Spaniens Identität[en]

Ein Land zwischen Einheit und Peripherie


Hausarbeit, 2008

54 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Begriff der Identität

3. Der Kapitalbegriff nach Bourdieu
3.1. Die Kapitalsorten
3.2. Der Habitus

4. Das Konzept des sozialen Raums
4.1. Die Stellung der Akteure im sozialen Raum
4.2. Der Macht- und Zwangbegriff im Zusammenhang mit dem sozialen Raum
4.3. Die Verschiebung von Stellungen der Akteure innerhalb des sozialen Raums
4.4. Interaktionen im sozialen Raum

5. Der Klassenbegriff
5.1. Die Begriffe der Klasse an sich und Klasse für sich
5.2. Zentrum versus Peripherie
5.2.1. Das Einheitsstreben in der Geschichte Spaniens
5.2.2. Spaniens Peripherien unter der parlamentarischen Erbmonarchie Juan Carlos I.
5.2.2.1. Katalonien
5.2.2.2. Galicien
5.2.2.3. Das Baskenland
5.2.2.4. Konflikte zwischen den Autonomen Regierungen und der Regierung in Madrid
5.2.3. Die Subklassifizierung
5.2.4. Soziale Klassen und ihre Feste
5.2.4.1. Fête du Piment
5.2.4.2. La Virgen del Pino
5.2.4.3. San Marcos

6. Die Dynamik der sozialen Welt

7. Schlusswort

8. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Was ist eigentlich ein sozialer Raum und wie ist er entstanden?

Das Wort sozial (lat. s ocius) bedeutet soviel wie gemeinsam, verbunden, verbündet und bezeichnet wechselseitige Bezüge als eine Grundbedingtheit des Zusammenlebens, insbesondere des Menschseins.

Schon vor mehr als vier millionen Jahren haben sich unsere Vorfahren verbündet. Dies war ein wichtiger Schritt der Evolution, da er das Leben der Urmenschen erleichterte und das Überleben begünstigte. Solche Gemeinschaften, hatten ähnlich wie in unserer heutigen Gesellschaft bestimmte Regeln und Ordnungsprinzipien. Jedes Mitglied einer derartigen Gruppe hatte seinen Platz im „System“. Mit dem Heranwachsen solcher Gruppen zu einer ausdifferenzierten Gesellschaft und Kultur wurden natürlich auch die Ordnungsprinzipien viel komplexer. Durch fortschreitende Evolution und Entwicklung von Bewusstsein und Reflexion sind wir uns solcher Strukturen bewusst geworden. Angesichts der Reflexion über Zustände und Organismen in unserer Umgebung, aber auch im Zuge der Selbstreflexion stellt sich heute jeder Mensch einmal die Frage: „Wer bin ich, was macht mich aus und welchen Platz nehme ich auf dieser Welt ein?“ Wir sind heute fast siebenmillionen Menschen auf der Erde. Jeder ist einzigartig. Um die eigene Identität aufschlüsseln zu können, splittet er seinen persönlichen Merkmalpool auf. Somit erlangt er auf der einen Seite Merkmale, die ihn von anderen Mitmenschen unterscheidet und auf der anderen diejenigen, die ihn mit seiner Umgebung verbinden. Wir verfolgen also ein Leben lang die Polarität zwischen dem Sich- abgrenzen und Dazugehören, zwischen dem Ich und dem Wir.

Demnach eröffnen sich zwei Arten des Identitätsbegriffs: die Personale Identität und die Gruppenidentität.

2. Der Begriff der Identität

Im Zuge der Personalen Identität stellt sich die Frage woran man die eigene Identität eigentlich festmachen kann. Am Gedächtnis, am Bewusstsein, an der sozialen Position, also anhand der sozialen Rolle, oder einfach schlicht und ergreifend an biologischen Merkmalen. Unsere Identität entsteht wahrscheinlich aus der Summe der oben genannten Faktoren. Die Identitätsbestimmung kann dabei von zwei Seiten vorgenommen werden. Es gibt zum Einen die Selbstinterpretation und die Fremdinterpretation. Unter dem Begriff Gruppenidentität versteht man die Summe aller Zuschreibungen, die man für sich selbst annimmt, die aber auch mit den Merkmalen der anderen Gruppenmitglieder übereinstimmen, so zum Beispiel das Merkmal [Sprache= Catalan]. Auch hier besteht die Möglichkeit der Bestimmung einer Gruppenidentität durch Selbstinterpretation der Gemeinschaft und durch Fremdwahrnehmung. Aber auch die Auseinandersetzung mit Fremdbildern bestimmt das Verständnis von der eigenen Identität.

