Und er verändert sich …

Vergleich der 1. und der 3. Fassung von Brechts „Leben des Galilei“ hinsichtlich Brechts Einschätzung der Rolle des Wissenschaftlers


Hausarbeit, 2004

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Prolog

I. Brechts Wissenschaftsbild

II. Entstehungsgeschichte
1. Erste Ideen
2. Dänische Fassung
3. Amerikanische Fassung
4. Berliner Fassung

III. Struktur und Aufbau
1. Einteilung des Stücks
2. Gestaltungsmittel
3. Episches Theater?

IV. Inhaltlicher Vergleich der Dänischen und Berliner Fassung

Epilog

Bibliographie

Prolog

Das Leben des Galilei gilt als eines der Hauptwerke Bertolt BRECHTs. Es ist sowohl sein repräsen-tativstes als auch sein persönlichstes Stück. Hinsichtlich der Dramaturgie und der Darstellungs-weise repräsentiert es BRECHTs Episches Theater1, das der Dramatiker in seinen theatertheore-tischen Schriften2 entworfen hat. Die einfühlenden Hymnen auf die neue Zeit und die schwungvolle Ausgestaltung der Hauptfigur durchkreuzen jedoch BRECHTs dramaturgische Ansprüche. Aller-dings werden dadurch, sowie durch die langjährige Auseinandersetzung mit dem Stoff, BRECHTs persönlichen Intentionen in dem Stück evident. Überspitzt und zu Recht bezeichnen Günther HEEG und Stefan SCHNABEL das Stück als „ein Selbstportrait im Spiegel der historischen Figur Galilei“3. BRECHT hielt Galileo Galilei für einen der wichtigsten Begründer des wissenschaftlichen Zeitalters, das der Autor in seinen Schriften postulierte und zeitlebens propagierte. Fast 20 Jahre lang hat sich der Dramatiker, Theatertheoretiker und Regisseur immer wieder mit dem Stoff auseinander-gesetzt. Das Drama um den Begründer der modernen Physik, den Verräter Galileo Galilei, ließ BRECHT bis zu seinem Tode nicht los. Dabei ging es ihm nicht so sehr darum, den Charakter Galileis darzustellen - vielmehr beabsichtigte BRECHT die Rolle des Wissenschaftlers in der Ge-sellschaft anhand der Biographie des italienischen Gelehrten herauszustellen. Zeithistorische Ereignisse und persönliche Erfahrungen reflektierend arbeitete BRECHT das Stück mehrmals um. Als Ergebnis seiner langjährigen Auseinandersetzung mit dem Leben des Galilei liegen drei Stück-fassungen vor, die bezeichnend sind für die Entwicklung von BRECHts Auffassung von Wissen-schaft und Gesellschaft. Die drei Fassungen unterscheiden sich insbesondere in der Einschätzung der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Forschung.

In dieser Arbeit wage ich mich an einen Vergleich der ersten - nach ihrem Entstehungsort benannten Dänischen Fassung - und der dritten, so genannten Berliner Fassung. Ich beziehe mich dabei auf die Textvorlagen in der Brecht-Jubiläumsausgabe Spectaculum4. Darüber hinaus ziehe ich Ergebnisse der Brecht-Forschung heran. In meinem Vergleich gehe ich von der Entwicklungs-geschichte des Stücks aus, um zu verdeutlichen, inwieweit sich die wandelnden zeithistorischen Umstände in den verschiedenen Fassungen niederschlagen. Anschließend betrachte ich die Struk-tur und den Aufbau des Stücks, um dann die inhaltlichen Unterschiede am Text selbst her-auszuarbeiten. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf Brechts Auffassung von Wissenschaft und Aufklärung.

I. Brechts Wissenschaftsbild

Für BRECHT gab es einen logischen Zusammenhang zwischen dem wissenschaftlichen Zeitalter, eingeleitet durch Francis BACON (1561-1626) und Galileo GALILEI (1564-1642), dem Marxismus, der die induktiven, empirischen Methoden der modernen Naturwissenschaften auf die Gesell-schaft anwendet und der Relevanz des wissenschaftlichen Zeitalters für die Gesellschaft und die Kunst, insbesondere für das Theater.

