Der Orpheusmythos zwischen Authentizität und Aktualisierung

Inszenierung von Poetizität in Angelo Polizianos 'Fabula di Orpheo'


Term Paper (Advanced seminar), 2006

23 Pages


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Die theoretische Rehabilitierung des Textes
a) Die Polemik der Lamia
b) Von der Rhetorik zur Ästhetik

3. Die Fabula di Orpheo
a) Orpheus und die Poesie bei Ficino
b) Die Fabula und ihre Quellen
c) Die Struktur der Fabula

4. Schluß

5. Bibliographie
a) Quellen
b) Forschung

1. Einleitung

Die Fabula di Orpheo ist gut erforscht, nicht nur aber auch im Hinblick auf ihre pragmatischen und biographisch-kontextuellen Funktionen. In den Streit um ihre Datierung wie um die genaue Funktion des Stückes wollen wir uns nicht einreihen, auch geht es nicht um die Rehabilitierung eines Textes, dem eine literaturgeschichtlich wichtige Rolle zukommt, obgleich er nicht zu den maiores der Literaturgeschichte gehört. Ein solches Unterfangen stünde schon unter der besonderen Schwierigkeit, sich mit einer großen Zahl unterschiedlichster Testimonien desselben Textes konfrontiert zu sehen, unter denen keines in qualitativer Hinsicht die anderen wirklich zu überragen vermag.

Die These, daß ein Text der Hochrenaissance, im Umkreis des Florentiner Neuplatonismus entstanden, seine eigene Poetizität thematisiert, diese geradezu in den Vordergrund seiner eigenen Gestaltung rückt, verschiebt den Kontext der Fragestellung. Denn bei aller Plausibilität können pragmatische Erklärungen rhetorisch-strategischer Funktionen diesen Umstand nicht zureichend, ja überhaupt nicht erklären. Angesichts der vorausgegangenen Epoche des Mittelalters geht es hier um einen grundsätzlichen Wandel im Selbstverständnis des Künstlers und nicht zuletzt des Kunstwerkes selbst. Diese These, deren Nachweis es hier zu führen gilt, wirft, und das ist nicht zu weit gegriffen, einen epochalen Fragehorizont auf. Wie ist es möglich, daß ein solcher Text im Kontext der Frühen Neuzeit, genauer im Kontext des rinascimentalen Neuplatonismus verfaßt werden konnte? Es stellt sich hierbei nicht nur die Frage nach der Diskontinuität (und Kontinuität) von Mittelalter und Neuzeit, sondern auch nach der Kontinuität und Diskontinuität innerhalb der Renaissance selbst. Denn Poliziano selbst sah sich genötigt, ein epochales Kunst- und Textverständnis gegenüber der Philosophie eines Marsilio Ficino durchzusetzen, einen Bruch innerhalb der Ästhetik der Renaissance zu forcieren, ein Bruch, der offenbar sowohl auf theoretischer wie praktisch-ästhetischer Ebene eine gewisse polemische Haltung erforderte. Damit allein wäre aber die Komplexität des Sachverhaltes nicht erfaßt. Das im Grunde vom Mittelalter tradierte Textverständnis, das auch für Ficino noch grundlegend ist, wird erst durch Poliziano problematisiert. Und doch, auch dies soll gezeigt werden, hat die Möglichkeit der Fabula di Orpheo die neuplatonische Dichtungstheorie, die Konzeption des furor poeticus zur Voraussetzung.

*

Wenn der Aufbau dieser Arbeit den literaturwissenschaftlichen Teil um eine theoretische Darstellung ergänzt, ist dies keine unnötige Abschweifung. Vielmehr soll die kontinuierlich-diskontinuierliche Bewegung, die die Fabula ermöglicht, auf zwei Diskursebenen veranschaulicht werden, derer sich Poliziano zu gleicher Zeit bedient hat. Und erst diese doppelte Analyse wird es leisten können, diesen Einschnitt in der Ästhetik der Renaissance zu konturieren.