In einem sozialer Raum, nimmt zunächst jedes Individuum durch seine personale Identität einen bestimmten Platz, eine bestimmte soziale Rolle ein. Diese personale Identität wird durch bestimmte Eigenschaften einer Person definiert. Diesen identitätsstiftenden Eigenschaften widmet sich Bourdieu mit seinen Überlegungen, auf die ich an dieser Stelle näher eingehen möchte.

3. Der Kapitalbegriff nach Bourdieu

Man kann die Vorstellung des Soziologen Bourdieus von Identität einer Person als die Summe seines Kapitals und die damit verbundene Stellung im Raum, auf die ich später näher eingehen werde, verstehen, obwohl er den Begriff der Identität an sich nicht für sein Konzept des sozialen Raums nutzt. Dies impliziert, dass er die Bedeutung von Identität im biologischen Sinne außen vor lässt.

Im Folgenden möchte ich darlegen, in welcher Weise Bourdieu das Gesamtkapital aufgliedert.

3.1. Die Kapitalsorten

Den Oberbegriff Kapital kann man zunächst in zwei Richtungen aufspalten. In diesem Sinne ist Kapital einmal in seiner objektivierten Form als materielles Eigentum, als materielles Kapital zu betrachten, also zum Beispiel als Einkommen, als Kapitalertrag, Besitz an beweglichen Werten, zu verstehen als Eigentum von Objekten, sowie als Grundbesitz.

Gegenüber dem materiellen Kapital gibt es das kulturelle Kapital, welches in seiner inkorporierten Form als kulturelles Eigentum angesehen wird. Das kulturelle Kapital existiert in drei Formen, im inkorporierten kulturellen Kapital, im objektivierten kulturellen Kapital und im institutionalisierten Kapital.

Das inkorporierte kulturelle Kapital ist körpergebunden, da Inkorporation als Verankerung von Gewohnheiten im Körper verstanden wird. Somit wird dieses, welches hier bei Bourdieu zum Beispiel als Geschmack, Wissen und Benehmen definiert wird, in Automatismen transferiert. Dies setzt natürlich eine Verinnerlichung dieser voraus. Gewohnheiten werden in der primären Sozialisation der Familie erworben. Transformiert werden sie dann in den Bildungsinstitutionen. Somit hat das Bildungssystem die Reproduktion und Vermittlung von kulturellen Errungenschaften zur Aufgabe. In diesem Sinne lehrten zur Zeit der Einheit von Staat und Kirche in Spanien die Geistlichen in den Schulen bestimmtes Wissen und Ideologien immer in Zusammenhang mit dem katholischen Glauben. Der Unterricht gestaltete sich dabei sehr konservativ. Dagegen gestaltete sich der Unterricht während der 2. Politik und zur heutigen Zeit sehr liberal und fortschrittlich. Die zweite Form von kulturellem Kapital, das institutionalisierte Kapital, existiert in Form von Titeln, also schulischen Abschlüssen, akademischen Titeln etc., und wird zum Teil mit Hilfe der ersten Kapitalsorte gewonnen. Durch die Aneignung von Wissen und Titeln wird der Erwerb von ökonomischem Kapital begünstigt.

Das objektivierte kulturelle Kapital, existiert in Form kultureller Güter wie zum Beispiel in Büchern, Gemälden, Instrumenten, etc. . Hierbei fällt auf, dass die Grenzen der Kapitalsorten in einigen Fällen schwimmend verlaufen, da man ein Buch auch als Eigentum einer Person betrachten kann und somit auch dem ökonomischen Kapital zugeordnet werden kann.

Das kulturelle Kapital im Allgemeinen wird zur permanenten und weitgehend unauflöslichen Disposition und letztendlich zu einem Besitz. Dieser wird in diesem Moment zu einem festen Bestandteil einer Person, zum Habitus. Zum Begriff des Habitus möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, sondern ihn an anderer Stelle näher beleuchten.

Eine weitere Kapitalsorte stellt das soziale Kapital dar. Pierre Bourdieu bezeichnet den Begriff des sozialen Kapitals als Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die durch ein Netzwerk sozialer Beziehungen gegeben sind. Darunter kann man zum Beispiel Hilfeleistungen, Anerkennung und Wissen verstehen.

