Thiel – Ein Leben in geordneten Bahnen

Liebe, Sexualität und Wahnsinn in Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“


Hausarbeit, 2005

15 Seiten, Note: 2,7

Anonym


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Die Rolle des Erzählers für die Leserwahrnehmung von Figuren und Konflikten

3 Grundlegendes zur Charakterisierung des Bahnwärter Thiel

4 Bahnwärter Thiels im Dreiecksverhältnis zwischen Minna und Lene
4.1 Des Bahnwärters erste Frau Minna
4.2 Des Bahnwärters zweite Frau Lene
4.3 Veränderungen im Leben Thiels und deren Konsequenzen

5 Die Unabwendbarkeit des Wahnsinns und die daraus resultierende Katastrophe
5.1 Thiel und die gewaltsame Konfrontation seiner getrennten Lebenssphären
5.2 Chronologie des Wahnsinns

6 Die Schlüsselrolle des Kindes Tobiaschen

7 Fazit

8 Literatur

1 Einleitung

Im Jahr 1888, nicht lange vor Sigmund Freuds Schriften zur Psychoanalyse, veröffentlichte Gerhart Hauptmann seine „novellistische Studie“Bahnwärter Thiel. Trotz vieler Naturschilderungen schuf er damit nicht etwa ein „freundliches Stillleben“, sondern das „beklemmende Psychogramm eines gepeinigten Menschen“.1 – Nicht ohne Grund wird daher von der Erzählung gesagt, sie markiere den Übergang zur Moderne.

Bereits im Titel deutet sich an, wie in der Person „Bahnwärter Thiel“ Beruf und Name verschmelzen, zu einem Konzept des Seins werden. Entfremdung und Ich-Dissoziation des ‚Helden’, die so typisch sind für die Literatur um 1900 und mehr noch für die des Expressionismus, werden thematisiert.2

Nachdem die erste Frau des Bahnwärters, Minna, bei der Geburt des gemeinsamen Sohnes Tobias(chen) verstorben ist, heiratet Thiel die Kuhmagd Lene. Nicht nur äußerlich bildet diese das komplette Gegenstück zur ersten. – Die Beziehung Thiels zu den beiden Frauenfiguren, zur toten ‚Femme fragile’ und zur lebenden ‚Femme fatale’, ist für den schicksalhaften Ausgang der Erzählung fortan von zentraler Bedeutung. Denn die Frauen wurden vom Autor als Typen konzipiert, die innerhalb der Erzählung bestimmte Funktionen ausüben. Um ihnen gleichermaßen einen Platz in seinem Leben zu willigen, schafft sich Bahnwärter Thiel zwei ‚Räume’. – Wie es von diesen Grundvoraussetzungen ausgehend schließlich zur Katastrophe – dem Wahnsinn und Morden Thiels – kommt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

Dabei steht im Vordergrund der Betrachtung die Unabwendbarkeit des Unglücks. – Auch die Frage, ob der Schluss eher überraschend kommt oder vielmehr als Konsequenz eines schleichenden Prozesses angesehen werden sollte, ist diesbezüglich von Bedeutung.

Dazu wird zunächst die Charakterisierung des Bahnwärters untersucht – besonders, ob in dieser womöglich bereits Eigenschaften zu erkennen sind, die Thiel für den späteren Wahnsinn prädestinieren. Anschließend wird dessen Beziehung zu den beiden Frauenfiguren näher beleuchtet, bevor dann Überlegungen zum Hergang der Katastrophe erfolgen. Zum Schluss wird die Schlüsselfunktion des Kindes Tobiaschen innerhalb der Erzählung dargelegt.

Doch zuerst lohnt es sich, einen Blick auf die besondere Rolle des Erzählers imBahnwärter Thielzu werfen, da diese für die Leserwahrnehmung sehr wichtig ist.

2 Die Rolle des Erzählers für die Leserwahrnehmung von Figuren und Konflikten

Obwohl er den Anschein von Objektivität zu wahren sucht, lenkt der stark auktoriale Erzähler von Beginn an alle Geschehnisse. Gezielt steuert er, gleich einem Regisseur, die Blickweise des Lesers auf die einzelnen Figuren sowie Konflikte.

Er besitzt zudem die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Den Fokus richtet er dabei vornehmlich auf Bahnwärter Thiel.