BRECHT betrachtete das Theater als Ort der Aufklärung, an dem das Volk zum marxistischen Klassenkampf aufgerufen werden soll. Um dies zu erfüllen, entwarf er mehrere theoretische Schriften, die methodische Anweisungen liefern. BRECHT selbst arbeitete an vielen seiner Stücke nach diesen Vorgaben.

Francis BACONS Novum organum scientiarum war Vorbild für BRECHTs Ästhetik des wissen-schaftlichen Zeitalters, die er 1948 unter dem Titel Kleines Organon für das Theater veröffentlichte. BACONs Novum Organum wendete sich gegen die traditionellen Gedankensysteme, die nach dem aristotelischen Weltbild auf Geschlossenheit und innere Logik der Naturphänomene setzten. Statt Überblick forderte BACON exaktes empirisches Sehen, statt Wissen und Glauben Zweifel, statt dem Ziel den Weg5. Er verlangte die Anwendung der offenen Form, die sich gegen die traditionellen, deduktiven Gedankensysteme richtet. Auch BRECHT forderte diese Grunds]ätze in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen. Er war davon überzeugt, dass die Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft der Natur erheblich im Verzug sei. Während mit BACON, GALILEI, EINSTEIN und anderen Wissenschaftlern der vergangenen Jahrhunderte die Naturwissenschaft eine höhere Erkenntnisebene erreicht hat, seien die Menschen den Bewegungen der herrschenden Autoritäten blind unterworfen. Der Mensch könne Atome spalten, die Bahnen der Himmelkörper nachvollziehen, doch die Bewegungsgesetze der Gesellschaft verstünde er nicht, argumentiert BRECHT. Die unverstandenen menschlichen Gesetze stehen jedoch einer sinnvollen und humanen Nutzung der Naturwissenschaften im Weg. Aus diesem Grund bedarf es Methoden, die gesellschaftliche Erkenntnisprozesse voranbringen. BRECHT verlangte die empirische, unter strengen Kriterien stehende Untersuchung menschlicher Phänomene – dies konnte in BRECHTS Augen der Marxismus leisten. Dieser überträgt die wissenschaftlichen Forschungsmethoden auf die Analyse der Gesellschaft, will die Ursache und Wirkung der Gesellschaftsmechanismen ergründen, um die natürlich und selbstverständlich gewordenen Vorgänge ändern zu können.

Die Methode, mit deren Hilfe gesellschaftliche Vorgänge ihrer „Natürlichkeit“ und Schicksalhaftigkeit entkleidet werden, um ihre Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit offen zu legen, nennt BRECHT Verfremdung.6 Auf das Theater angewendet spricht er vom Verfremdungseffekt (V-Effekt). Verfremdung korrespondiert in BRECHTs Theorie mit dem Begriff der Historisierung. Der wiederum besagt, dass die Gegenwart als Geschichte begriffen wird, insofern sie als veränderbar erfahren wird.

So gesehen scheint es nicht verwunderlich, dass sich BRECHT einem historischen Stoff zuwandte. Sein Standpunkt war dialektisch. Von dort aus wirft die Darstellung historischer Ereignisse im Spiegel der Gegenwart ein neues Licht auf die geschichtlichen Gegebenheiten und offenbart Handlungsspielräume, die wiederum Anwendung in vergleichbaren gegenwärtigen Situationen finden können. Durch Historisierung erhellen sich die immanenten Möglichkeiten der gegebenen Tatsachen.

Leben des Galilei ist das einzige Stück BRECHTs, das sich durchweg mit der Problematik des wissenschaftlichen Zeitalters befasst. Anhand der Biographie des Galilei führte Brecht die komplexe Struktur der modernen Naturwissenschaften auf das Elementare und zugleich Modell-hafte zurück. Dabei bediente er sich der naturwissenschaftlichen Methode, das Allgemeine in seine Einzelteile zu zerlegen und dadurch auf das Wesentliche zu stoßen. Dadurch, dass die Dinge bis auf die Atome auseinander genommen werden, kann ihr Wesen bestimmt und ihre Ganzheit verstanden werden.