Bourdieu führte in seiner Theorie zum sozialen Raum das symbolische Kapital als vierte Kapitalsorte an. Dieser Begriff ergibt sich aus dem Zusammenwirken der anderen drei Kapitalsorten. Er spiegelt den Rang einer Person in der Hierarchie der Gesellschaft wieder und ist als das Ansehen, der guten Ruf, oder das Prestige einer Person der Gesellschaft zu begreifen. Das symbolische Kapital stellt einen nach außen wahrnehmbaren Lebensstil dar und findet unter anderem sichtbaren Ausdruck in der Art sich zu kleiden, der Sprachverwendung und der Einhaltung beispielsweise Nichteinhaltung von Anstandsregeln. Solche kulturellen Praktiken treten in sozial distinkten Varianten auf, denen im Allgemeinen bestimmte soziale Positionen entsprechen. So existieren nach Bourdieu

„[…] gesellschaftlich erkannte und anerkannte Unterschiede […] für Subjekte, die über die Befähigung hinaus, sie überhaupt wahrzunehmen, imstande sind, sie als bedeutsam und von Interesse auszumachen, mit anderen Worten für Subjekte mit der Fähigkeit wie Neigung, die im betreffenden sozialen Umfeld als bedeutsam erachteten Unterschiede auch selbst zu treffen.“

(Bourdieu, Pierre. 1991: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon.

Zwei Volesungen. Suhrkamp: Frankfurt am Main

Im Zuge der Darlegungen zum kulturellen Kapital möchte ich nun näher auf das Konzept des Habitus eingehen.

3.2. Der Habitus

Wie schon oben angeführt wird das kulturelle Kapital im Allgemeinen zur permanenten und weitgehend unauflöslichen Disposition und letztendlich zu einem Besitz. Dieser wird in diesem Moment zu einem festen Bestandteil einer Person, zum Habitus.

Nun stellt sich die Frage, was man unter dem Begriff des Habitus zu verstehen hat. Der Habitus ist

„[…] eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt.“

(Bourdieu, Pierre. 1993: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft.

Suhrkamp: Frankfurt am Main)

Man kann den Habitus auch als einen Ort der Determinismen und Entscheidungen begreifen.

Die Dispositionen enthalten dabei drei Aspekte: Wahrnehmungsschemata, Denkschemata, wie ethische Normen sowie ästhetische Maßstäbe, und Handlungsschemata. Solche Schemata und damit auch der Habitus ganz allgemein, beruht auf äußeren Erfahrungen und ist damit gesellschaftlich und historisch bedingt. Demnach folgt Bourdieu der Terminologie von Noam Chomsky, Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), USA, der generativen Grammatik der Handlungsmuster. Chomsky ist bekannt für seine Beiträge zur allgemeinen Sprachwissenschaft. Er förderte den Niedergang des Behaviorismus[1] und den Aufstieg der Kognitionswissenschaft[2].

„Jede Kultur setzt ihre Normen und Wertvorstellungen in eine soziale Praxis um. Die dahinter sichtbar werdenden Bedeutungen gilt es herauszustellen […]. […] Grundlage der Kulturanalyse muss deshalb auch die langangelegte historische Betrachtung sein, in deren Verlauf sich das kulturelle Gedächtnis stabilisiert. Nur durch das geschichtliche Bewusstsein wird die Kohärenz einer größeren sozialen Gruppe über die Zeit hinweg gesichert. das kulturelle Gedächtnis, in dem Normen und Wertvorstellungen gespeichert sind, verbürgt die Kontinuität einer Kulturgemeinschaft […]. Rituale, Zeremonien und Mythen, die entscheidend zur Identitätsdefinition einer Nation oder Region beitragen, können in ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung nur geschichtlich verstanden werden und bleiben in der kollektiven Erinnerung präsent.“

(Gimber, Arno. 2003: Kulturwissenschaft Spanien. Ernst Klett Sprachen GmbH: Stuttgart)

Dabei ist es von großer Wichtigkeit eine Kultur in der Geschichte, als auch in der Aktualität zu konzipieren.