Zunächst versucht er in Gestalt der „Leute“ eine möglichst neutrale Außensicht zu vertreten. „Die Leute“ kommentieren, wie Thiel angeblich sei und welche Frau zu ihm passen würde.3 Bemerkenswert ist außerdem, dass der Erzähler kein einziges Wort über die Anbahnung der Ehe mit Thiels erster Frau Minna verliert, zum Beispiel über etwaige Hindernisse oder Schwierigkeiten bei der Annäherung an sie.4 Die Phase des Kennenlernens, der Heirat und des Todes der ersten Frau ist sehr stark zusammengefasst. Nach einer raschen Schilderung der Ereignisse sagt der Erzähler plötzlich, augenscheinlich unbetroffen vom Tod und angeblich stellvertretend für Thiel: „[...]; das war das Ganze.“5 Auch dass Thiel ein Kind hat, bei dessen Geburt Minna verstarb, wird erst wesentlich später erwähnt.6 – Dieses ‚Spiel’ geht weiter, indem „die Leute versicher[ ]n, kaum eine Veränderung [an Thiel] wahrgenommen“ zu haben.7 Auch ist es unter „den Leuten“ „die allgemeine Ansicht, dass ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahegegangen sei“.8 – Was bleibt dem Leser anderes übrig, als diese falschen Fährten zunächst einmal zu glauben?

Auch die Rollen, die den Frauen zugeschrieben werden, werden stark durch den Erzähler geprägt. Denn Thiels erste Frau Minna ist bereits tot, wenn sie beginnt, für die Erzählung von Bedeutung zu sein, und Thiels zweite Frau Lene kommt nur wenige Male selbst zu Wort. Das meiste über die beiden erfährt der Leser daher direkt durch den Erzähler beziehungsweise. durch einen ‚versteckten’ Erzähler, der in Form von erlebter Rede in Thiel eine Doppelperspektive einnimmt.

Innerhalb des wertenden Verhaltens seitens des Erzählers ist jedoch auch eine Entwicklung erkennbar: Vertritt er noch zu Beginn der Erzählung vollkommen die Meinung der „Leute“, so wirft er später, als es um die Kritik dieser an den „Läppschereien“ Thiels geht, zum Beispiel ein: „Im Grunde durften sie jedoch zufrieden sein.“9

Wie eben bereits erwähnt, ist eine weitere Erzählperspektive in der erlebten Rede aufzuspüren, vor allem im dritten Kapitel.10 – Der Erzähler übernimmt hier für Thiel gewissermaßen das Reden. – Für den einfachen Bahnwärter ist die differenzierte Bildwelt schließlich nicht das adäquate Ausdrucksmittel der eigenen Befindlichkeit. Sie entstammt einem bewusst anspruchsvollen Erzähler, der die schwer zu erfassende Innenwelt seines ‚Helden’ ins Wort zu bannen sucht.11

Helmut Scheuer geht gar so weit, dass er die ganze Figur des Bahnwärter Thiel als ein „Produkt des Erzählerberichts“ bezeichnet. Denn mit typischen Merkmalen der Fiktion, zum Beispiel „gleichsam“, „als ob“ oder „wie“, werde deren Charakterbild entworfen. Der „hilflose Kleinbürger“ werde durch eine ungewöhnliche Sprache „geadelt“.12

Auffallend dabei ist, dass die „Leute“ in den Momenten der inneren Reflexion des Bahnwärters in den Hintergrund geraten. Erst gegen Ende der Geschichte spielen sie wieder zunehmend eine Rolle, zum Beispiel wenn sie es sind, die den Bahnwärter an den Gleisen finden und über seinen Wahnsinn urteilen.13

Ein ungetrübter Blick auf die Geschichte ist unter diesen Umständen allerdings nur schwer möglich.

3 Grundlegendes zur Charakterisierung des Bahnwärter Thiel

Wie schon der Titel zeigt, steht im Zentrum der Erzählung „Bahnwärter Thiel“, sprich: ein Bahnwärter namens Thiel. – Durch die Verschmelzung von Beruf und Namen wird so von vornherein festgelegt, dass sich Thiels Leben stark durch seinen Beruf definiert. Nicht nur für die Existenzsicherung ist dieser wichtig, sondern auch für einen Platz in der Gesellschaft.

Anhand von Thiels Arbeitsmoral wird schon auf den ersten Seiten des Hauptmann’schen Werkes verdeutlicht, dass er ein äußerst pflichtbewusster Mann ist. Außerdem geht er jeden Sonntag in die Kirche, was wohl weniger als Frömmigkeit denn ebenfalls als eine Art Pflichtbewusstsein zu werten ist.14 – Durch diese beiden Instanzen, Beruf und Kirche, erhält das Leben des ordnungsliebenden Thiel zwei feste Größen, die ihm Halt geben.