Mit der Biografie des Galilei gelang es BRECHT, die Problematik der modernen Wissenschaft durch einen historischen Inhalt darzustellen. Die sehr auf die Person Galilei konzentrierte Darstellungsweise gibt im Kleinen wieder, was im Großen gemeint ist. Durch die Dramatisierung Galileis Leben zeichnete BRECHT ein Bild der neuen Zeit mit all ihren Problemen und Gefahren.

II. Entstehungsgeschichte

Von allen Stücken BRECHTS hat das Leben des Galilei die längste und komplexeste Entwick-lungsgeschichte durchlaufen. Die umfangreiche Brecht-Forschung spricht von drei verschiedenen Stückfassungen, die sich in ihrem Aufbau und ihrer Struktur weitgehend gleichen, jedoch in ihrer Tendenz und Aussage erheblich unterscheiden. Schon dieser Fakt weist darauf hin, dass die Bearbeitungen nicht aus rein ästhetischen Gründen geschahen, sondern in hohem Maße den veränderten Ansichten des Autors geschuldet waren. Typisch für BRECHTS Arbeitsweise, die sich stark an der Theaterpraxis orientierte, erfolgten die Umarbeitungen in Hinblick auf geplante Aufführungen. In hohem Maße bezogen sie zeitgeschichtliche Ereignisse mit ein. Vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Wirklichkeit versetzte Brechts das Stück jeweils auf den aktuellen Stand seiner politisch motivierten intellektuellen Reflexionen.

1. Erste Ideen

Bereits 1932 soll BRECHT den Plan gehegt haben „interessante Gerichtsverfahren von der Antike bis zur Gegenwart auf die Bühne zu bringen“7. Dabei dachte er auch an den berühmten Prozess des italienschen Naturwissenschaftlers Galileo GALILEI, der 1633 in Rom stattfand. Dieses Vorhaben setzte er nicht um. Stattdessen beschäftigte sich der Dramatiker, der auch Medizin und Natur-wissenschaften studiert hatte, u.a. mit der Rolle der Wissenschaftler in diktatorischen Staats-ystemen.8

2. Dänische Fassung

Die erste vollständige Fassung des Stücks wurde im November 1938 fertig gestellt. In der Rekordzeit von nur drei Wochen verfasste der Autor das komplexe Stück, das in der ersten Version 13 Bilder umfasst. Die Brecht-Forschung bestätigt, dass der Niederschrift intensive Studien über historische Fakten zu der Person Galilei, seinen Lebensumständen sowie Studien über naturwissenschaftliche Erkenntnisse vorangegangen waren. Kontakte zum Kopenhagener Bohr-Institut verschafften BRECHT Einsicht in physikalische und astronomische Fragestellungen. Von der Kernspaltung wusste er zu dem Zeitpunkt als die Urfassung niedergeschrieben wurde allerdings noch nichts, wie Jan Knopf betont.9

Die vollständige Erstfassung entstand im dänischen Exil unter dem Titel Die Erde bewegt sich. BRECHT stellte damit den Widerstand des Galilei in den Vordergrund.

Die ersten Entwürfe zeigen Galilei als positive Figur. Er ist ein Widerstandskämpfer, der sein Wissen ans Volk tragen will. Im Sinne der Keuner-Geschichte10 erscheint Galileis Widerruf als bewusster Plan, um seine Arbeit illegal fortführen zu können.

