. So gibt es immer noch Länder, in denen sich die Frauen den Männern unterzuordnen haben, kein Auto fahren und erst recht nicht für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen dürfen, wohingegen es in den westlichen Ländern zunehmend frauenfreundliche Regelungen gibt, wie beispielsweise in Norwegen, wo sogar gesetzlich festgelegt wurde, dass mindestens 40% der Aufsichtsräte in Firmen weiblich sein müssen.

Heute ist in vielen europäischen Ländern fast die Hälfte der Studenten weiblich. Die Karriere steht im Vordergrund. Ein Kinderwunsch lässt sich nur dann erfüllen, wenn es der Beruf erlaubt. Im Leben steht nicht mehr die Ehe im Mittelpunkt, sondern Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung. Wenn sich die Frau doch für Ehe und Familie entschließen sollte, so ist es – im Gegensatz zu den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts – zumeist völlig selbstverständlich, nach der Eheschließung und Geburt einer oder mehrerer Kinder die Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Dass Frauen immer mehr in die von Männern dominierten beruflichen Positionen drängen, zeigt sich auch darin, dass das „Forbes Magazine“ seit 2004 auch eine Liste der 100 mächtigsten Frauen veröffentlicht. Frauen managen nicht mehr bevorzugt die Familie, sondern Firmen und Organisationen, und nebenbei noch die Familie. Auch gibt es Familien, in denen der Mann sich um die Kinder kümmert, weil die Frau eine besser bezahlte Stelle hat und/oder er mehr Zeit mit den Kindern verbringen will. Man respektiert ihre Entscheidung für oder gegen eine Familie und nennt sie auch nicht mehr Rabenmütter, weil das Kind tagsüber in eine Krippe gebracht wird. Es gehört einfach zum Alltag dazu.

Doch es war ein langer Weg, den die Frauen zum Erreichen von Gleichheit und Unabhängigkeit gehen mussten. Man unterscheidet hierbei 3 Phasen (vgl. Internetquelle: Meyers Lexikon). Die erste Phase oder Welle der Frauenbewegung von Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts hatte das Ziel, das Frauenwahlrecht und das Recht auf höhere Bildung durchzusetzen. Mit Erfolg: 1906 wurde in Finnland, als erstem europäischem Land, das Frauenwahlrecht eingeführt, weitere Länder folgten in den nächsten Jahren. Auch wurde Frauen Zugang zu den gleichen Studienabschlüssen wie Männern ermöglicht, wenn auch nicht gleich an allen Universitäten. In Oxford war es erst ab ca. 1920 möglich, in Cambridge über zwanzig Jahre später (Winther 10).

Die zweite Welle ab etwa 1960 hatte zum Ziel, die Gleichstellung von Frauen und Männern im Beruf und in der Ehe zu erreichen, Schutz vor gewalttätigen Übergriffen in der Familie gesetzlich zu verankern und die Reform des Ehe- und Familienrechts durchzuführen. Auch hier konnten wesentliche Erfolge erzielt werden: Frauen wurden mehr Rechte im Ehe- und Familienleben zugestanden. Im Falle einer Scheidung waren sie von nun an finanziell abgesichert, sie hatten das Recht auf Abtreibung und auch bei einem Gewaltakt gegen sie oder ihre Kinder drohte dem Mann eine Strafe. Frauen konnten ab diesem Zeitpunkt eine Tätigkeit ausüben, ohne vorher den Mann um Erlaubnis fragen zu müssen. Dadurch haben sich ihre beruflichen Möglichkeiten weitgehend verbessert.

Die letzte Phase der Frauenbewegung begann in den 90er Jahren in den USA. Viele Frauen erkannten, dass die Gleichheit im Beruf, vor allem beim Lohn, noch nicht gegeben war und sich Beruf und Familie in Einem nicht realisieren lassen konnten. Dass es seit der dritten Welle immense Fortschritte in der Emanzipation der Frau gab, verdeutlichen die eingangs erwähnten Beispiele.

In Großbritannien setzte die Diskussion um die Gleichbehandlung der Frau Ende des 18. Jahrhunderts ein. Hervorzuheben ist hier die Schrift „A Vindication of the Rights of Women“ von Mary Wollstonecraft. Die Kritik am seinerzeit vorherrschenden Rollenmodell von Frau und Familie wurde auch in der Literatur des viktorianischen Zeitalters aufgegriffen. So verfolgte die englische Schriftstellerin Charlotte Brontë mit ihrem 1847 erschienen Bildungsroman Jane Eyre[1] ähnliche Ziele: Die Forderung nach Gleichberechtigung, finanzieller Unabhängigkeit und nach höheren Bildungs-möglichkeiten für Frauen wurde durch die fiktive Erzählerprotagonistin Jane Eyre dargestellt. Charlotte Brontё machte auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam, die es in ihren Augen unbedingt zu korrigieren galt. Was ihren Roman auszeichnet, ist das feministische Gespür für die Machtstrukturen des viktorianischen Patriarchats und die massive Kritik an den normativen Geschlechtsrollenbildern dieser Gesellschaft.