Der geschickte Erzähler versucht jedoch zunächst davon abzulenken, dass ein Mann wie Thiel überhaupt derartige Konstanten braucht: Er beschreibt zum Beispiel Thiels „herkulische Gestalt“ oder sein grob geschnittenes Gesicht.15 Somit scheint der Bahnwärter äußerlich ein starker Mann zu sein. Erst später erfährt man, dass dies in starkem Kontrast zu seinem durchaus labilen Innenleben steht.

Charakteristisch für das Innenleben des Bahnwärters ist vorerst dessen „unverwüstliche[s] Phlegma“. Dadurch scheint er etwas in sich zu tragen, „wodurch er alles Böse [...] reichlich mit Gutem aufgewogen erh[ä]lt“.16 – Dies ändert sich allerdings im Laufe der Geschichte, doch dazu später mehr.

Bereits nach der Trauerzeit von einem Jahr heiratet Thiel zum zweiten Mal. Auch dies wird vom Erzähler und den „Leuten“ als Zeichen gewertet, dass er emotional nicht gerade sehr ergriffen ist vom Tod der ersten Frau. – Eher beiläufig erfährt man jedoch vom wahren Grund für die schnelle zweite Heirat: Thiel braucht jemanden, der sich um seinen Sohn Tobias kümmert.17

Auffallend nach dem Tod seiner ersten Frau ist ebenfalls, dass sich Thiels Ordnungsliebe verstärkt und dass er auch in der Kirche eifriger der Predigt lauscht als vorher.18 – Er scheint also in seinem Leben ein gewisses Ordnungssystem zu brauchen, damit er sich darin zurechtfindet. – Dazu gehören die „wohl geölt und militärisch gescheitelt[en]“ Haare, die „blank geputzt[en]“ Knöpfe der „sauberen Sonntagsuniform“19 genauso wie die „in stets gleicher Reihenfolge“ auf der Kommode platzierten fünf Gegenstände20. – „Messer, Notizbuch, Kamm, ein Pferdezahn, die alte, eingekapselte Uhr“ fungieren als „unscheinbare Träger eines Weltvertrauens“, das sich am Greifbaren orientieren muss, um nicht an Stabilität einzubüßen.21 – Mit der Heirat der zweiten Frau Lene kehrt aber etwas Ungewohntes, nicht Greifbares in Thiels Leben ein, denn „der Knabe in bärenhafter Mannsgestalt“22 erfährt durch Lene das Triebhafte. Darauf reagiert er manisch und gerät in ein kompliziertes Dreiecksverhältnis23 zwischen toter und lebender Frau.

[...]


1 SCHEUER, HELMUT: Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel, in: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1990, S. 40.

2 Ebd., S. 38.

3 HAUPTMANN, GERHART: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini, Reclam UB 6617, S. 3.

4 MERKL, HELMUT: Über die Ordnungsliebe des Kleinmütigen in Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 6 1988, 88/100, S. 92.

5 Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel, S. 3.

6 Ebd., S. 4.

7 Ebd., S. 3 f.

8 Ebd., S. 4.

9 Ebd., S. 12.

10 Vgl. Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel, S. 22.

11 Scheuer, Helmut: Gerhart Hauptmann – Bahnwärter Thiel, S. 45.

12 Ebd., S. 39.

13 Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel, S. 43.

14 Ebd., S. 3.

15 Ebd., S. 3.

16 Ebd., S. 6.

17 Ebd., S. 4.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Merkl, Helmut: Über die Ordnungsliebe..., S. 92.

21 Ebd., S. 93.

22 Ebd.

23 Scheuer, Helmut: Gerhart Hauptmann – Bahnwärter Thiel, S. 22.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Thiel – Ein Leben in geordneten Bahnen
Untertitel
Liebe, Sexualität und Wahnsinn in Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
Proseminar „Aufbruch in die Moderne? – Literatur um 1900 (1880-1914)“
Note
2,7
Jahr
2005
Seiten
15
Katalognummer
V132423
ISBN (eBook)
9783640418084
ISBN (Buch)
9783640418534
Dateigröße
454 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thiel, Leben, Bahnen, Liebe, Sexualität, Wahnsinn, Gerhart, Hauptmanns, Thiel“
Arbeit zitieren
Anonym, 2005, Thiel – Ein Leben in geordneten Bahnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132423

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