"Es un cuento que es un ensayo que es un poema" (Oviedo)

Eine Untersuchung zur Erzählstrategie im Werk von Jorge Luis Borges


Seminararbeit, 2009

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zeugenaussage Erzählung

3 Überredungskunst

4 Borges und das Ich

5 Fiktion Welt

6 Bibliographie

1 Einleitung

„Borges descubre en su obra, o quizás inventa, otra dimensión de lo real“[1]. Entdecken oder erfinden, um diese beiden Verben scheinen sich die Arbeiten des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges zu formieren. Die Unterscheidung, ob Realität in Text geschrieben und damit entdeckt oder ob Fiktion als Realität ausgegeben und damit erfunden wird, ist für den Leser nicht immer eindeutig zu treffen. Für gewöhnlich beobachtet man in Lesungen oder in Feuilletoninterviews bei Autoren die Tendenz, dass die autobiographischen Züge in ihren fiktionalen Texten Lesern und Kritikern gegenüber möglichst verheimlicht, ja vertuscht oder zumindest herunter gespielt werden. Vermutlich wird dieser Versuch unternommen, um nicht dem Vorwurf des Unkünstlerischen ausgesetzt zu werden, der Kritik, „zu autobiographisch zu schreiben“, zu wenig zu verfremden, vielleicht auch, um das Private vor dem Zugriff der Leser zu schützen, sobald es zu einem persönlichen Dialog kommt. Bei Jorge Luis Borges scheint die Kunst anders geartet zu sein. Es scheint, als würde er in seinen Texten am liebsten den Eindruck erwecken, alles Erzählte sei selbst erlebt und was vom Leser als erfunden aufgenommen werden soll, wird deutlich als Fiktion ausgewiesen, so dass die anderen Textteile umso biographischer scheinen können: „Ich nehme an, daß alles, was ich schreibe, biographisch ist, nur daß ich die Vorgänge nicht direkt erzähle. Ich ziehe es vor, mich in Symbolen auszudrücken“[2], zitiert Fries den Autor aus einem Interview, das 1964 mit Borges geführt wurde. Was die folgende Arbeit untersuchen will, ist die Strategie, mit der Borges diese Selbst- und Text-Inszenierung verfolgt, bei der es dem Leser schwer gemacht wird zu unterscheiden, was im Text entdeckt und was erfunden wurde, wenn doch vom Autor auf beides hin gezielt wird. Mit welchen Verfahren sorgt Borges für das Verschwimmen von faktualem und fiktionalem Erzählen bzw. welche Mittel sorgen dafür, dass vom Leser faktuales Erzählen angenommen wird, obwohl Fiktion vorliegt oder umgekehrt? Und letztlich: Welche Bedeutung lässt sich aus diesem Verfahren herauslesen? Die Arbeit untersucht die Texte eher dekonstruktivistisch, vor allem aber aus der Perspektive der lernenden Autorin und nimmt dabei hauptsächlich Bezug auf die Erzählungen aus Artificios.