In Anbetracht der politischen Ereignisse11 im September 1938 wirkte Brechts Haltung des Widerstands jedoch unzeitgemäß. Die schwindende Hoffnung den faschistischen Terror abzu-wenden, beraubte seiner Galilei-Figur den Vorbildcharakter. „Inmitten der schnell wachsenden Finster-nis über einer fiebernden Welt (...) ist es schwer, eine Haltung einzunehmen, die sich für Leute an der Schwelle einer neuen und glücklichen Zeit schicken mag. Deutet nicht alles daraufhin, dass es Nacht wird, und nicht das eine neue Zeit beginnt?“12 Trotz der zunehmenden Finsternis über Europa hielt BRECHT fest an seiner hoffnungsvollen Haltung, die verdeutlicht, dass Fortschritt und Aufklärung durch finstere Zeiten verdunkelt jedoch nicht ausgelöscht werden können. „Brechts Intention ist der historische Nachweis, dass die aufkommende Barbarei den Fortschritt der Wissenschaft und der Menschheit nicht wird aufhalten können.“13

Bis Februar 1939 wurden an der ersten Fassung, die nunmehr den Titel Leben des Galilei trug, diverse Korrekturen vorgenommen. Die Figur des Galilei erscheint dadurch weitaus wider-sprüchlicher. In der entscheidenden Situation vermag sie den gesellschaftlichen Zwängen nicht zu widerstehen. Die Schwäche erkennend zieht Galilei Konsequenzen aus seinem Verhalten. Er schließt sich selbst aus dem Stand der Wissenschaftler, in dem er breites Ansehen genossen hatte, bevor er ihn durch seinen Widerruf diskreditierte, aus. Obwohl sich Galilei als Person auslöscht, kommt sein Wissen der Menschheit zugute, indem es sich unabhängig von seiner Person ausbreitet.

BRECHT brachte die erste Fassung im Selbstvertrieb in Umlauf. Unter dem Titel Galileo Galilei wurde das Stück am 09. September 1943 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. BRECHT bemängelt die positive Einschätzung der Figur des Galilei durch das Publikum der Züricher Inszenierung. Hatte der Autor vor allem versucht die Vielschichtigkeit des Widerrufs, der zwischen Verrat und kluger Taktik pendelte, zu verdeutlichen und den Menschen Galilei in seiner Widersprüchlichkeit darzustellen, so wirkte der Galilei der Uraufführung unter der Regie von Leonard Steckel, der auch die Hauptrolle übernahm, sehr eindimensional und „legendär“.

3. Amerikanische Fassung

Im April 1944 meldet der „regisseur-produzent“14 Jed HARRIS Interesse an dem Galilei-Stoff an. Mit dem Abstand von fünf Jahren nahm BRECHT im kalifornischen Exil die Arbeit am Leben des Galilei wieder auf. Kritisch setzt er sich mit der Moral der ersten Fassung auseinander. In seinem Arbeitsjournal resümiert BRECHT: „[Durch seinen Widerruf] „zerstörte [Galilei] schließlich nicht nur sich als person, sondern auch den wertvollsten teil seiner wissenschaftlichen Arbeit. (...) g gab den eigentlichen fortschritt preis, als er widerrief, er ließ das volk im stich, die astronomie wurde wieder ein fach, domäne der gelehrten, unpolitisch, isoliert“15,.

In Kooperation mit dem britischen Schauspieler Charles LAUGHTON bearbeitete BRECHT systematisch die zweite Version des Dramas, die so genannte Amerikanische Fassung. Sie trägt den Titel Galileo. Satz für Satz, Szene für Szene arbeiten BRECHT und LAUGHTON an dem Stück. „Bei der englischen Fassung handelt es sich um den äußerst seltenen Fall (...), dass der Autor in einer ihm fremden Spreche mit seinem Hauptdarsteller auf der Grundlage einer vorhandenen Fabel und eines bereits geschriebenen Stückes einen neuen Text erarbeitet. Fabel und Szenen entstehen im Prozeß noch einmal neu. 16 ' Die Arbeit ist in Buchform dokumentiert.17

Die amerikanische Fassung betont Galileis Verrat und Versagen. Im Vordergrund steht „ die individuelle Verantwortung des Wissenschaftlers für die gesellschaftlichen Folgen seiner Entdeckung.'18 Das Stück endet in Galileis Selbstanklage. Die letzte Szene, in der die Discorsi die Grenzen überschreitet, entfällt. Damit liegt der Fokus auf der Figur des Galilei, der zwischen Fall und Hybris seine ungenutzten Möglichkeiten und damit seine Schuld beschwört.