2. Die theoretische Rehabilitierung des Textes

a) Die Polemik der Lamia

Am 1. November 1492[1] hielt Angelo Poliziano seine Vorlesung über die Analytica priora des Aristoteles und der Untertitel Lamia bemühte sich nicht zu verbergen, daß es sich bei diesem Text um eine polemische Apologie handelt, die sich gegen die Anschuldigung florentinischer Philosophen wendet, Poliziano versuche sich zu Unrecht in ihrem Fach[2]. Zugleich aber unternimmt es die Praelectio, das Fach gegenüber seinen Vertretern zu rehabilitieren: „nunc multae noctuae sunt quae noctuarum quidem plumas habent et oculos et rostrum, sapientiam vero non habent“ (19/8ff.). Doch in einer weiteren Argumentationsbewegung weist der Redner den Titel des Philosophen entschieden von sich – „philosophum non profiteor“ (16/19) – und beantwortet die Frage nach „nostra hac professione“ (4/19f.) folgendermaßen: „At eum nemo philosophum vocat, omnes grammaticum“ (16/24f.). Die Differenzierung der beiden Tätigkeitsfelder beruht zunächst auf der Tatsache, daß der Gegenstand des grammaticus thematisch nicht eingegrenzt ist, sondern sämtliche Textsorten beinhaltet[3]. Die antike Stellung der Grammatiker dient der Legitimierung ihrer Rehabilitierung durch Poliziano selbst: „At apud antiquos olim tantum auctoritatis hic ordo habuit ut censores essent et iudices scriptorum omnium soli grammatici“ (16/33ff.)

Angesichts der polemisch-insistenten Akzentuierung der Differenz zwischen Philosophie und Philologie scheint es prima facie unverständlich, warum Polizianos Praelectio v.a. zu einer Verteidigung der Philosophie, mithin der philosophischen Erkenntnisweise gerät[4] und die Vorzüge, ja den Vorrang philosophischen Denkens in solchem Maße hervorhebt[5]. Die entscheidende Trennung, die Poliziano vornimmt, ist die zwischen dem Text und seinem interpres: „Ego me Aristotelis profiteor interpretem. Quam idoneum non attinet dicere, sed certe interpretem profiteor, philosophum non profiteor.“ (16/17f.) Die Interpretation einer philosophischen Schrift ist recht eigentlich die Beschäftigung des grammaticus, nicht des philosophus. Diese Trennung gelingt aber nur unter der Voraussetzung, daß dem Text selbst die Tätigkeit des Philosophierens, mithin eine ihm im speziellen eignende philosophische Aussagekraft unterstellt wird. Wogegen Polizianos Polemik zu zielen scheint, ist der Umgang mit philosophischen – und anderen – Texten selbst, ein Umgang, der dem interpres eine höhere Aussagekraft zugesteht als dem interpretandum.

Mittels der Konturierung der philologischen Tätigkeit hypostasiert Poliziano eine alternative Zugangsweise zu Texten, die nicht primär ahistorisch-kommentierungsbedürftig, sondern als Testimonien einer historischen Epoche oder Kultur verstanden werden und die in der Lage sind, Philosopheme, Denk- und Bedeutungsstrukturen vermittels der jeweils eigenen diskursiv-semiotischen Praxis selbst zum Ausdruck zu bringen, mit Mitteln der Sprache zu realisieren. Die Neuerung Polizianos besteht in der Anerkennung der Materialität überlieferter Texte, sein Ziel ist zugleich, sie durch Deutung philosophisch fruchtbar zu machen, aber auch „to save these texts materially from disappearing and to rescue them from oblivion, so that they could be availabe for interpretation“[6]. Damit etabliert Poliziano die Historizität des Textes, die ihn zugleich in seiner historischen Situation isoliert und durch die Präzision und Vollständigkeit seiner philologischen Erfassung[7] einer genauen, die historisch bedingte Signifikanz identifizierenden Interpretation zugänglich macht.

Diese Haltung nun setzt sich in ausdrückliche Opposition zu dem Verhältnis, das der florentinische Neuplatonismus Ficinianischer Prägung zu den Schriften Platons pflegte. Marsilio Ficino besorgte nicht nur die erste vollständige Ausgabe der Platonischen Dialoge in lateinischer Sprache[8], schuf mit seinem ‚Kommentar‘ zum Symposion nicht nur eine „Travestie“[9] des Platonischen Textes, sondern stilisierte nicht zuletzt mit seiner Theologia Platonica den antiken Philosophen zum paganen Vorläufer christlicher Theologie. Dieses Verfahren impliziert eine zu Poliziano konträre Umgangsweise mit den antiken Testimonien. Diese sind die ‚Vorläufer‘ einer philosophischen Theologie, und nur im Lichte dieser vermag der Wahrheitsgehalt jener aufgedeckt zu werden. Doch gemäß dem Einganssatz der Lamia „fabellae etiam [...] non rudimentum modo sed et instrumentum quandoque philosophiae sunt“ (3/1ff.). Der Gegenstand (fabellae) geht nicht am Thema vorbei, sondern verschärft die Opposition. Selbst die fabula, also die vorrationale, noch nicht theoretisch ausformulierte, nicht abstrakte sondern konkrete Ausdrucksform menschlichen Denkens, muß nicht erst durch einen philosophischen Kommentar in ihrem Wahrheitsgehalt ‚realisiert‘ werden, ist also nicht nur rudimentum, ein sozusagen präexistentes Fragment, sondern erhebt einen eigenständigen Wahrheitsanspruch, indem sie instrumentum philosophiae ist, mithin selbst ein philosophischer Akt.