„Nur durch die Verbindung von synchroner und diachroner Beschreibung können Kulturmuster erkannt und erklärt werden.“

(Gimber, Arno. 2003: Kulturwissenschaft Spanien. Ernst Klett Sprachen GmbH: Stuttgart)

Der Habitus eines potentiellen Dispositionsträgers bildet sich bereits von der Kindheit an durch die individuelle Einverleibung gesellschaftlicher Strukturen und der Ausbildung dauerhafter Dispositionen aus. Mit Hilfe dieses Dispositionsspeicher kann eine Person praktisch handeln. Somit wird klar, dass der Habitus, ähnlich einer Medaille, zwei Seiten besitzt: Dem potentiellen Träger von Dispositionen wird von der Gesellschaft theoretisches Wissen gelehrt. Dieser verleibt sich dieses individuell ein und kann damit praktisch in dem Spielraum handeln, indem er theoretisches Wissen besitzt. Es gibt also folglich ein Generatives Prinzip und ein Reproduktives Prinzip des Habitus.

Der Spielraum der Akteure in einem sozialen Raum wird zwar bestimmt, doch kann er sein Wissen innerhalb dieses Spielraums variabel einsetzten und variabel handeln. Somit kommt es zur Überwindung der Dichotomisierung von Struktur und Individuum, das heißt, dass das Konzept des Soziologen der subjektsuspendierenden strukturalistischen Handlungstheorie entsagt und somit den totalen Strukturalismus zurückweist. So spricht Bourdieu dem personalen Faktor in seinem Konzept des sozialen Raumes eine fundamentale und letztlich realitätskonstruierende Bedeutung zu. Erst der potentielle Dispositionsträger kann durch seine Verinnerlicherungsbereitschaft ein System von Dispositionen realisieren. Diesem verdankt das Vorhandensein objektiver Verhältnisse, beispielsweise objektiver Bedingungen ihre Existenz.

„[…] Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht[…], begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken, Kollektives in Form von Kultur […] oder […] im Sinn des Habitus, der den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet […], ohne dass dieser es merkte […].“

(Bourdieu, Pierre. 1983: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis.

In: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main.

Auf: file:///H:/Litheraturtheorie-Kultursoziologie-Bourdieu%20-%20Tour...,)

Bourdieu betont zwar, dass sich eine Person innerhalb ihres Habitus variabel bewegen kann, das Herausspringen aus ihm jedoch nicht möglich ist. Betrachtet man Menschen, die wider ihrer primären Sozialisation sehr stark vom Habitus ihrer Umgebung abweichen, stellt man sich die Frage wie man diese Phänomene in das Konzept von Bourdieu einzuordnen hat und ob dies überhaupt möglich ist, denn in diesen Fällen kann man ja davon ausgehen, dass sich der Habitus einer solchen Person wandelt beispielsweise erweitert. Des weiteren ist fraglich wie sich die Gesellschaft nach der Auffassung des Soziologen auf der Basis neuer Ideen, die natürlich bei einzelnen Personen auftreten müssen, weiterentwickeln können. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass ein Akteur nicht nur durch seine unmittelbare Umgebung, sondern auch durch Kontakte, die über die Grenzen dieser hinaus reichen, geprägt wird.

Auch der britische Soziologe Anthony Giddens, der für seine Theorie der Strukturierung bekannt ist und für die Soziologie bedeutende Werke wie Social Theorie and Modern Sociology (1987), das ins Deutsche übersetzte Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (1992) und Konsequenzen der Moderne (1995) verfasste, versuchte einen Mittelweg zwischen den Positionen zu finden, die den Vorrang sozialer Systeme beispielsweise des Individuums betonen und denen, die dem Individuum einen Vorrang einräumen. Dabei verweist Giddens auf die enge Beziehung zwischen sozialen Strukturen und individuellem Handeln. Soziale Strukturen, wie Traditionen und Institutionen beeinflussen zwar das Individuum, sie können aber auch ignoriert und ersetzt werden. Diese Auffassung beinhaltet die Annahme der Fähigkeit des Menschen zur reflexiven Selbstkontrolle im Prozess des Handelns, was bedeutet, dass Personen ein praktisches Bewusstsein besitzen und damit ihr Handeln verstehen. Damit besitzt theoretisch jede Person die Macht soziale Strukturen nicht nur zu produzieren und reproduzieren, wie Bourdieu beschreibt, sondern auch zu verändern. Bei solchen Überlegungen darf man jedoch nicht vergessen, dass es sich bei Bourdieus um eine Theorie des sozialen Raums handelt. Eine Theorie entwirft nur ein Bild der Realität. Es werden häufig auftretende Phänomene geordnet, erklärt, die dann in einem Modell wiedergegeben werden. Man kann sagen, dass Bourdieu voraussichtlich Phänomene, die er in Zusammenhang seiner Forschung beobachtet hat nach Wahrscheinlichkeiten ordnete. Anhand der Phänomene, auf die er dabei am häufigsten traf, nahm er eine Generalisierung vor. Somit ist zu sagen, dass das Konzept von Bourdieu nicht gänzlich zu falsifizieren ist, sondern lediglich um die Aspekte Giddens erweitert werden sollte.

