Verhaltensgestörte Kinder. Buchbesprechung: „Kinder, die hassen. Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle“ von Fritz Redl und David Wineman


Rezension / Literaturbericht, 1981

15 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Das „Pioneer House“ - Projekt in Detroit
1.1 Einführung
1.2 Ablaufschema der Therapie
1.3 Schaffung eines bestimmten Behandlungsmilieus
1.4 Auswahlkriterien für die Gruppenzusammensetzung

2. Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle
2.1 Das Ich, das seine Aufgaben nicht erfüllen kann
2.2 Niedrige Frustrationstoleranz
2.3 Geringer Widerstand gegen die Versuchung

3. Das delinquente Ich und seine Techniken
3.1 Das Ich und der Begriff Delinquenz
3.2 Strategie des Vermeidens von Schuldgefühlen

4. Beurteilung und Kritik

1. Das „Pioneer House“ - Projekt in Detroit

1.1 Einführung

Das Buch „Kinder, die hassen“[1] beschreibt Verlauf und Ergebnisse des „Detroit Pioneer House“ - Projekts. Die Autoren des Buches[2] und einige Mitarbeiter lebten 19 Monate lang, von Dezember 1946 bis Juni 1948, mit extrem gestörten, hasserfüllten und schwer aggressiven Kindern in Detroit in einem so genannten „Pioneer House“ zusammen.

„Unser Problem ist, dass wir nicht genug über den Haß wissen. Infolgedessen nehmen wir ihn auch nicht ernst genug.“[3] Dem entgegenzuarbeiten, hatten sich die Projektleiter zur Aufgabe gesetzt. Dieses nicht Ernstnehmen von stark verhaltensgestörten Kindern hat zwei extreme Reaktionen in der amerikanischen Gesellschaft (aber nicht nur dort) zur Folge. Die einen fordern ein härteres Durchgreifen gegenüber solchen Kindern. Man will sie schwerer bestrafen und ihnen weniger Freiheiten geben. Die anderen schreiben deren Verhalten und Taten alles dem jämmerlichen persönlichen Entwicklungsverlauf der Kinder zu und wollen ihnen alles durchgehen lassen („sentimentale Naivität“[4] ). Beide Betrach-tungsweisen sind viel zu oberflächlich, als dass sie eine Hilfe für diese Kinder sein könnten.

Diese Verhaltensweisen der Kinder wollten sich die Autoren näher, intensiver und objektiver anschauen, eben durch das erwähnte Projekt: „Es war ein Versuch, herauszu-kommen, wie einige Kinder wirklich sind, was ihnen fehlt und was für Methoden man erfinden könnte, um ihre besondere seelische Erkrankung der Reichweite unseres Arsenals therapeutischer Verfahren näherzubringen.“[5]

Bei den Kindern, die in diesem Buch beschrieben werden, scheint nichts mehr zu funktionieren; sie sind für ihre Umgebung untragbar und stellen ein unlösbares Problem dar. Aber Hass und Aggression gehören prinzipiell zu unserem Triebsystem. Es handelt sich hierbei nicht um klassisch neurotische Kinder, sondern um einen „extremeren, elementareren‚ ‚totaleren’ Typus von Haß und Aggression“[6], von dem wir wenig wissen. Denn Kinder, die hassen, werden schnell zu Kindern, die keiner will. Deshalb greift auch die therapeutische Behandlung klassischen Stils nicht, weil viele gar nicht zum Reden oder Handeln aufgelegt sind. Vielmehr würde diese Methode Ausbrüche von Destruktivität nach sich ziehen. An diese Kinder ist schwierig und nur mit einem neuen eigenartigen Konzept heranzukommen, denn die herkömmliche Meinung, Hass sei nur Mangel an Liebe und würde durch viel Liebe verschwinden, erweist sich als völlig falsch. Und so „können sie alles ertragen, nur keine Zuneigung, obwohl sie sie so sehr zu brauchen scheinen.“[7]

„Etwas über Kinder herauszubekommen, an die schwer heranzukommen ist, besteht darin mit ihnen in einer Gruppe zusammenzuleben“.[8] Neben der Diskussion tritt in vollem Maße der Handlungscharakter.

Ein schwieriger Faktor war natürlich die Zusammensetzung der Gruppe. Aus früher durch-geführten Sommerlagern konnten die Autoren einige Erkenntnisse ziehen. Dieses neu-artige Projekt hatte also eine vertiefende Funktion. Angestrebt war „eine angemessene und vollständige Erforschung dessen, worin die Störung überhaupt besteht.“[9] Die daraus gezogenen Kenntnisse kindlichen Verhaltens sind auch für den Erzieher normaler Kinder notwendig, denn selbst normale Kinder werden nicht mit einem voll entwickeltem Selbstkontrollmechanismus geboren. Denn bei jedem Kind muss sich ein Ich und ein Über-Ich erst ausbilden.