*

Ernesto Grassi hat mit seiner Neubewertung der Rolle der Rhetorik in der Renaissance einen Vorgang beschrieben[10], in dem der (philosophische) Text seine eigene Rationalisierung hintergeht und einen Aussagemodus findet, der weder „purely emotive“ ist noch „‘theoretical‘ [...] in the usual sense“[11]. Grassis Ausgangspunkt ist das Problem der Erkenntnismöglichkeit der ‚ersten Gründe‘[12], die selbst nicht durch logische Deduktion ‚erkannt‘ werden können[13]: „But if the original assertions are not demonstrable, what is the chracter of the speech in which we express them? Obviously this type of speech cannot have a rational-theoretical character.“ Diese Sprache ist vielmehr „indicative or allusive“[14], entwickelt aber bei Grassi an keiner Stelle eine ästhetische Dimension, da sie dennoch einem philosophischen Wahrheitsanspruch verpflichtet ist als diejenige philosophische Sprache, die der ratio vorausgeht, insofern sie erst die Möglichkeit rationalen Sprechens schafft[15].

Da sich die so verstandene rhetorische Sprache auf die letzten Gründe, die archai bezieht, kann Grassi von einer „’archaic’ speech“[16] sprechen, von einer Archaisierung also, die zugleich die Voraussetzung für die von Poliziano postulierte Authentizität des Textes, für die „primacy of written evidence“[17] ist. Doch wie ist eine Forderung an das philosophische Schreiben mit einer Forderung zu verbinden, die sich an den Umgang mit philosophischen und anderen Texten richtet, die folglich bereits geschrieben sind[18] ?

b) Von der Rhetorik zur Ästhetik

Die Archaisierung nach Grassi ist und bleibt zum einen ein philosophischer Sprechakt, der im Sinne eines ontologischen Wahrheitspostulats pragmatisiert ist. In dieser Hinsicht geht es um die Möglichkeit eines Textes, in der Behandlung eines bestimmten Themas (der archai) im Sinne einer metaphysischen Ontologie eine ‚sinnvolle’ Aussage zu tätigen. Mit der Entscheidung, daß eine solche Aussage nicht logisch-rational strukturiert sein kann, thematisiert Grassi zugleich den rationalitätskritischen Aspekt der Metaphysik, die in Platons mania -Theorie ihren Anfang hat[19].

Zum anderen aber ist diese rhetorische Sprache nicht mehr durch logische Gesetze unmittelbar determiniert, ihr Signifikat ist nur noch vermittelt zu haben. Die entscheidende Vermittlungsinstanz nun sind aber die Mittel der Sprache, die Möglichkeiten textueller Gestaltung, und zwar nicht als „the technique of an exterior persuasion“[20], sondern in der reinen Textimmanenz. Darum kann es auch Poliziano nicht um den rationalisierenden Kommentar, die Integration des Platonischen Philosophems in das System christlicher Theologie gehen, sondern um die Voraussetzung, daß der Text eigene Mittel besitzt, die ihn in die Lage versetzen, eine metaphysische Aussage treffen zu können.

Damit stehen Text und Interpretation zwangsläufig im Spannungsfeld von Historizität und Aktualität. So geht es Poliziano eben darum, die ursprüngliche (archaische) Aussage des Textes zu identifizieren, weil dem Text selbst die Möglichkeit eignet, ursprüngliche (archaische) Wahrheiten auszusagen. Aber eben diese Anerkennung des Archaischen als solchem bildet die Voraussetzung dafür, es wiederzugewinnen. Aktualisierung bedeutet – in Opposition zu Ficinos Verfahren – Archaisierung im Sinne der Anerkennung eines doppelt Archaischen.

[...]


[1] Zur Datierung vgl. Angelo Poliziano, Lamia – Praelectio in priora Aristotelis Analytica, crit. ed., intr. and comm. by Ari Wesseling, Leiden 1986 (= Studies in Medieval and Reformation Thought Vol. Xxxviii), Xiii. [Im folgenden zitiert als Lamia; die erste Ziffer bezieht sich auf die Seite, die folgenden auf die Zeile.]

[2] „‘Politianus est, ipsissimus est, nugator ille silicet qui sic repente philosophus prodiit.‘“ (4/6f.).

[3] „Grammaticorum enim sunt haec partes, ut omne scriptourm genus, poetas, historicos, oratores, philosophos, medicos, iureconsultos excutiant atque enarrent.“ (16/30ff.)