Charlotte Brontë lebte in einer Zeit fernab jeglicher Gleichberechtigung der Geschlechter. In dieser Zeit war der Heiratsmarkt noch attraktiver als der Arbeitsmarkt und auch das Selbstverständnis der Frau war nicht mit dem heutigen zu vergleichen. So verlangte diese Ungleichheit der Geschlechter auch von Charlotte Brontë, den Roman unter dem männlichen Pseudonym Currer Bell[2] zu veröffentlichen, denn in einer Welt, in der die Literatur hauptsächlich männlich geprägt war, hätte man einem, von einer Autorin geschriebenen, gesellschaftskritischen Werk kaum Beachtung geschenkt. Ihre Figur Jane Eyre hatte andere Vorstellungen von einem ehelichen Leben und von der Rolle der Frau. Sie ist eine junge emanzipierte Frau, die einen außerordentlichen Drang zur Unabhängigkeit verspürt, ihre individuellen Ziele und Wünsche ehrgeizig verfolgt, sich nicht von den Männern, die ihr im Laufe ihres Entwicklungsprozesses begegnen, in ein bestimmtes Rollenverhalten hineinpressen lässt und am Schluss sagen kann, dass sie zu einem für sie befriedigendem Ergebnis gekommen ist.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, aufzuzeigen, dass die Protagonistin Jane Eyre mit dem damals vorherrschenden Rollenmodell bricht und sowohl in ihrer Gedankenäußerung als auch in ihrem Handeln emanzipierte Verhaltensweisen verfolgt. Zunächst gilt es, das gängige Rollenmodell in der viktorianischen Gesellschaft herauszuarbeiten und anhand bestimmter Figuren, denen Jane während ihres Bildungsprozesses begegnet, ausgewählte Facetten im Detail zu diskutieren. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf Janes Freundin Helen Burns, die Schulleiterin Ms. Temple und ihre vermeintliche Konkurrentin Blanche Ingram gelegt. Der Schwerpunkt der Arbeit wird in der Beschäftigung Janes mit den verschiedenen Varianten des „Angel in the House“-Modells wie auch in der Auseinandersetzung mit Vertretern des Patriarchats liegen. Als Konsequenz daraus ergibt sich Janes eigener Lebensweg.

2. Das Rollenmodell des „Angel in the House“ im viktorianischen Zeitalter

Im Zuge der Industriellen Revolution kam es im 19. Jahrhundert zu einem gesellschaftlichen Wandel, der, ausgehend von der patriarchalischen Mittelschicht, durch eine strenge Gesellschaftsordnung gekennzeichnet war. Von klein auf sollten Mädchen gemäß der viktorianischen Vorstellung auf die Rolle der Frau vorbereitet werden. Dazu gehörte die „Unterdrückung und Kontrolle frühkindlicher Affekte“ (Honegger 28) und die Erziehung zu Selbstdisziplin, Passivität und Selbstverleugnung. Die Äußerung eigener Gefühle und Wünsche galten als verpönt und sollten von klein an unterdrückt werden.

Aus der Obhut der Mutter entlassen, kamen die Mädchen oftmals in eine Institution, in der sie allerlei Fähigkeiten erlernten, um auf dem Heiratsmarkt einen angemessenen Partner zu finden. Diese Fähigkeiten, auch „female accomplishments“ genannt, bestanden in der Regel aus dem Erlernen einer oder mehrerer Fremdsprachen, Lesen, Malen, Tanzen und Singen, verschiedene Näharbeiten, der Beherrschung eines Musikinstruments (häufig das Piano) und auch dem Erlernen von wohlgeformter Konversation (Loesser 268). Zusätzliche Fähigkeiten waren natürlich von Vorteil; und wenn die Frau noch dazu hübsch war, hatte sie gute Chancen einen Mann aus einer höheren Gesellschaft zu ehelichen. All das sollte sie natürlich auch geschickt in Szene zu setzen wissen. Religiöse Tugenden wie Selbstverzicht, Frömmigkeit und Altruismus wurden konsequent befolgt und sollten auf das spätere Familienleben vorbereiten. Die sexuelle Unversehrtheit vor der Ehe wurde als gegeben vorausgesetzt.