Der Grund, warum diese Kinder hassen, die besondere Pathologie ihrer Aggression, die anders gelagerte Triebhaftigkeit dieser Kinder ist schon wichtig. Aber der eigentliche und wahre Grund für ihr Verhalten ist nicht der Hass, sondern - und darin liegt die wesentliche Grundkonzeption des Buches - ist

- zum einen „die Auflösung der Selbstkontrolle, die die aufgestaute Aggression in der Persönlichkeit dieser Kinder bewirkt hat“[10] und
- und zum anderen hat sich „ein Teil ihres Hasses zu einem gut ausgebauten Sektor des scharfsinnnigen Abwehrsystems gegen eine moralische Verflechtung mit ihrer Umwelt“[11] entwickelt.

1.2 Ablaufschema der Therapie

Nach Meinung der Autoren sind folglich Aggression, Destruktion und Hass nur Nebenprodukte ihrer Pathologie. Um sie irgendwie heilen zu können, muss man also ihre Ich-Störungen und ihre Über-Ich-Fehlentwicklungen herausbekommen.

Die Therapie solcher Kinder erfolgt in drei wesentlichen Schritten:[12]

1. Man muss mit ihnen zunächst einmal zusammenleben und „überleben“, wobei sich ihr Verhalten zeitweise mäßigen muss. Dies ist spontaner und intensiver als es in einer gelegentlichen Sprechstunde sein kann. Es kann eine Abschwächung bzw. eine Hervorhebung von Verhaltensweisen geben. Man kann dieses Milieu gleich therapeutisch nutzbar machen.
2. Man muss herausbekommen, wie sie wirklich sind und was sie bewegt. Welche Mechanismen funktionieren bei ihnen, welche sind gestört?
3. Im dritten Schritt erfolgt die eigentliche Therapie der wahren Probleme.

1.3 Schaffung eines bestimmten Behandlungsmilieus

Man muss also ein ganz bestimmtes therapeutisches Behandlungsmilieu schaffen, das folgende Aspekte umfasst:[13]

1. Absoluter Schutz vor traumatischer Behandlung durch das Heimpersonal.
2. Gewähren von Befriedigungen durch das Planen von Freizeitbeschäftigung; liebevolle
Zuneigung der Erwachsenen, ob es das Verhalten des Kindes verdient oder nicht.
3. Symptomtoleranz und Spielraum für Regression, aber durchaus beschützendes Eingreifen.
4. Aufstellen von bestimmten minimalen Regeln für Aggression und Wildheit, angepasst an die besondere Art der Ich-Störung. Nicht prinzipiell fürs Gewähren lassen.
5. Benutzung allgemeiner Freizeiteinrichtungen.
6. Vermeiden eines groben soziokulturellen Stilbruchs in Bezug auf das Mobiliar, auf das räumliche Erscheinungsbild und auf das herkömmliche Freizeitprogramm der Kinder.
7. Das „Pioneer House“ ist kein geschlossenes Heim. Der Schulbesuch erfolgt in einer Sonderklasse an einer öffentlichen Detroiter Schule.

[...]


[1] Fritz Redl / David Wineman, Children Who Hate - The Disorganization and Breakdown of Behavior Controls, 1951; deutsche Ausgabe: Fritz Redl/ David Wineman, Kinder, die hassen - Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle, herausgegeben. und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Fatke, Piper Verlag, München 1979. Erschienen als Band 29 der Reihe: Erziehung in Wissenschaft und Praxis, hrsg. von Andreas Flitner.

[2] Auf dem Buchdeckel bzw. der vierten Umschlagsseite werden folgende Angaben über die Autoren gemacht: "Die Autoren: Fritz Redl, geb. 1902, war Lehrer, Erziehungsberater und Psychoanalytiker in Wien; 1936 Emigration in die USA; bis zu seiner Emeritierung 1973 Professor für Verhaltenswissenschaften an der Wayne State University in Detroit. David Wineman ist Professor für Sozialpädagogik an der Wayne State University in Detroit; Mitarbeiter von Redl in verschiedenen Projekten mit gestörten Kindern. Der Herausgeber: Dr. Reinhard Fatke, geb. 1943, hat während eines zweijährigen Forschungsaufenthaltes in den USA mit Redl zusammengearbeitet; er ist jetzt Wiss. Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen."

[3] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 20.

[4] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 21.

[5] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 28.

[6] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 25.

[7] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 27.

[8] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 33.

[9] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 22.

[10] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 29

[11] Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 29.

[12] Vgl. Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 32-36.

[13] Vgl. Redl/Wineman, Kinder, die hassen, S. 36-43.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Verhaltensgestörte Kinder. Buchbesprechung: „Kinder, die hassen. Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle“ von Fritz Redl und David Wineman
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Institut für Erziehungswissenschaften I)
Veranstaltung
Seminar: Grundstudium: "Konflikte im Unterricht"
Note
gut
Autor
Jahr
1981
Seiten
15
Katalognummer
V133148
ISBN (eBook)
9783640670017
ISBN (Buch)
9783640670338
Dateigröße
443 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verhaltensgestörte, Kinder, Buchbesprechung, Auflösung, Zusammenbruch, Selbstkontrolle“, Fritz, Redl, David, Wineman
Arbeit zitieren
Dr., M.A. Roland Engelhart (Autor:in), 1981, Verhaltensgestörte Kinder. Buchbesprechung: „Kinder, die hassen. Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle“ von Fritz Redl und David Wineman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133148

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Verhaltensgestörte Kinder. Buchbesprechung: „Kinder, die hassen. Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle“ von Fritz Redl und David Wineman



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden