Phänomenologischen Qualitäten von Zeitstrukturen am Beispiel "The Sandman"

Eine Analyse der Narration und medienspezifischer Realisierungsstrategien


Hausarbeit, 2009

42 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1: Drei Einführungen
1.1 Zum Stand der Forschung
1.2 Zu The Sandman
1.3 Zur Arbeitsweise

2: Historie, Sinn und Narration. Neil Gaimans Geschichtsverständnis
2.1 Traum und Realität
2.2 Kein Außerhalb des Textes
2.3 Veränderung oder Tod
2.4 Der Hauptdarsteller als Zuschauer

3: Position 1: Narration durch Induktion
3.1 Rhythmus und Geschwindigkeit
3.2 Die Darstellung von Innenleben
3.3 Relief und Intensität

4: Position 2: Narration durch Zeitzeichen
4.1 Lessings Laokoon
4.2 Die Konventionalisierung von Zeit-Codes
4.3 Tempo-spatiale Brechung
4.4 Die Seite als Artefakt

5: Abschließende Überlegungen

6: Anhang
6.1 Bildnachweise
6.2 Quellenverzeichnis
6.3 Wahrheitsgetreue Erklärung

1. Drei Einführungen

1.1 Zum Stand der Forschung

Das Comic wird als Medium gerade erst entdeckt. Qualititative Defizite scheinen dabei quantitativen in nichts nachzustehen: Die von moralischem Impetus getragenen soziologischen Schriften der 50er Jahre[1], die hauptsächlich französischsprachigen Studien der 70er aus der Einflusssphäre der Semiotik[2], wie auch David Carriers einflussreiche Monographie aus dem Jahre 2000[3] haben indes gemein, dass sie „Graphic Novels“ als homogenes Phänomen verstehen und behauptete Attribute des Mediums allein über dessen Mainstream-Ausprägungen nachweisen – unter bewusster Ausblendung aller idiosynkratischen Ambivalenzen der (zumindest seit den 70er Jahren) lebhaften Underground­/ Independent-Szene. Gemein ist den genannten Arbeiten auch eine generelle Aversion zur konkreten Substanz des Mediums, das – als bekannt vorausgesetzt – allenfalls zum episodischen Bildbeleg herangezogen wird. Als Antipoden hierzu brillieren lediglich Will Eisner, dessen praxisorienteres Monolithenwerk Sequential Art seit 1985 als Schule der klassischen Comic-Narration angesehen wird, sowie Scott McClouds „Heilige Schrift“ der Medien-Selbstreflexion, das 1993 in Comicform erschienene Theoriewerk Understanding Comics (mit zwei Nachfolgebänden 2000 & 2006). Seither hat sich Einiges getan, doch stellt sich meiner Einschätzung nach der Stand der Forschung zweigleisig dar: Einerseits bemerken wir vermehrtes Interesse am Comic als autonome Ausdrucksform mit eigener Sprache und Grammatik, die sich in Essay-Sammlungen wie Die Ästhetik des Comics oder kommunikationswissenschaftlichen Publikationen wie Jakob Ditmars Comic-Analyse niederschlägt. Der Fokus scheint mir hier weiterhin auf globalen Thesen zu liegen, die zwar gute Einstiegspunkte bieten, aber bei der Analyse einzelner Werke nur wenig hilfreich sind. Auf der anderen Seite scheint sich langsam ein Bemühen um graphisches Erzählen als „alternative Literatur“ zu manifestieren, was sich in Monographien über (ausgesuchte) einzelne Autoren und Werke unter Berücksichtigung eines speziellen Tertium Comparationis manifestiert – etwa Stephen Rauchs In Search of the Modern Myth, das Neil Gaimans Werk Joseph Campells Mythentheorie gegenüberstellt[4]. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch das erste wissenschaftliche Journal mit Fokus auf graphischem Erzählen, das interdisziplinäre Magazin ImageText des English Departements der University of California. Leider liegt bei Ansätzen dieser Art, die eloquente Parallelen zu Campell, Žižek oder Derida ziehen, der Blickpunkt selten auf der Einzelseite: Die besondere Materialität des Comics wird oft ausgeblendet[5]. Die Forschung steht also ganz am Anfang: Bar eines einheitlichen Modus Operandi, mit Termini, die allzu oft ohne Rückgriffe aus der Filmsprache nicht auskommen – und nicht selten von zweifelhaftem Niveau. Nichtsdestotrotz sind alle Grundlagen gelegt, um mit der nötigen Ernsthaftigkeit die ästhetischen Strategien des Mediums untersuchen zu können. Die Aufgabe dieser Arbeit soll es sein, eine Brücke zwischen narrativen Analysen einerseits und medienspezifischen Realisierungsstrategien andererseits zu schlagen, unter dem Brennpunkt des kleinsten gemeinsamen Nenners beider Pole – einer speziellen Fragestellung an einem speziellen Werk.