Der Habitus einer Person , der wie oben schon erwähnt, einen Teil seines Kulturellen Kapitals ausmacht, definiert zusammen mit den drei weiteren Kapitalsorten die Identität jedes einzelnen Menschens. Da sich die Summe der Kapitale bei jedem Menschen anders zusammensetzt, besitzt jede Person andere Merkmale, also eine andere Identität. Bourdieu schuf in seinem Konzept einen mehrdimensionalen Raum, mit mehreren Systemen von Koordinaten, in dem er einer Person aufgrund ihrer Gesamtheit von Eigenschaften eine bestimmte Position zuordnete.

4. Das Konzept des sozialen Raums

Nach Bordieu stellt ein sozialer Raum einen Raum objektiver Beziehungen zwischen den Stellungen der Akteure dar. Wie soll man sich nun den sozialen Raum vorstellen? Fast jedem ist der mathematische Begriff der Vektorrechnung[3] aus der Schulzeit bekannt. Im Folgenden soll mit Hilfe der Darstellung eines dreidimensionalen Koordinatensystems ein solcher möglicher sozialer Raum schematisch dargestellt werden:

4.1. Die Stellung der Akteure im sozialen Raum

Wie in der Abbildung 1 zu erkennen ist, stellt die x- Achse das ökonomische, die y- Achse das kulturelle und die z- Achse das soziale Kapital dar. Diese Achsen besitzen jeweils die Einheiten 0 bis 5. Ausgehend von dem Punkt Null, also dem sogenannten Nullpunkt, steigt ein Kapital in Richtung des Punktes 5 stetig an. Nun stelle man sich eine beliebige Person A, in der Darstellung mit einem roten Punkt gekennzeichnet, vor. Diese Person besitzt den folgenden Kapitalpool:

ökonomisches Kapital (x): 1, kulturelles Kapital (y): 3, soziales Kapital (z): 4

Als Vektor a ( ) dargestellt, ergibt das Kapital der Person A: a ( ). Verfolgt man diesen Vektor in einem mehrdimensionalen Raum erhält man einen Punkt A mit folgenden Koordinaten A (1/3/4). Folglich nimmt die Person A in einem möglichen sozialen Raum genau diesen Punkt ein. Genauso verhält es sich mit der Person B, die den Punkt B (3/3/2) einnimmt und der Person C, welche sich durch den Punkt C (5/5/5) definiert.

In der Abbildung 1 ist gut zu erkennen, dass jede Person in einem sozialen Raum durch ihren individuellen Kapitalpool eine andere Position einnimmt.

Des weiteren ist im obigen Schema eine v- Gerade eingezeichnet, die das symbolische Kapital darstellen soll. Da sich dieser Oberbegriff nach Bourdieu aus dem Zusammenwirken der anderen drei Kapitalsorten ergibt, ist diese Achse als Diagonale vom Punkt (0/0/0) zum Punkt (5/5/5) zu begreifen. Das bedeutet, dass eine Person, die insgesamt weniger Kapital aufweisen kann, folglich auch weniger symbolisches Kapital besitzt, als eine Person mit einer höheren Kapitalsumme.

Natürlich gibt es Ausnahmen, die aber nur selten auftreten und deshalb für Bourdieu und seine Theoriebildung, die vom Durchschnitt ausgeht, keine große Rolle spielen.

Die durch die Kapitalverteilung erlangte Stellung verleiht jedem Akteur in einem sozialen Raum relative Macht.

4.2. Der Macht- und Zwangbegriff im Zusammenhang mit dem sozialen Raum

Bourdieu geht davon aus, dass das ökonomische Kapital das effektivste Machtmittel darstellt. Doch dem Akteur wird durch Kapital nicht nur Macht in einem sozialen Raum ermöglicht, sie kann auch eingeschränkt werden. Giddens nennt hier die Begriffe des strukturellen Zwangs und der negativen Sanktionen. Der strukturelle Zwang wird dabei als die Vorgegebenheit der Strukturmomente gegenüber Handelnden definiert. Als negative Sanktionen ist der Zwang, der aus der Bestrafung aufgrund von Handlungen entsteht, zu verstehen.