Der als unpolitisch geltende LAUGHTON war darum bemüht Galilei als einen Verbrecher darzu-stellen.19 Änderungen, die aus ästhetischen Gründen vorgenommen wurden, führten gleichsam zu einer 'politischen verschärfung', notiert Brecht ins Arbeitsjournal.20

Obgleich BRECHT intensive Probearbeiten mit Charles LAUGHTON betrieb, hatte der Autor dem Stück nicht besonders viel Aktualität beigemessen. Dies ändert sich schlagartig, als im August 1945 Atombomben auf Hiroshima fielen. BRECHT dazu: „Das ‚atomarische Zeitalter‘ macht sein Debüt in Hiroshima in der Mitte unserer Arbeit. Von heute auf morgen las sich die Biographie des Begründers der großen Physik anders. Der infernalische Effekt der großen Bombe stellte den Konflikt des Galilei mit der Obrigkeit seiner Zeit in ein neues, schärferes Licht.' 21 Die Größe der Physik, die Macht der Wissenschaft war plötzlich zu einem Fluch geworden, der unkontrollierbar ausgenutzt werden konnte. Unter den Wissenschaftlern setzte Ernüchterung ein. „Es war schimpflich geworden, etwas zu entdecken'22 bemerkte BRECHT.

Blieb in der ersten Fassung die Frage nach der Verantwortlichkeit Galileis außer Acht, so wurden in der Amerikanischen Fassung die Zwänge, die Galilei bestimmen, herausgestellt – in Verbindung mit den Möglichkeiten, die der Physiker hatte. Es wird deutlich, dass „Galilei in seinem Handeln nicht mit seinen individuellen Einsichten und Möglichkeiten Schritt hält'23. Er hatte die Möglichkeit, doch er handelte nicht nach ihr. So konnte er zu keinem Zeitpunkt zu einem Vorbild der Zeit werden: „Galileis Verbrechen kann als ‚Erbsünde‘ der modernen Naturwissenschaften betrachtet werden. Aus der neuen Astronomie (...) machte er eine scharf begrenzte Spezialwissenschaft (...). Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner [Galileis] wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.“24 So gesehen kann der Fall Galileis als „<Sündenfall> der bürgerlichen Wissenschaft, die sich in den Elfenbeinturm zwingen ließ, anstatt gesellschaftlichen Entwicklungen zu dienen“25, interpretiert werden.

3. Berliner Fassung

Die dritte Fassung des Leben des Galilei entstand im Zusammenhang mit den weiteren Ent-wicklungen des „Sündenfalls“. Nachdem auch die Sowjetunion Atombomben entwickelt hatte, stand die Welt vor einer neuen Qualität politischer Verantwortung, verursacht durch Massen-vernichtungswaffen aus wissenschaftlichen Laboratorien. Hinzu kam die Erfindung der Wasser-stoffbombe in den USA, die mit einem Mal alles Leben auf der Erde in Frage stellte. Auf Grundlage der wissenschaftlichen Entwicklungen hatte die Welt Mittel erschaffen, um sich in einem Schlag selbst auszulöschen. In den Händen der Politik wurden diese Waffen zu einem mahnenden Ausdruck der Macht. In Anbetracht der unermesslichen Möglichkeiten und Ge-fahren wissenschaftlicher Entwicklungen setzte eine fragwürdige Beschränkung der Freiheit der Wissenschaften ein. Exemplarisch dafür standen zwei herausragende Fälle: 1951 die Hinrichtung der „Atomspione“ Ethel und Julius ROSENBERG. 1954 der Prozess gegen den Atomphysiker Robert J. OPPENHEIMER.