1.2 Zu The Sandman

Die Comicserie The Sandman des britischen Autors Neil Gaiman (in Zusammenarbeit mit zahlreichen Künstlern[6]) stellt unter verschiedenen Gesichtspunkten ein Unikum dar. Die Länge der von 1989 bis 1996 vom amerikanischen DC Verlag veröffentlichten Serie (ca.2000 Seiten in 75 Ausgaben in 11 Bänden, plus Sonderbände) ist insofern bemerkenswert, als dass der Autor hier keine „Ongoing-Serie“ vorlegte (eine Serie, die fortgeführt wird, bis sie mangels Erfolg eingestellt werden muss), sondern von der ersten zur letzten Seite eine dramaturgisch geschlossene Saga realisieren konnte. Die Komplexität des Textes, der mythologische und literarische Themen neben historische Figuren, Pulp-Motive und philosophische Modelle reiht, stellt eine im Medium einzigartige Herausforderung dar. Singulärer als ein außergewöhnliches „Setting“ (in einer Erzählform, die immer noch von Fantastik, Science Fiction und Abenteuergeschichten dominiert wird, eher Regel denn Ausnahme) ist der Narrationsmodus. The Sandman ist aktionsarm, sehr dialoglastig, und oft schmerzhaft langsam. Dem vorletzten Band, der Perepetie und dramatischer Höhepunkt der Serie darstellt, wurde gar bescheinigt fast „unlesbar“ zu sein, weil „so wenig passiert“[7]. Tatsächlich verharrt der Hauptdarsteller mehr und mehr in einer starren Beobachterposition, bis hin zur völligen Handlungslähmung vor seinem selbst gewählten Tod, über dessen Motivierung heute noch viel diskutiert wird. Es passiert nicht wenig in The Sandman, hunderte von menschlichen, tierischen und phantastischen Protagonisten treten auf und Schlachten zwischen Himmel und Hölle werden geschlagen. Ein Gros dieser Geschichten erleben wir jedoch als genau solche, als berichtete Geschichte, als längst abgeschlossener Text. Überraschungen werden lang vor ihrer Realisierung enthüllt und bieten sich oft allenfalls als unvermeidlich und tragisch dar. Und nicht selten dürfen wir an der Glaubwürdigkeit der Ereignisse zweifeln, da wir der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung (und der des jeweiligen Erzählers) nicht vertrauen können. Dies alles stellt in zweifacher

Hinsicht ein Skandalon in der Geschichtsschreibung des Comics dar: Einerseits wird das Medium bis heute stark von aktionsreichen, geschwindigkeitsintensiven Attraktionen dominiert, so dass The Sandman sich vielen Lesegewohnheiten und -Erwartungen versperrt. Andererseits stellt sich die Frage, wie bei einem rein räumlichen Medium, dessen Narration allein durch konventionierte Indizes die Illusion von Zeit erzeugt – eine Illusion die jederzeit zusammenbricht, wenn der Leser seine Kooperation verweigert – überhaupt von „Langsamkeit“ gesprochen werden kann.