4.3. Die Verschiebung von Stellungen der Akteure innerhalb des sozialen Raums

Bourdieu geht davon aus, dass innerhalb eines sozialen Raums ein Netz objektiver Beziehungen besteht. Das heißt, jede Position wird objektiv durch die Relation und den Abstand zu anderen Positionen definiert. Dabei ist jede Position abhängig von der aktuellen Struktur des Feldes. Das bedeutet, dass die Position eines Akteurs, wie Bourdieu eine Person im sozialen Raum nennt, nicht zwangsläufig statisch ist. Somit können sich Stellungen auch verschieben. Positionen verschieben sich dabei vor dem Hintergrund der Loslösung vom Zwang hin zur Erlangung von Macht. Dabei kann ein Akteur, der sich zwischen zwei gegensätzliche Polen befindet, am einfachsten zwischen dem einen und dem anderen hin und her schwanken.

Diese Theorie kann man gut an dem Beispiel der spanischen Kirche unter Franco verdeutlichen:

„Der Katholizismus gehört zu den Konstanten der spanischen Kultur. Seit der restaurativen Verfassung von 1876, die de jure bis zur Zweiten Republik (1931) in Kraft blieb, war er Staatsreligion. Dann kam es bis 1936 zum ersten Mal zur Trennung von Staat und Kirche. Die katholische Religion stand jetzt in einem offenen Interessenkonflikt zur liberalen Kulturauffassung. So verwundert es nicht, dass sich Franco den Katholizismus […] zu Eigen machte, um seine Politik ideologisch zu untermauern.“

(Gimber, Arno. 2003: Kulturwissenschaft Spanien. Ernst Klett Sprachen GmbH: Stuttgart)

So wurden zum Beispiel die Prozessionen an Fronleichnam oder während der Karwoche vom Regime zu Propagandazwecken genutzt. Des weiteren wurde der Bürgerkrieg als „cruzada“ gerechtfertigt und in die Tradition des heiligen Jakobus[4] gestellt. Außerdem wurden Bischöfe während der Diktatur Francos unter anderem mit politischen Aufgaben betraut und zum Teil Kleriker als Abgeordnete in die Cortes berufen. Aber auch die Kirche versuchte einen Nutzen aus Francos Macht zu ziehen:

„ Die Kirche arbeitete mit Franco zusammen, da sie sich mit seinem Kampf gegen Freimaurer, ´Juden und Kommunisten´ identifizieren konnte.“

(Gimber, Arno. 2003: Kulturwissenschaft Spanien. Ernst Klett Sprachen GmbH: Stuttgart)

Die Bischöfe versprachen Franco, ihm uneingeschränkt zu vertrauen. So bekannte sich zum Beispiel Kardinal Isidro Gomá, Erzbischof von Toledo, 1936 zu Franco und veröffentlichte am 1. Juli 1937 die berühmte Carta colectiva der spanischen Bischofskonferenz, wo der Klerus den Bürgerkrieg als Reaktion auf die kommunistische Revolution rechtfertigte und den religiösen Charakter der nationalen Erhebung herausstellte.

„Natürlich muss man die Parteinahme der Kirche vor dem Hintergrund der Zweiten Republik gesehen werden: Schon einen Tag nach der Ausrufung der Republik am 15. April 1931 wurde die Gewissensfreiheit verkündet, und am 11. Mai kam es zu ersten Ausschreitungen gegen Kirchen und Klöster. Am 23. Mai folgte ein Dekret, wodurch religiöse Symbole wie Kreuze und Marienbilder in staatlichen Schulen nicht mehr erlaubt waren […]. Säkularisierungsmaßnahmen, die einem Kulturkampf gleichzusetzen sind, betrafen auch die Jesuiten, die des Landes verwiesen wurden, und den Rest der weltzugewandten Ordensgeistlichen, denen die Republik […] die Lehrerlaubnis entzog.“

(Gimber, Arno. 2003: Kulturwissenschaft Spanien. Ernst Klett Sprachen GmbH: Stuttgart)

Innerhalb eines sozialen Raums von objektiven Beziehungen treten zwischen Akteuren Interaktionen auf, das heißt er stellt auch einen räumlichen Bezugsrahmen für Interaktionen dar.