Nachdem die jungen Frauen die Schule erfolgreich absolviert hatten, wurden sie entweder gleich verheiratet oder traten einen Beruf als Lehrerin oder Gouvernante an, um sich ein Mindestmaß an finanzieller Unabhängigkeit zu verschaffen. Ein höherer Bildungsabschluss war zu jener Zeit für eine Frau nicht vorgesehen, ebenso wenig wie ein Besuch der Universität ausgeschlossen war. Höherwertige Bildung war ausschließlich den Männern vorbehalten. Sobald ein geeigneter Ehemann gefunden war, häufig durch die Eltern arrangiert, wurde die berufliche Tätigkeit aufgegeben, um sich ganz auf die Rolle als Ehefrau und Mutter zu konzentrieren – das höchste und einzige Lebensziel im viktorianischen Zeitalter. Nach gängiger Sicht war die Frau ein Mängelwesen (Rublack 66), eine „relative creature“, die sich erst durch die Verbindung zum Mann definierte (Basch 1974). Der Frau wurde eine Rolle zugedacht, für die man den Begriff des „Angel in the House“[3] prägte: Eine sich völlig selbstlos der Familie aufopfernde, vor Reinheit strotzende, engelsgleiche Frau, die dem Mann, der einer harten und skrupellosen Wirklichkeit der industriellen Revolution ausgesetzt war, einen Ort des Friedens bot und ihm vor dem Sittenverfall beschützte. Nach John Ruskin war das Zuhause „A sacred place, a vestal temple“ (Houghton 343). Das Heim galt als Zufluchtsort für den Mann, eine Stätte der Tugend, wo er von seiner Frau liebevoll und aufopfernd umsorgt wurde, aber auch zu ihr aufschaute und hoffte, von ihrer Reinheit zehren zu können.

Der öffentliche Bereich (public sphere) wurde der Frau ganz vorenthalten, um sie vor den Gefahren der Außenwelt zu schützen. Dafür erhielt sie einen eigenen Bereich (domestic sphere), wo sie auch mal aktiv sein durfte. Zu ihren Aktivitäten zählte, in liebevoller Hingabe den Haushalt zu leiten, sich ausschließlich um die Bedürfnisse der Familie zu kümmern und den Mann am Abend zu verwöhnen. Hierbei konnte sie nun ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Der endgültige Höhepunkt im Leben einer Frau war mit der Geburt ein oder mehrerer Kinder erreicht.

Dieses Idealbild war in sich jedoch widersprüchlich: Als „Angel in the House“ oder „Woman on the pedestal“ übertrug man der Frau die Regentschaft im häuslichen Bereich und vermittelte ihr das Gefühl einer verantwortungsvollen Aufgabe. Gleichzeitig stellte dies auch eine Erniedrigung dar, weil klar wurde, welche Position für sie vorgesehen war. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit besaß die Frau keinerlei Macht und war dem Mann noch immer untergeordnet. Trotz ihrer Verantwortung im häuslichen Bereich, waren ihr sämtliche Rechte vorenthalten: Sie durfte sich nicht scheiden lassen und dürfte auch kein Vermögen besitzen. Ein eventuelles Vermögen, in die Ehe eingebracht, wurde sofort dem Mann übertragen (Winther 8).

Aufgrund der finanziellen Abhängigkeit konnte der Mann von der Frau alles verlangen, was ihm beliebte, vor allem Gehorsamkeit. Er stand im Mittelpunkt, ihn galt es zu beglücken und sich seiner anzunehmen, eigene Bedürfnisse und Wünsche waren unbedeutend, es wurde stets die Meinung des Mannes vertreten (Winther 8). Eine individuelle Selbstverwirklichung auf weiblicher Seite war nicht denkbar. Die Frau durfte den Mann nie in seiner Selbstwahrnehmung herausfordern, sondern ihm vielmehr das Gefühl vermitteln, ihr überlegen zu sein. Konnte sie seine sexuellen Bedürfnisse nicht befriedigen, durfte er auf die Prostitution zurückgreifen. Zugleich jedoch sollte sie ihm helfen, seine Triebe zu unterdrücken, was zur Folge hatte, dass ihre sexuellen Bedürfnisse ganz außen vor gelassen wurden (Rublack 68, 69).

Das Zulassen von Emotionen galt als unschicklich, eher selten kam es zu einer Liebesheirat. Der Ehemann wurde in den häufigsten Fällen von den Eltern ausgesucht, wer dagegen verstieß, hatte mit einem Ausschluss aus der Familie zu rechnen. Man ging davon aus, dass die Liebe sich mit der Zeit von alleine einstellte. Zurückhaltung und Affektkontrolle, wie man es in früher Kindheit erlernt hatte, wurden vom Mann hoch geschätzt. Leidenschaftliche Ausbrüche dagegen galten als unnatürlich und wurden in den häufigsten Fällen als krankhaftes Verhalten gedeutet.

Dieses Rollenverhalten war das einzige Modell, das die patriarchalische Gesellschaft für eine verheiratete Frau aus der Mittelschicht vorsah und meist blieb ihr keine andere Möglichkeit, als es zu akzeptieren.

3. Verschiedene Varianten des Modells am Beispiel ausgewählter Frauenfiguren

Nachstehend soll auf drei wichtige Kontrastfolien Janes eingegangen werden, die alle bestimmte Facetten des „Angel in the House“-Modells verdeutlichen. Der Roman beschreibt auch andere Frauenfiguren, deren Einfluss auf Janes Entwicklung jedoch von geringerer Bedeutung ist.