Brecht verfolgte den Oppenheimer-Prozess intensiv - erschien er doch geradezu wie die zeitgenössische Wiederholung des Fall Galileis. Aus den zeitgeschichtlichen Tendenzen seit dem Bombenabwurf auf Hiroschima zog BRECHT seine Schlüsse: Ein Krieg sei nicht mehr nötig, um „die Welt zu vernichten: Durch die Entwicklung der Atomphysik genügen die Kriegvorbereitungen dazu.“26 Aus dieser Einsicht heraus begann der Autor Ende 1953 mit der Übersetzung der amerikanischen Galilei-Fassung ins Deutsche. Dazu beauftragte er Elisabeth HAUPTMANN und Benno BESSON. Zusammen mit den beiden Übersetzern und seiner Mitarbeiterin Ruth BERLAU redigierte BRECHT die einzelnen Szenen. Struktur und Tendenz der Amerikanischen Fassung blieben erhalten, jedoch fügte Brecht Szenen und Textpassagen aus der ersten Fassung wieder ein.27 Somit wurde der ursprüngliche Umfang des Stücks wieder hergestellt. Durch die Einfügung der letzten Szene verlor Galilei das letzte Wort zugunsten der Zukunftsperspektive in der sich das Wissen gemein-schaftlich ausbreitet.

Sprachlich wurde das Stück gestrafft, besonders in metaphorischer Hinsicht. Dies mag damit zusammenhängen, dass BRECHT wieder in seiner Muttersprache arbeiten konnte.

[...]


1 Auch genannt: dialektisches Theater.

2 Vgl. Bertolt Brecht: Der Messingkauf, Das kleine Organon des Theaters in: Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Werkausgabe, Frankfurt am Main 1967.

3 StefanSchnabel: Die Entzauberung der Welt, Aufsatz im Programmheft zur Inszenierung Leben des Galilei am Staatschauspiel Dresden Sept. 2003 siehe auch Günther Heeg: Vorlesungsniederschrift vom 04.05.2004.

4 Spectaculum – Sonderband zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht, Frankfurt am Main 1998, Heft 65

5 Jan Knopf: Brecht Handbuch Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche, Stuttgart 1986, S. 459.

6 Vgl: Wolfgang Hallet: Bertolt Brecht – Leben des Galilei, München 1991, S. 16

7 Spectaculum 65, S. 19.

8 Bereits in anderen Texten setzt sich Brecht mit der Situation der Wissenschaftler im faschistischen Deutschland auseinander, z.B. Furcht und Elend des III. Reiches.

9 Vgl: Jan Knopf: Brecht Handbuch Theater, Stuttgart 1980, S. 145.

10 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Band 17, S. ???.

11 Münchner Abkommen am 29.09.1938, daraus folgend Annexion Sudetendeutschlands; Auseinanderbrechen der Volksfront in Spanien und der sich abzeichnende Sieg Francos.

12 Bertolt Brecht: Vorwort zur ersten Fassung zitiert nach Gesammelte Werke, Band 17, S. 1105.

13 Jan Knopf: Brecht Handbuch Theater, Stuttgart 1980, S. 139.

14 ebd., S. 37.

15 ebd.

16 Spectaculum 65, S. 136.

17 Vgl: Bertolt Brecht: Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei, Berlin 1956.

18 Spectaculum 65, S. 137.

19 Brecht zitiert nach Werner Hecht (Hg.): Brechts Leben des Galilei, Frankfurt am Main 1981, S. 41.

20 ebd.

21 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Band 17, S. 1106.

22 ebd. , S. 1108.

23 ebd., S. 174.

24 Brecht zitiert nach Werner Hecht, Frankfurt am Main 1989, S. 56.

25 Jan Knopf: Brecht Handbuch Theater, Stuttgart 1980, S. 147.

26 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Band 20, S. 339.

27 Rede auf die neue Zeit, Pestszene, 15. Szene: Andrea schmuggelt die Discorsi über die Grenze.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Und er verändert sich …
Untertitel
Vergleich der 1. und der 3. Fassung von Brechts „Leben des Galilei“ hinsichtlich Brechts Einschätzung der Rolle des Wissenschaftlers
Hochschule
Universität Leipzig  (Theaterwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
27
Katalognummer
V132789
ISBN (eBook)
9783640415311
ISBN (Buch)
9783640411658
Dateigröße
634 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vergleich, Fassung, Brechts, Galilei“, Brechts, Einschätzung, Rolle, Wissenschaftlers
Arbeit zitieren
Berit Bethke (Autor:in), 2004, Und er verändert sich …, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132789

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