2 Zeugenaussage Erzählung

Die stendhalsche Spiegelmetapher zur Beschreibung der Funktion von Kunst, heißt es bei Robert Scholes, sei allseits bekannt und er bringt das Bild dieses Spiegels mit dem von Borges' Spiegeln in Verbindung. Seine Spiegel, schreibt er, täten nicht, was gewöhnliche Spiegel täten: „We see in it not nature or the world, but only ourselves“[3]. Straßen- oder Landkarten ist der Begriff, der die Fiktion eines Borges für ihn beschreibt: „Of the world, art is merely a map, but it is a map that points accurately to things that are there in reality“[4]. Mimesis, Nachahmung von Realität ist es aber nicht, was Borges an Kunst hervorbringt, sondern Borges' Texte lesen sich, wie Odo Marquart es beschreibt: „die Kunst ist wirkliche Fiktion aber auch die Wirklichkeit ist [...] Fiktion: die Fiktur, die die – ästhetische – Kunst ist, ist nur eminente Form der Fiktur, die die – moderne – Realität ist[5] (Hervorhebung im Originaltext). Und doch sind die Werke der Dichter „fiktional in dem Sinne, daß sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d.h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben“[6]. Borges dagegen schreibt in Das Rätsel der Dichtung: „Wir gehen weiter zur Dichtung; wir gehen weiter zum Leben. Und das Leben besteht, da bin ich sicher, aus Dichtung“[7]. Und an späterer Stelle: „Ich stelle oft fest, daß ich nur etwas zitiere, was ich vor längerer Zeit gelesen habe, und das wird dann zu einer Wiederentdeckung. Vielleicht sollte ein Dichter besser namenlos sein“[8]. Damit zeichnet er sich als derjenige aus, der den späteren Ansatz von Roland Barthes und Julia Kristeva vorweg nimmt, alles sei Text und der Text nur ein Gewebe von Zitaten, das entwirrt werden müsse[9]. In diesem Zusammenhang schreibt Borges über die Dichtung Homers: „Als der Dichter diese Zeilen schrieb, hat er lediglich etwas verzeichnet, was sich ereignet hatte“[10]. Auf verschiedene Arten will Borges in seinen Erzählungen den Leser glauben machen, auch er verzeichne lediglich, was sich ereignet habe. „Usted replicará“, lässt Borges seine Figur Lönnrot in der Erzählung La muerte y la brújula sagen, „que la realidad no tiene la menor obligación de ser interesante“[11]. Borges dazu in seinem Essay Das Rätsel der Dichtung: „Natürlich gibt es in meinem Geschichten [...] wahre Einzelheiten, aber irgendwie meine ich, daß diese Einzelheiten immer mit einer gewissen Menge von Unwahrheit erzählt werden sollten. Es liegt keine Befriedigung darin, eine Geschichte so zu erzählen, wie sie sich tatsächlich ereignet hat“[12]. Damit gibt er aber bereits vor, dass seine Geschichten auf Realität basierten, also Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit erheben würden. Adelheit Hanke-Schäfer zitiert Borges, er habe über seine Erzählungen gesagt: „'Das sind keine willkürlichen Erfindungen; denn wenn sie willkürliche Erfindungen darstellen, wäre ihre Zahl unendlich [...]. Der Reiz der phantastischen Erzählungen besteht in der Tatsache, dass sie, weil sie phantastisch sind, Symbole unserer selbst, unseres Lebens, des Universums, des Unbeständigen und Geheimnisvollen in unserem Leben bilden“[13]. Er verändere nur, schreibt Borges in seinem Essay, damit er sich nicht für einen bloßen Journalisten oder Historiker halten müsse[14]. Aus einem Interview von 1964 zitiert F.R. Fries: „Im übrigen glaube ich, ..., daß sich ein literarisches Werk durch den Schriftsteller oder über ihn selbst ausdrückt“[15]. Borges geht noch weiter als das. In der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius führt er dem Leser vor, wie eine Erzählung „als eine Art Zeugenaussage“[16] präsentiert werden kann und zwar ist es scheinbar der Autor selbst, der Zeugnis ablegt.

3 Überredungskunst

Im allgemeinen, schreibt Michael Rössner, beruhe Borges' Schreibstrategie „auf einem intensiven Einsatz beglaubigender Faktoren, die das Erzählte meist direkt in der Lebenswelt des Autors situieren und dem Leser den Text als realistische Erzählung, ja mehr noch, als eine Art Zeugenaussage präsentieren“[17]. An der Geschichte Tlön, Uqbar, Orbis Tertius zeigt Rössner die Strategie auf, mit der Borges den Leser überreden zu wollen scheint, ihm, dem Autor/Erzähler, zu glauben: Die handelnden Figuren sind die beiden Schriftsteller Borges und Bioy Casares. Der Schauplatz der Handlung ist ein Landgut, das nachprüfbar existiert, nämlich das Landgut, das wirklich Casares gehöre, so Rössner. In den Gegenstand der Erzählung mischt der Autor ein phantastisches Element: Es geht um den Raubdruck einer Enzyklopädie, die real existiert und in der die beiden Figuren einen Artikel über das Land Uqbar entdecken, von dem die Figur Borges nichts wusste. In seiner eigenen Ausgabe der Enzyklopädie, die die Figur Borges zu Hause besitzt, entdeckt der Erzähler, dass die vier Seiten mit diesem besagten Artikel fehlen. Bis hierhin, betont Rössner, müsse der Leser geglaubt haben, er lese eine Tatsachengeschichte. Mit diesem Detail aber müsse der Leser in Verunsicherung geraten, denn es sei das Detail, führt er aus, das im Kontrast stehe zu der Fülle der bisher verifizierbaren Details in der Erzählung. Die Verunsicherung würde dann weiter verstärkt, beschreibt er, wenn in der fiktiven Welt, die anschließend gezeichnet wird, die bekanntesten Namen der zeitgenössischen Literaturszene als Handelnde und damit als 'Zeugen' für die Realität der erzählten Welt auftauchten. Indem Tlön anschließend in essayistischer Form beschrieben aber nicht mehr erzählt wird, lässt der Autor die Gattungsgrenzen verschwimmen[18].