3.1 Helen Burns – die Inkarnation des selbstlosen Engels

Die erste Figur in dieser Analyse ist die 14-jährige Helen Burns[4]. Jane Eyre begegnet ihr einzig und allein in der „Lowood Institution“, einer Schule für Waisenkinder. Hier sind beide bis zu Helens Tod unzertrennlich. Helen kommt ursprünglich aus Northumberland und wurde zwei Jahre vor Janes Ankunft von ihrem Vater nach Lowood geschickt, ihre Mutter war vor längerer Zeit verstorben (JE, 61). In ihrer ersten Begegnung mit Jane sitzt sie alleine auf einer Bank und liest. Das Buch, in das sie vertieft ist, ist allerdings kein Kinderbuch, sondern eine tief religiöse Schrift aus dem 18. Jahrhundert: Rasselas von Samuel Johnson. Es beschäftigt sich hauptsächlich mit dem richtigen Pfad zur Glückseligkeit.

Helen wird dem Leser als äußerst religiös, aufopferungsvoll und selbstlos geschildert. Ihren Körper verleugnet sie ebenso wie ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse. Widerstandslos passt sie sich dem von der Schule vorgegebenen Erziehungsmodell an, das Demut, Aufopferung und Selbstverzicht für die Mädchen vorsieht. Auch ist Helen Burns sehr gebildet, besitzt Kenntnisse über Literatur und Naturkunde (JE, 87) und beherrscht neben Französisch auch Latein. So bezeichnet Elaine Showalter sie zutreffend als „The Angel of Lowood“: Sie sei „pious, intellectual, indifferent to her material surroundings, resigned to the abuse of her body, and inevitably, consumptive.” (Showalter 118). Man könnte also meinen, Helen würde den Prototyp des „Angel in the House“ verkörpern.

Allerdings interessiert sie sich nicht für ein Leben im Diesseits. Helens Bestreben ist nicht auf ein irdisches Ehe- und Familienleben ausgerichtet, sondern auf ein Leben nach dem Tod. Sie ist der selbstlose Engel, der Diener Gottes, der sich in liebevoller Hingabe den vorgegeben Pflichten widmet, weil er darin das Schicksal sieht, das Gott für ihn vorgesehen hat. Oft wirkt sie verträumt und vergeistigt („She looks as if she were thinking of something beyond her punishment – beyond her situation: of something not round her nor before her.” JE, 62). Die dominierende Leitfigur ist für sie nicht der Ehemann, sondern Gott Vater, dem sie ihr ganzes Leben unterordnet. Die eigenen Bedürfnisse werden zum Wohle Gottes zurückgestellt, seine Lehren werden vertreten. Helens Körper hat für sie keine Bedeutung, auch sexuelle Bedürfnisse sind offenbar völlig untergeordnet, weil sie weiß, dass Gott nach ihrem Tod nur ihre Seele zu sich holen wird (JE, 83).

Wenn sie den Erwartungen in der Schule nicht nachkommt, lässt sie auch Strafen über sich ergehen, denn sie ist schließlich zu ihrer Erziehung nach Lowood gekommen (JE, 66). Fast täglich wird sie von den Lehrern (hauptsächlich von Ms. Scatcherd) aufgrund kleinerer Unachtsamkeiten (keine sauberen Fingernägel, keine gerade Haltung, keine aufgeräumte Schublade) und Fehlverhalten getadelt oder muss beispielsweise den ganzen Schultag mit einem Schild, das sie als „slattern“ (JE, 87) brandmarkt, herumlaufen. Wenn sie gar zu unartig ist, wird sie mit einer Rute geschlagen (JE, 65). Doch Helen nimmt die Bestrafungen gleichmütig hin: Sie wehrt sich nicht, noch verzieht sie eine Miene. Stets wirkt sie gefasst und hat ihre Gefühle völlig unter Kontrolle. Eine Träne mag ihr vielleicht entrinnen, doch sie würde nie in lautes Schluchzen ausbrechen. Helen findet die Strafen berechtigt, denn sie sieht sich folgendermaßen: “[…] slatternly; I seldom put, and never keep, things in order; I am careless; I forget rules; I read when I should learn my lessons; [...]“ (JE, 67). Sie zeigt sich demütig, indem sie immer wieder ihren fehlerhaften Charakter erwähnt (JE, 67).

Sie legt eine gewisse Form von Masochismus an den Tag (Showalter 118), indem sie Strafen erduldet, wenn sie unverschuldet ihren Pflichten (JE, 64) nicht nachkommen kann und von den Lehrern ausgeschimpft und geschlagen wird. Rachegefühle kommen für Helen nicht in Frage, weil dies nicht der Bibel und somit auch nicht den Lehren Gottes entspricht. Für sie gilt: “Love your enemies; bless them that curse you; do good to them that hate you and despitefully use you.“(JE, 69). Hassgefühle spielen für sie eine untergeordnete Rolle. Das christliche Motiv der Vergebung ist für sie von zentraler Bedeutung (JE, 69). Ihr irdisches Dasein sieht sie als Prüfung an, um einen prominenten Platz im himmlischen Gefüge zu erreichen. Hierin sieht sie die Erfüllung ihres Lebens („Why then should we ever sink overwhelmed with distress, when life is so soon over, and death is so certain an entrance to happiness – to glory?“, JE, 83). Für Helen gibt es nur einen Herrn, den sie wie einen Vater liebt und weiß, dass ihre Liebe auch erwidert wird (JE, 97).