[4] Vgl. Ernesto Grassi, Rhetoric as Philosophy – The Humanist Tradition, University Park/London 1980, 53: „Now the question arises whether there is not a contradiction in Poliziano’s statement insofar as he aspires at a comprehension of philosophical texts, althougt he wants to be a grammaticus rather than a philosopher.” Vgl. auch Paul Colilli, Poliziano’s Science of Tropes, New York 1989 (= American University Studies. Series II – Romance Languages and Literature Vol. 98), 134.

[5] „Mihi autem videtur et illud, qui philosophari nolit etiam felix esse nolle“ (10/4f.). Das Zitat ist nur ein Beispiel für den Impetus Polizianos, den Wert der Philosophie mit Hilfe z.T. durchaus auch ironischer Anspielungen auf die antiken Vorläufer von Pythagoras bis Platon, dessen Höhlengleichnis (über die Version in Iamblichos’ Protrepticus vermittelt, vgl. Lamia, 89, Komm. zu 13,38) den Höhepunkt der Philosophie-Apologie Polizianos bildet, zu verteidigen.

[6] Grassi, Rhetoric and Philosophy, 52.

[7] Vgl. Collili, Poliziano‘s Science of Tropes, 125: Der erste Schritt der Methode Polizianos sei „the evaluation of the manuscripts followed by, where applicable, an outline of the manuscript tradition history“. Vgl. zur Historizität der Methode Polizianos Stefano Benassi, La filosofia e le lettere: la configurazione mito-poietica in Poliziano, in: Poliziano nel suo tempo – Atti del VI. Convegno internazionale 18-21 luglio 1994, a cura di Luisa Secchi Tarugi, Firenze 1996, 117-133, hier 128: „Per altro l’ordine dei rapporti tra il nome e la cosa è garantito per Poliziano non dalla connessione con una struttura metafisica del reale, ma dal processo di formazione culturale e storica che l’ha prodotta.”

[8] Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, übers. von Karl Paul Hasse, hg. u. eingel. von Paul Richard Blum, lat.-dt., Hamburg 31994, Xvi.

[9] Ebd., Xvii.

[10] Ernesto Grassi, Rhetoric and Philosophy, in: Ders., Vico and Humanism – Essays on Vico, Heidegger, and Rhetoric, New York et.al. 1990, 75-94.

[11] Ebd., 92. Grassi unterscheidet hier resümierend zwischen „external, ‚rhetorical speech ‘“, „speech which arises exclusively from a rational proceeding “ und „The true rhetorical speech “. (Hervorhebungen im Orig.)

[12] Grassi spricht von „first principles“ (ebd., 84) und bezieht sich in seiner Argumentation auf Aristoteles An. post. 72a 30.

[13] Ebd., 77.

[14] Ebd.: „This speech is and must be in its structure an imaginative speech.“

[15] Ebd., 78.

[16] Ebd., 77.

[17] Colilli, Poliziano’s Science of Tropes, 127.

[18] Grassi selbst geht in seiner keine zwei Seiten umfassenden Darstellung der Polizianischen Selbstbeschreibung als grammaticus (Rhetoric as Philosophy, 52f.) nicht auf die Problematik des Verhältnisses zwischen philologischer und poetischer Praxis ein, sondern resümiert in Bezug auf beide Seiten (Ebd., 53): „Poliziano confirms that his interpretation of the word […] is by no means identical with the teaching of language first of all by his assertion that his work is dependent not on the ratio but on the Muses.“ Ob mit dieser Feststellung das theoretische, das schriftstellerische oder etwa beide Werke gemeint sind, wird nicht gesagt und auch nicht, inwiefern diese miteinander verbunden sein könnten.

[19] S.u.; vgl. Grassi, Rhetoric and Philosophy, 86-91.

[20] Ebd., 78.

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Details

Title
Der Orpheusmythos zwischen Authentizität und Aktualisierung
Subtitle
Inszenierung von Poetizität in Angelo Polizianos 'Fabula di Orpheo'
College
University of Tubingen  (Romanisches Seminar)
Course
Antike Mythen in der Literatur der Moderne
Author
Year
2006
Pages
23
Catalog Number
V133226
ISBN (eBook)
9783640399109
ISBN (Book)
9783640398607
File size
537 KB
Language
German
Keywords
Orpheusmythos, Authentizität, Aktualisierung, Inszenierung, Poetizität, Angelo, Polizianos, Fabula, Orpheo
Quote paper
Tobias Schmid (Author), 2006, Der Orpheusmythos zwischen Authentizität und Aktualisierung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133226

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