Mit der Liste der Beglaubigungsstrategien, die Borges anwendet, um seine Erzählung als realistisch zu stilisieren, lässt sich fortfahren: „Recuerdo (creo) sus manos afiladas de trenzador“[19], schreibt der Erzähler in Funes el memorioso und markiert Unsicherheit, die aber in seiner Erinnerung läge, womit er sich als besonders wahrheitsgetreuer und bemühter Erzähler stilisiert.

„Me parece muy feliz el proyecto de que todos aquellos que lo trataron escri ban sobre él; mi testimonio será acaso el más breve y sin duda el más pobre, pero no el menos imparcial del volumen que editarán ustedes. Mi deplorable condición de argentino [...]“[20].

Der Erzähler gibt vor, mit diesem Text einen Beitrag zu einer Anthologie über Ireneo Funes zu leisten. Das Erzählen wird motiviert und die Motivation liegt, so wird es suggeriert, außerhalb der Erzählung. In den Anmerkungen zur deutschen Übersetzung wird die Figur Funes nicht als historisch existierend ausgewiesen aber das Verb recordar und an späterer Stelle der Begriff „relato“[21] (der in in der deutschen Übersetzung mit „Bericht“[22] wiedergegeben wird) implizieren, dass hier faktual[23] erzählt, dass also auf etwas außerhalb der Erzählung verwiesen würde. Mit der Bemerkung, der Erzähler der Geschichte sei Argentinier, wird zumindest eine deutliche Spur zum Autor der Erzählung gelegt, wenn nicht sogar eine Identität zwischen Erzähler und Autor suggeriert werden soll. „Pedro Leandro Ipuche ha escrito que [...]“: Laut Anmerkungen in der deutschen Übersetzung sei Ipuche Lyriker der 20er Jahre und mit Borges befreundet gewesen[24]. Der Schluss liegt nahe, dass Borges ihm ein Schreiben über Funes für die Erzählung andichtet hat aber es kann von keinem Leser nachgewiesen werden, dass nicht eine andere Konstellation vorlag.

[...]


[1] Zapatero, José Luis Rodríguez: Prólogo. In: Ficciones

[2] Zitiert nach Fries, Fritz Rudolf: Die aufgehobene Zeit oder der Leser als Autor, S. 86

[3] Scholes, Robert: The Reality of Borges, S. 133

[4] ebd.

[5] Marquart, Odo: Kunst als Antifiktion, S. 96

[6] Martinez, Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 13

[7] Borges, Jorge Luis: Das Rätsel der Dichtung, S. 8

[8] Ebd., S. 17

[9] Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors

[10] Borges, Jorge Luis: Das Rätsel der Dichtung, S. 18

[11] Borges, Jorge Luis: La muerte y la brújula, S. 63

[12] Borges, Jorge Luis: Eines Dichters Credo, S. 86

[13] zitiert nach: Hanke-Schäfer, Adelheid: phantastische Elemente und ästhetische Konzepte im

Erzählwerk von J. L. Borges, S. 13

[14] Vgl. Borges, Jorge Luis: Eines Dichters Credo, S. 86

[15] Fries, Fritz Rudolf: Die aufgehobene Zeit oder der Leser als Autor, S. 88

[16] Rössner, Michael: Lateinamerikanische Literaturgeschichte, S. 362

[17] ebd.

[18] Vgl. die gesamte Analyse der Erzählung bei Rössner, Michael: lateinamerikanische Literaturgeschichte, S. 362/263

[19] Borges, Jorge Luis: Funes el memorioso, S. 51

[20] ebd.

[21] Borges, Jorge Luis: Funes el memorioso, S. 53

[22] Borges, Jorge Luis: Das unerbittliche Gedächtnis, S. 99

[23] Zur Unterscheidung faktuales und fiktionales Erzählen vgl. Martinez und Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 9ff

[24] Anmerkungen zu Das unerbittliche Gedächtnis. In: Fiktionen, S. 181

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
"Es un cuento que es un ensayo que es un poema" (Oviedo)
Untertitel
Eine Untersuchung zur Erzählstrategie im Werk von Jorge Luis Borges
Hochschule
Universität Augsburg  (Phil.-Hist. / Romanistik)
Veranstaltung
Große Werke der argentinischen Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V132140
ISBN (eBook)
9783640381609
ISBN (Buch)
9783640381753
Dateigröße
504 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Im Kommentar zur Bewertung heißt es, die vorliegende Arbeit zeige in ihrer sehr guten Kontextsetzung die Fragestellungen der Borgeslektüre vor dem Hintergrund von Autorentheorien. Theorie und Analyse seien überzeugend angewandt worden.
Schlagworte
Eine, Untersuchung, Erzählstrategie, Werk, Jorge, Luis, Borges
Arbeit zitieren
Ariela Sager (Autor:in), 2009, "Es un cuento que es un ensayo que es un poema" (Oviedo), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132140

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