Als Helen aufgrund der desolaten Zustände (ungenügend Nahrung, dünne Kleidung) in Lowood an Schwindsucht erkrankt, ist das für sie keineswegs ein Grund zur Trauer. Im Gegenteil: Sie ist glücklich und zählt die Stunden, bis sie endlich zu ihrem Herrn zurückkehren kann (JE, 97) und entwickelt schon eine regelrechte Todessehnsucht. Ihr Vater scheint sie als Unterstützung kaum zu vermissen, denn er hat in der Zwischenzeit geheiratet. Ihrer Ansicht nach hätte sie ein schweres Leben vor sich gehabt, denn sie sieht sich der Rolle als Mutter und Ehefrau in der viktorianischen Gesellschaft nicht gewachsen („I had no qualities or talents to take my way very well in the world: I should have been continually at fault.“ JE, 97). Indem sie jung stirbt, entgeht sie dem Leid auf der Erde.

Mit Helen Burns wird die sehr stark religiös dominierte Seite der viktorianischen Frauenrolle gezeichnet: Aufopferung, Selbstverzicht, Ergebenheit, Frömmigkeit, sowie Anpassungsfähigkeit und Selbstkontrolle. Ehe und Familie werden durch Ausrichtung auf Gott und Himmelreich ersetzt. Weitgehend unterentwickelt sind dagegen Merkmale wie ihr Selbstbewusstsein und ihr Hang zur Selbstdarstellung. Helen lehnt es ab, die zweifellos vorhandenen „female accomplishments“ in den Vordergrund zu stellen.

3.2 Miss Temple

Als weitere wichtige Frauenfigur ist die etwa 29-jährige Maria Temple anzusehen, die Schulleiterin von Lowood. Sie empfängt Jane nach deren Ankunft aus Gateshead Hall, Janes ehemaligem Zuhause. Ihr Äußeres wird folgendermaßen beschrieben:

[...] she looked tall, fair and shapely; brown eyes, with a benignant light in their irids, and a fine pencilling of long lashes round, relieved the whiteness of her large front; on each of her temples her hair, of a very dark brown, was clustered in round curls, […] a complexion, if pale, clear, and a stately air and carriage. (JE, 57)

Sie ist eine hübsche, eindrucksvolle Frau mit einer würdevollen und imposanten Statur. Ms. Temple ist gebildet, sie zeichnet sich durch profunde Kenntnisse von Sprachen und Literatur, sowie Musik und Malerei aus (JE, 57, 87). Die Schülerinnen sind von ihr begeistert, weil sie interessantere Dinge als die anderen Lehrerinnen zu erzählen hat (JE, 68). Durch ihre ruhige und gelassene Haltung, aber auch durch ihre intellektuelle Überlegenheit erzeugt sie bei den Kindern ein Gefühl von Ehrfurcht.

Miss Temple had always something of serenity in her air, of state in her mien, of refined propriety in her language, which precluded deviation into the ardent, the excited, the eager: something which chastened the pleasure of those who looked on her and listened to her, by a controlling sense of awe. (JE, 86)

Es ist nicht nur Ms. Temples äußere Erscheinung, die ihre Mitmenschen beeindruckt, sondern vielmehr ihre Persönlichkeit, die sie in den Bann zieht (JE, 87).

Trotz ihrer hohen Position an der Schule wird ihre Macht durch die Vorherrschaft des Schulvorstehers Mr. Brocklehurst begrenzt. Der Geistliche Mr. Brocklehurst, Sohn einer einflussreichen Geldgeberin von Lowood, praktiziert ein konservatives Erziehungsmodell, basierend auf einer heuchlerisch religiösen Drohkulisse. Aus Kenntnis der damaligen Rollenverhältnisse heraus, verfolgt Ms. Temple ihm gegenüber eine sehr angepasste Haltung, indem sie offenen Widerspruch vermeidet und sich nicht zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen hinreißen lässt. Dieses Verhalten erfordert oftmals große Selbstdisziplin (JE, 75). Sie legt ihm stets Rechenschaft über ihr Tun ab. Auch wenn sie seine Ansichten nicht teilt, stellt sie seine Autorität offiziell nicht wirklich in Frage. So gibt es eine Szene, in der Ms. Temple ein Taschentuch über ihre Lippen zieht, „as if to smooth away the involuntary smile that curled them.“ (JE, 76). Sie erkennt, dass seine Argumente manchmal an Lächerlichkeit grenzen.

Indem sie Mr. Brocklehurst das Gefühl gibt, Recht zu haben und ihm die Vorherrschaft in Lowood überlässt, schafft sie sich einen gewissen Freiraum, den sie clever zu nutzen weiß. So sorgt Ms. Temple beispielsweise in einer Szene, als die Mädchen zum Frühstück angebrannten Haferbrei bekommen, für ein zweites Frühstück (JE, 57). Oder sie spricht Jane vor der ganzen Schule von den Anschuldigungen Mr. Brocklehursts, der sie als Lügnerin bezeichnet hat, frei, nachdem sie herausgefunden hat, dass dem nicht so ist (JE, 88). Sie weiß, welche Rechte sie sich herausnehmen kann und wo sie sich durchsetzen muss, ohne mit einer größeren Auseinandersetzung mit Mr. Brocklehurst rechnen zu müssen.