4.4. Interaktionen im sozialen Raum

Der Soziologe Anthony Giddens unterscheidet in diesem Sinne den sozialen beispielsweise gesellschaftlichen Raum in zwei verschiedene Arten. Einmal definiert er ihn durch das gemeinsame und physische Auftreten von Personen zu einer Zeit in der Situation einer unmittelbaren Interaktion. Des weiteren definiert er ihn unter einem anderen Gesichtspunkt, als einen Raum der Interaktionen von Personen, die nicht physisch anwesend sind und die auch Glieder der Vergangenheit und der Zukunft umfasst:

„[…] en el espacio constituiodo por la copresencia física de personas en una situación de interacción social inmediata. [...] espacio social constituido por la interacción de personas que no están físicamente presentes, y abarca también a miembros de futuras o ya desaparecidas generaciones.”

( Giddens, Anthony. 1987. In: Dieter Goetze: Fiestas y Santos.

La construcción simbólica de espacios sociales en España.

In: Iberoamericana. América Latina - España – Portugal.

Ensayos sobre letras, historia y sociedad. Notas. Reseñas iberoamericanas;

Nueva Época Año IV (2004) No 13)

Des weiteren unterscheidet er drei zeitliche Arten, die Situationen und Interaktionen koordinieren:

„El primer modo es el del tiempo reversible de la vida cotidiana con la repetición de actividades día tras día. El segundo modo consiste en el tiempo irreversible del ciclo vital de cada individuo [...]. El tercer modo, finalmente, lo constituye el tiempo de las instituciones, con una duración siempre mucho mayor que los ciclos vitales del individuo [...].”

( Giddens, Anthony. 1987. In: Dieter Goetze: Fiestas y Santos.

La construcción simbólica de espacios sociales en España.

In: Iberoamericana. América Latina - España – Portugal.

Ensayos sobre letras, historia y sociedad. Notas. Reseñas iberoamericanas;

Nueva Época Año IV (2004) No 13)

[...]


[1] Behaviorismus: Der Behaviorismus geht auf Watson zurück und entwickelte sich in den 1920er Jahren. Er „[…] sieht beim Lernen eine Verknüpfung von einem Stimulus mit einem Respons durch Konditionieren. Nur das Verhalten ist beobachtbar: die Reize der Außenwelt wirken auf den Organismus und diese Wirkung, nicht interne mentale Faktoren, steht für die behavioristische Lerntheorie bei jeglicher Art von Lernen im Fokus. […] auf ein Signal folgt eine bestimmte Reaktion. Eine Verhaltensweise wird nach dem Prinzip Versuch und Irrtum (trial und error) dann, gelernt, wenn seine Verstärkung, ein Reinforcement zur Folge hat.“

(Oksaar, Els. 2003: Zweitspracherwerb.Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung. Kohlhammer: Stuttgart)

[2] Kognitiojnswissenschaft: „ Ihr Gegenstandsbereich umfaßt die perzeptiven und kommunikativen Prozesse wie Wahrnehmung, Denken, Problemlösen, Gedächtnis und Sprache. […] Vor diesem Hintergrund wird menschliches Verhalten als ein komplexes System mentaler Strukturen gesehen.“

(Oksaar, Els. 2003: Zweitspracherwerb.Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung. Kohlhammer: Stuttgart)

[3] Vektor (lat.): Ein Vektor ist eine mathematische, durch eine gepfeilte Strecke dargestellte Größe. Er gibt einen Anfangspunkt, eine Richtung und einen Betrag in Form der Länge des Pfeils an. Bezeichnet wird er mit Buchstaben der deutschen Sprache (x, y, z).

[4] der Heilige Jakobus gilt als mythischer Initiator der Reconquista in Spanien.

Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Spaniens Identität[en]
Untertitel
Ein Land zwischen Einheit und Peripherie
Hochschule
Universität Leipzig  (Romanistik)
Veranstaltung
Spaniens schwierige Identität[en]
Note
1.0
Autor
Jahr
2008
Seiten
54
Katalognummer
V133058
ISBN (eBook)
9783640670833
ISBN (Buch)
9783640670949
Dateigröße
1577 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialer Raum, Soziale Klasse, Soziales Kapital, Identität, Bourdieu, Giddens, Peripherie, Spanien, Hispanistik, Kulturwissenschaft
Arbeit zitieren
Tina Hofmann (Autor:in), 2008, Spaniens Identität[en] , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133058

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