Maria Temple ist nicht nur eine Respekt einflößende Person, sondern gleichzeitig auch die gütige Mutter im Hause Lowood, die versucht, die Strenge des „Vaters“ Brocklehurst auszugleichen und sich auf die Seite der Mädchen stellt. Auf die Fehler der Mädchen reagiert sie nicht mit Strenge, sondern versucht, sie auf sanfte Art und Weise zu ermahnen und lobt sie ausgiebig, wenn sie artig waren (JE, 67). An ihren wöchentlichen Besuchen der Kirche, die aufgrund der mitunter schlechten Wetterbedingungen erschwert werden, ermuntert sie die Kinder zum Durchhalten, indem sie vorbildhaft vor ihnen her schreitet (JE, 72). Ihre Fürsorge zeigt sich auch, als sie Jane und Helen zu Tee und Kuchen einlädt, denn sie weiß, dass die Mädchen nur wenig zu Essen bekommen. Es bereitet ihr Freude, die Kinder auch einmal glücklich und zufrieden sehen zu können (JE, 86). Als eine Typhus-Epidemie in Lowood ausbricht, opfert Ms. Temple Tag und Nacht für die sterbenden Kinder, ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit (JE, 91).

Als Ms. Temple jedoch einen Mann kennen lernt, den sie bald darauf heiratet, gibt sie ihren Beruf als Schulleiterin auf und widmet sich von da an ihrer Rolle als Ehefrau. Man kann vermuten, dass die Ehe eher dem traditionellen Rollenverhalten entspricht und sich Ms. Temple der Vorherrschaft ihres Mannes unterordnet.

Mit Ms. Temple wird die warmherzige und mitfühlende Seite des „Angel in the House“ gezeigt. Sie kümmert sich wie eine Mutter um die Mädchen, ist liebevoll, aufopfernd und sorgt für Gerechtigkeit. Sie passt sich den vorherrschenden Machtverhältnissen an und achtet sehr stark auf die Kontrolle ihrer eigenen Emotionen und Affekte, um sich einen gewissen Freiraum zu erobern. Sie ist nicht nur hübsch und begabt, sondern beeindruckt auch durch ihre starke Persönlichkeit. An ihrem Verhalten beim Eintritt in die Ehe jedoch zeigt sich das typische Verhalten der Frau im viktorianischen Zeitalter, die ihre berufliche Tätigkeit aufgibt, sobald die Heirat mit einem Mann bevorsteht.

Mit Ms. Temple, quasi ein „telling name“ verliert die Schule ihre Stütze: Einerseits ist sie die Stütze für die Mädchen in der Schule, andererseits gilt sie aber auch als Stütze für das patriarchalische System in Lowood. Nach ihrem Weggang gibt es auch für Jane keinen Grund mehr, länger in Lowood zu bleiben.

3.3 Blanche Ingram – die begabte Schönheit

Weitere Facetten des Rollenmodells lassen sich in der Figur von Blanche Ingram erkennen. Bevor sie zum ersten Mal in Thornfield Hall, dem dritten Ort im Roman, in Erscheinung tritt, wird sie durch eine Äußerung der Haushälterin Mrs. Fairfax beschrieben:

Tall, fine bust, sloping shoulders; long graceful neck: olive complexion, dark and clear; noble features; eyes rather like Mr. Rochester’s, large and black, […] a fine head of hair, raven-black [...] the longest, the glossiest curls I ever saw. (JE, 185)

Sie wird als perfekte Schönheit dargestellt. Ihre Kleidung und ihr Aussehen sind makellos und mit ihrem dunklen Teint und den dunklen Haaren ähnelt sie einer exotischen Schönheit. Auch trägt sie fast ausschließlich weiße Kleider. Mit der Farbe weiß wird im Allgemeinen Unschuld, Engelhaftigkeit und Vollkommenheit in Zusammenhang gebracht. Darauf deutet auch ihr Name hin. Jedoch sind diese Merkmale nicht so recht mit ihrem Äußeren in Einklang zu bringen.

Schon bei einem vorherigen Besuch in Thornfield, der etwa sieben Jahre zurückliegt, wurde die damals 18-jährige Blanche „not only for her beauty, but for her accomplishments“ (JE, 185) von der Gesellschaft bewundert. Sie war die „belle“, die „queen“ (JE, 184, 185) auf dem Ball, die aber auch durch ihren Gesang und ihr Klavierspiel für Unterhaltung sorgte.

Jane begegnet Blanche zum ersten Mal bei den allabendlichen Zusammenkünften der Gesellschaft, an denen sie auf Wunsch des Hausherrn teilnimmt. Blanche legt ein selbstsicheres, erhabenes (JE, 199, 200) Auftreten an den Tag und wird wegen ihrer „majestic, […] accomplished, sprightly“ (JE, 201) Art von der männlichen Gesellschaft bewundert. Auch in ihrer Statur ist Blanche „moulded like a Dian“ (JE, 200). Stets gibt sie sich fröhlich, was sie durch auffälliges Lachen oder Kichern betont. Neben fließendem Französisch hat sie Kenntnisse in der Botanik und der Literatur, die sie am Abend zum Besten gibt. Ihre Äußerungen zeugen von bravem Auswendiglernen, weniger von echtem Verständnis. Dennoch gefällt sie sich in der Rolle der gebildeten Dame, wirkt dabei gleichsam überheblich und selbstgefällig (JE, 201).

Zweifellos weiß sie, wie man in der Gesellschaft gepflegte Konversation betreibt. Im Gegensatz zu den anderen Frauen ist sie rege an den Unterhaltungen beteiligt (JE, 207 f), die sie zu ihren Gunsten in die richtige Richtung lenkt. Daneben versucht sie immer wieder mit ihrem auserwählten „Opfer“ zu flirten, ihm zu schmeicheln (JE, 214) und es zu reizen, indem sie vorgibt, dass sie eine Schwäche für gefährliche Männer hat. Im Visier hat sie den Gastgeber von Thornfield Hall – Edward Fairfax Rochester. Ein Mann von fast vierzig Jahren (JE, 185), nicht gut aussehend, aber dafür wohlhabend und von einem hohen Rang. Sie kommt zwar aus gutem Hause (Ingram Park, JE, 206), doch wird das Vermögen an ihren ältesten Bruder gehen (JE, 185). Aus diesem Grunde ist es ihr Ziel, einen wohlhabenden und angesehenen Mann wie Rochester zu heiraten, der ihres Standes würdig ist.

Blanche nutzt jeden Moment, Rochester zu umgarnen, ihn zufällig zu berühren oder ihm einen flüchtigen Blick zuzuwerfen (JE, 215) und täuscht reges Interesse sowie eine gewisse Zuneigung für ihn vor. Sie beherrscht nicht nur das Spiel mit den Waffen einer Frau, sondern setzt auch die schon in frühester Kindheit erlernten „accomplishments“ gekonnt in Szene und mimt nach außen hin die Rolle des „Angel in the House“, weil sie glaubt, dass es genau das ist, was die Männer suchen. Mit jedem ihrer „Schachzüge“ und der Betonung ihrer „accomplishments“ glaubt sie sich näher ihrem Ziel – der Ehe – zu sein (JE, 216, 217). Auch ist sie der Ansicht, dass Schönheit eine Sache der Frau ist, während „strength and valour“ ausschließlich dem Mann vorbehalten sind (Katz 207). Aufgabe des Mannes ist es, den Herausforderungen in der Welt außerhalb der Familie zu begegnen. Folgerichtig sieht sie im Mann den Helden, dem sie einen Ort der Zuflucht bieten möchte. Eine unattraktive Frau hat für sie keine Chancen auf dem Heiratsmarkt (JE, 208). Blanche sieht sich als das „dekorative Wesen“ (Winther 5) an der Seite des Mannes, das man in der Gesellschaft vorzeigen kann.

Die junge Ms. Ingram besitzt ein außerordentlich hohes Standesbewusstsein. Ihr untergeordnete Personen werden häufig mit hochmütigen Blicken abgetan. Stolz erzählt sie auch, wie sie eine Liebesbeziehung zwischen einer ehemaligen Gouvernante und dem Hauslehrer aufgedeckt hat, weil dies ein ganz unmoralisches Verhalten sei, dass in keiner Weise mit ihren Prinzipien zu vereinbaren sei (JE, 206).

An der Figur Blanche Ingram lässt sich sehr präzise die Bedeutung der damals geschätzten „female accomplishments“ erkennen. Sie weiß genau, wie sie ihre Fertigkeiten und ihre Schönheit gezielt in Szene setzen kann. Ihre Aufgabe sieht sie in der Bereitstellung eines Hortes der Ruhe und Geborgenheit für ihren Helden. Auch gibt sie vor, ernsthaftes Interesse und Zuneigung für Rochester zu haben. Es ist bloß fraglich, ob sie dem Bild, das sie selbst von sich zeichnet, gerecht wird.

4. „I am not an angel“ – Janes Weg zu ihrer eigenen Rolle

Im Folgenden soll Janes Entwicklung, beginnend in frühester Kindheit (state of innocence) bis hin zum Erwachsenenalter (state of maturity), aufgezeigt werden. Kindheit und Jugend werden unter einem Punkt zusammengefasst. Eine breitere Analyse wird Janes Aufenthalt in Thornfield Hall zuteil und ihre Beziehung zu Edward Fairfax Rochester. Die zeitliche Phase nach der vorübergehenden Trennung von Jane und Rochester wird nur kurz gestreift. Die Beschreibung findet ihr Ende mit der Rückkehr Janes und der Ehe mit ihrem geliebten Edward unter endgültigem Ablehnen des Rollenmodells.

4.1 Vom Enfant terrible zur disziplinierten jungen Gouvernante

Die Geschichte beginnt damit, dass die 10-jährige Erzählerprotagonistin Jane Eyre bei ihrer wohlhabenden Tante Sarah Reed und ihren Kindern John, Eliza und Georgiana in Gateshead Hall aufwächst. Ihre relativ armen Eltern waren einige Wochen nach Janes Geburt an Typhus verstorben und Jane kam in die Obhut ihres Onkels Mr. Reed. Nach dessen Tod wurde seiner Frau die Verantwortung für Jane übertragen (JE, 267).

Mrs. Reed hatte diese Aufgabe nur widerwillig übernommen, was sich an ihrem Verhalten Jane gegenüber zeigt. Sie wird vom Familienleben ausgeschlossen und nur mit Kühle behandelt. Wenn sie sich nicht „more sociable“ und „child-like“ (JE, 9) verhält und nicht aufhört zu nörgeln, so Mrs. Reed, wird man sie weiterhin ausgrenzen müssen. Auch weist man sie immer wieder darauf hin, dass sie nur geduldet ist und nicht die gleichen Rechte wie die übrigen Familienmitglieder hat (JE, 13, 16).

Es ist vor allem Janes dominanter Cousin John, der glaubt, durch Janes Abhängigkeit könne er sie behandeln, wie es ihm beliebt. So beschimpft und misshandelt er sie und gibt ihr erniedrigende Namen wie „bad animal“ oder „rat“ (JE, 11,13). Als zukünftiger Herr des Hauses sieht er sich im Recht, von ihr Demut und Gehorsam zu verlangen. Aufgrund der ständigen Isolation und Vereinsamung entwickelt Jane schon sehr früh einen Hang zur inneren Selbstkommunikation, mit der sie sich Gedanken über sich selbst und ihre Umwelt macht. So kann sie ihr Handeln immer wieder überdenken und gegebenenfalls korrigieren. Damit wird ein Wesenszug gezeichnet, der ihren gesamten Lebensweg mitbestimmt.

Als es zu einem erneuten Angriff ihres tyrannischen Cousins kommt, in dessen Verlauf er ein Buch nach ihr wirft, sie zu Boden fällt und eine blutende Wunde am Kopf davonträgt (JE, 13), verliert sie vollends die Beherrschung: „My terror had passed its climax; other feelings succeeded“ (JE, 13). Jane beginnt, sich zum ersten Mal verbal und körperlich gegen die Ungerechtigkeit und das ihr entgegen gebrachte niederträchtige Verhalten zu wehren. Daraufhin wird sie wie ein tollwütiges Tier von den Dienstboten gepackt und in den „red-room“ gebracht, denn solch ein Verhalten, wie es Jane an den Tag legt, darf nicht geduldet werden. Sogar für Jane ist ihr kämpferischer Widerstand neu (JE, 15) und obgleich ihr auch bewusst ist, dass sie dadurch noch härter bestraft wird, entscheidet sie sich dazu, „to go all lengths“ und wehrt sich gegen die grobe Behandlung der Dienstboten (JE, 15). Janes rebellischer Geist wird hier zum ersten Mal erweckt und wird zu ihrem Charakteristikum im ganzen Roman hindurch.

Alleine zurückgelassen und somit erneut von der Außenwelt isoliert, gibt sich Jane ihrer inneren Selbstkommunikation hin und denkt über das Verhalten ihrer Verwandten nach. Sie fragt sich, warum die anderen sie nicht lieben und stellt fest:

[...]


[1] Charlotte Brontё. Jane Eyre. Penguin Classics: London, 2006. Alle Zitate aus dieser Quelle werden im Folgenden im Text mit JE gekennzeichnet.

[2] Weitere Beispiele aus der viktorianischen Zeit sind ihre Schwestern Emily und Anne Brontë, unter dem männlichen Pseudonym Ellis und Acton Bell bekannt, sowie Mary Ann Evans (alias George Eliot).

[3] So auch der Name des Gedichts von Coventry Patmore (London, 1854).

[4] Zur Namensgebung vgl. Thaden, 57.

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Details

Titel
Charlotte Brontes "Jane Eyre" als kritische Auseinandersetzung mit dem Rollenmodell des "Angel in the House"
Hochschule
Universität Mannheim
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
37
Katalognummer
V133260
ISBN (eBook)
9783640394067
ISBN (Buch)
9783640393831
Dateigröße
580 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Charlotte, Brontes, Jane, Eyre, Auseinandersetzung, Rollenmodell, Angel, House
Arbeit zitieren
Nadine Aldag (Autor:in), 2009, Charlotte Brontes "Jane Eyre" als kritische Auseinandersetzung mit dem Rollenmodell des "Angel in the House", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133260

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Titel: Charlotte Brontes "Jane Eyre" als kritische Auseinandersetzung mit dem Rollenmodell des "Angel in the House"



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