1.3 Zur Arbeitsweise

Die Frage nach der Generierung eines Zeitgefühls wird im Zentrum dieser Arbeit stehen. Dafür werde ich in drei Schritten vorgehen: Ein erster Teil wird sich an einer Inhaltserschließung von The Sandman versuchen, um die Bedeutungskontexte der folgenden Untersuchungen abzustecken und die funktionalen Horizonte untersuchen zu können, gegen welche die Begrifflichkeiten von Zeit, Raum und Geschwindigkeit gerichtet sein müssen. In den beiden darauf folgenden Teilen möchte ich die gängigen Konzeptionen von Zeit im Comic zusammenfassen und versuchen, eine eigene Synthese zu ziehen, die verschiedene ästhetische Strategien Neil Gaimans und seiner Mitwirkenden nachvollziehbar macht. Gleich zu Beginn muss Gerard Genettes traditionsreiches Verfahren der Gegenüberstellung von Erzählzeit zu erzählter Zeit aufgegeben werden, das an der Hypothese anknüpft, die Rezeptionsgeschwindigkeit eines Fließtextes könne für jeden Leser als durchschnittlich vorausgesetzt werden[8]. Wie etwa Daniele Barbieri bemerkt hat, ist dieses Verfahren zur Bestimmung des Rhythmus‘ im Comic gleich aus zwei Gründen unbrauchbar: In Unterschied zu Literatur, Film, Theater oder Musik ist die Rezeptionszeit im Comic eine von Leser zu Leser variable Größe, die durch Faktoren wie Textmenge, Bildkomplexität und Panelanzahl nicht zu bestimmen ist[9]. Zum Anderen ist die erzählte Zeit (also die als diegetisch dargestellte Zeit in und zwischen den Bildern) allenfalls heuristisch zu schätzen, wenn uns der Autor genügend zeitliche Indizes als Chronometer an die Hand gibt. Dennoch ist phänomenologisch nicht von der Hand zu weisen, dass eine actionreiche Kampfsequenz im Marvel-Stil scheinbar einen treibenderen Rhythmus aufzuweisen hat als eine Dialogszene in einem Autorencomic (auch abgesehen vom Faktor der Textmenge). Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene

Herangehensweisen an dieses Problem, die ich nicht diskursgeschichtlich, sondern methodisch aufeinanderfolgend in Ergänzung bringen möchte. Die Position „der Klassiker“ wie Scott McCloud und Will Eisner, nach der ein Comic die sequentielle Aneinanderreihung von visuellen Zeichen im Raum ist (vereinfacht gesagt: Zeitgefühl, Narration und Rhythmus entstehen grundsätzlich zwischen den Bildern durch Induktion)[10], steht dabei dem eher semiologisch orientierten Ansatz von E.H.Gombrich und Jochen Ecke gegenüber, nach dem Narration bereits im Bild durch Dechiffrierung von Zeitzeichen angelegt ist. Keines der Konzepte ist prinzipiell ungeeignet, jedes für sich allerdings meiner Ansicht nach zu kurz gefasst um die polyseme Vielfalt der graphischen Narration zu erfassen. Um stets möglichst nahe an der Veranschaulichung operieren zu können, werde ich immer an Bildbeispielen aus der Verwirklichungspraxis von The Sandman bleiben.

2: Historie, Sinn und Narration. Neil Gaimans Geschichtsverständnis

2.1 Traum und Realität

Im Zentrum von The Sandman steht die anthropomorphe Allegorie Dream[11], die Personifikation des Prinzips Traum/Phantasie/Fiktion, Herrscher über das Reich der Träume. „The Dreamtime, the dreamworld, the unconscious, call it what you will“[12] ist nicht bloß ein metaphysisches Reich, sondern ein Ordnungsprinzip, eine Sinnstrukturierung, die in komplementärer Symbiose anstatt in Opposition zur „Waking World“, den „Dingen die sind“, zu stehen scheint. Es gibt einen Gott in Neil Gaimans Welt, dem judo-christlichen Schöpfer nicht unähnlich, auch wenn er niemals direkt auftritt und nur implizit vermutet werden kann. Dream war nicht verantwortlich dafür Leben zu schaffen, ist aber die Quelle aller (imaginierten) Wünsche und Vorstellungen. Der Schöpfer hat geschaffen, aber Dream gibt den Dingen ihre Bedeutung. Eric Vögelin hat den Begriff des „Kosmions“ eingeführt, der symbolischen „Großform“ einer Gesellschaft, dem variablen Weltbild einer Gemeinschaft. Je pluralistischer eine Gesellschaft ist, desto weniger geschlossen ihre symbolische Organisation[13]. Das Kosmion ist im Dreaming verankert. Stephen Rauch setzt das Dreaming mit Jungs kollektivem Unterbewusstsein gleich[14], übersieht dabei aber, dass auch individuierende Sinnstrukturierung auf die Differenz von Bedeutungen (also auf einen Zeichenbildungsprozess) angewiesen ist. Sprache ist die symbolische Repräsentation dieses Systems. Die Abhängigkeit über sprachlicher Relevanz vom Dreaming, von Verortung von Bedeutsamkeit im Unterbewussten, gilt bei Gaiman selbst für das Metaphysische: „What power would hell have if those imprisoned here were not able to dream of heaven?“[15] Beiläufig, in einem Panel ohne weitere Konsequenz, schenkt Dream einem Mädchen in Afrika einen Traum, durch den sie zur politischen Führerin ihres Landes aufsteigen wird, obwohl sie ohne Erinnerung an ihn erwacht – „ohne den Traum wäre sie Krankenschwester geworden“, bemerkt der Erzähler[16]. An anderer Stelle wird eine Figur namens Abel gefragt, was an „all dem biblischen Zeug“ dran sei. Abel antwortet, es sei alles geschehen, aber nicht in Realität[17]. Mit anderen Worten: Gott, die soziologisch und historisch relevanteste sinnstiftende Instanz, existiert in Träumen tatsächlich. Im Traum ist Gott[18]. Wäre er in Realität, wäre er nicht Gott, sondern ein erklärbares, von Sprache vereinnahmtes Phänomen.

„I know how gods begin. We start as dreams by many people“[19]. An diesem Punkt dreht sich die binäre Opposition Traum/Realität = Hermeneutik/Ontologie um, oder besser: sie löst sich auf. Dream herrscht über jenen Bereich der Wahrnehmung, der im Lacanschen triadischen Modell dem Realen, dem Ding an sich, entspricht. Die Alltagswirklichkeit, die wir wahrnehmen, ist symbolisch durch unser Phantasma strukturiert, das seinen Ursprung im Unterbewussten hat. Im Schlaf ist eine Begegnung möglich. Die Realität selbst dient so als Flucht vor dem Realen, dem wir traumatisch im Traum begegnen:[20] „Es ist nicht so, dass Träume für die sind, die die Realität nicht aushalten. Die Realität ist für jene, die ihre Träume (und das Reale, das sich in ihnen kundtut) nicht aushalten.“[21] Diesen Aphorismus Slavoj Žižeks legt Gaiman fast inhaltsgleich einer Frau in den Mund, die aus einer Schreckenswanderung im Dreaming erwacht ist: „You know the really scary thing about bad dreams? (...) It’s that something’s going on in your head, and you can’t control it. I mean, it’s like there’s these bad worlds inside you. But it’s just you... It’s like you’re betraying your-self...“[22]

2.2 Kein Außerhalb des Textes

Die Organisation der Realität durch Symbolsysteme funktioniert in Gaimans Welt vermittels Geschichten. „To Lacan, truth is structured like fiction“[23] schreibt Žižek in der gleichen Weise, in der Georg Seeßlen bemerkt, „daß wir Geschichte nicht als Widerspruch zum Mythos, sondern als seine Ergänzung sehen müssen, und daß uns eine nichtmythische Geschichtsschreibung erst möglich ist, wenn wir vollständig auf die Suche nach Sinn in ihr verzichten würden. Eine sinnlose Geschichte aber würde automatisch die Geschichtsschreibung sinnlos machen“[24]. Lyotard schreibt in The Postmodern Condition über die Geschichtstradition der Cashinahua Indianer, dass die einzige Kompetenz, die ein Erzähler zum Vortrag einer Geschichte vorweisen können muss, ist, dass er sie selbst gehört hat.[25] Wenn der Mythos im Gegensatz zu Belletristik oder Poesie ein Sprachgebilde von solcher Komplexion ist, dass er nicht von Formulierung, Syntax und Stil, ja nicht einmal seiner konkreten narrativen Fixierung abhängig ist um mit sich identisch zu bleiben[26], ist diese mündliche Weitergabe unproblematisch. Es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zu Geschichten generell. Nach Joseph Campbell aber ist der überindividuell-autoritäre Mythos (artifiziell, wie von der Kirche, oder unbewusst, wie von „den Alten“ geschaffen) vor ca.500 Jahren in einen schöpferischen Kanon umgeschlagen. Jeder einzelne kann aus seinen Erlebnissen, Träumen und Ängsten Bedeutung generieren, die über individuelle Erfahrungen hinausragende Bedeutung zu besitzen scheint, um Werthorizonte für andere auszuleuchten.[27]

Dieses mythologisch-narrative Geschichtsverständnis steht im Zentrum der ca.2000 The Sandman-Seiten, die oft mit alternierende oder gänzlich widersprüchlichen Versionen der gleichen Geschichte irritieren. Die Frage nach der Faktizität von Ereignissen ist Gaiman für die psychologische Realität des Geschilderten nicht wichtiger als Regisseur Theo Angelopolous: „I do not pretend to describe reality. The question I am asking myself all the time is: How can I transform personal experiences into poetry?”[28] In Tales in the Sand folgen wir dem Initiationsritus eines afrikanischen Savannen-Jünglings, der durch die mündliche Weitergabe einer Jahrtausende alten Legende vollzogen wird – ein Mythos über den Traumkönig, seine Geliebte, und die Schaffung der heutigen Welt. Ereignisse innerhalb dieser rekurrierten Erzählung bilden eine Vorgeschichte zu späteren Geschehnissen, auf die wir jedoch nie „faktisch“ zugreifen können, stets allein über die Narration anderer. Eine geschlossene Fabula im Bordwellschen Sinn, also eine widerspruchsfreie, chronologische Kausal-Rekonstruktion aller Ereignisse durch ein Auschlussverfahren falscher Hypothesen[29], ist nicht möglich. Das Syuzhet, die organisierte Gesamtheit aller gezeigten Clues, denen wir Informationen über die vermutete Handlung entnehmen können[30], ist widersprüchlich. „The great stories will always return to their original forms“[31] kommentiert Dream noch eine King Lear-Version mit geändertem Happy End, während ein alter Märchenerzähler desillusioniert beklagt, die düsteren Originalversionen der Gebrüder Grimm blieben aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden[32]. Wenige Seiten zuvor wurde der Leserschaft gar ein alternatives Ende der Primärhandlung verweigert: „There is another version of the tale. But then, it’s a women’s tale and it is never told to men“[33].

„All that matters to dad are stories“ lässt Gaiman den jungen Hamnet Shakespeare in A Midsummer Night’s Dream sagen[34]. Die soziale Bindungsfunktion des Erzählens wird in The Inn at the End of the World beleuchtet, in der vom Sturm zusammengetriebene Reisende sich die Zeit mit Geschichten vertreiben. Hier geht Gaiman soweit, uns Geschichtenerzähler innerhalb einer Erzählung zweiter Ordnung zu präsentieren, woraufhin sich die gesamte Handlung auf der letzten Seite ebenfalls als (unzuverlässiger) Bericht in einer weiteren Schänke entpuppt. Dennoch werden Orte und Motive selbst in der tiefsten der Matrushka-artig vergrabenen Narrationsebenen später wieder aufgegriffen. Dream selbst ist, zusammenfassend, eine Figur der wechselwirkenden Fiktion: Für den „Prince of Stories, Metaphors and Allusion[35]“ sind Menschen nur „als Kreaturen in Geschichten“[36] interessant. Die Leser können wiederum (oft) nur über paraphrasierte Mythen an ihn herantreten. Sein Tod als Handlungsklimax bildet daher auch nicht den Abschluss der Serie: Die letzten Ausgaben zeigen in einem achronologischen Flashback Dreams Beteiligung an der Entstehung von Shakespeares The Tempest. Das Stück erscheint hier nicht als Requiem auf die Dichterlaufbahn des Künstlers, die Alegorie verweist auf Dream, obwohl sich sein „tatsächlicher“ Niedergang erst Jahrhunderte später ereignen soll. Dreams Tod (und der Höhepunkt der Serie) muss also zuletzt symbolisch, durch ein (auch intra-diegetisch) fiktionales Stück, vollzogen werden. Die Unterscheidung zwischen Realem und Fiktivem wird bis zur Unkenntlichkeit nivelliert: „I always wondered what happened to the children (...)?“ „They’re just made-up people, they didn’t really exist.“ „That doesn’t mean they don’t have stories.”[37] Wir werden sehen, auf welch vielfältige Weise Gaiman immer wieder darauf aufmerksam macht, dass The Sandman ebenfalls selbst ein fiktionales Werk, ein Comic-Zyklus ist.

2.3 Veränderung oder Tod

Neben Dream hat Gaiman sechs weitere anthropomorphe Personifikationen menschlicher Konditionen eingeführt, die zusammen die „Endless“ bilden, „die keine Götter sind und nie wie Götter sterben werden“ wenn keiner mehr an sie glaubt“[38]: Destiny, Death, Desire, Despair, Destruction und Delirium. Gaiman weist an den verschiedensten Stellen darauf hin, dass die Endless nur „Ideen, Repräsentationen, Blickwinkel[39]“ sind, „merely patterns, wave functions, repeating motivs“[40], dass sie die Menschen ebenso benötigen wie die Menschen sie selbst. In ihrem Erscheinen und Betragen allerdings treten sie alle als Charaktere auf (die sie als Darsteller in The Sandman ja auch sind), die lieben, sich streiten, strafen und sich vertragen. Geschichten erleben. Insgesamt bietet sich ein Bild, das frappierend an Deleuzes‘ Beschreibung des filmischen Modells der Moderne erinnert: „Eine zersprengte und lückenhafte Wirklichkeit, ein Gewimmel von Gestalten, zwischen denen es nur schwache Berührungspunkte gibt und die zu Hauptfiguren und dann wieder zu Nebenfiguren werden können.“[41] Welche narrative Ordnung nun aber organisiert dieses Gesamtwerk, welche erzählerische Makro-Struktur verknüpft dieses Labyrinth aus Personen, Ereignissen und Erzählungen? Anders gesagt: Was geschieht in The Sandman ?

Die Serie beginnt mit einem Bericht über Dreams 72jährige Einkerkerung in einem magischen Gefängnis, seiner schließlichen Flucht und Rückkehr in das Dreaming. Daraufhin beschäftigt sich Dream einige Ausgaben lang damit, die in seiner Abwesenheit entstandenen Probleme in Ordnung zu bringen. Im vorletzten Band der Serie wird Dream schließlich sterben, die Gründe dafür sind enigmatisch. Vordergründig bietet sich ein Rache-Plot einer Sterblichen dar, die ihn (fälschlicherweise) für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich macht. Die Vollstreckung dieser Rache durch die Erynnien, die Dream wiederum für das Vergießen eigenen Familienblutes (er tötete seinen Sohn aus Mitleid) verantwortlich machen, gleicht in Vielem einer griechischen Tragödie[42]. Doch hat Dream in gleichem Maße seinen Tod mitbestimmt. „Why did he let it happen?“ fragt Dreams sprechender Rabe den Bibliothekar Lucien. „I think he did a little more than let it happen... (...) Sometimes, perhaps, one must change or die. And, in the end, there were limits to how much he could let himself change.” Neil Gaiman selbst hat, gebeten den Inhalt der ca.2000 Seiten in wenigen Worten zusammenzufassen, ebenfalls konstatiert: „Der König der Träume entdeckt, dass Dinge sich ändern müssen oder sterben, und trifft seine Entscheidung.”[43]

[...]


[1] Manfred Welke ist z.B. Uberzeugt „daß daß sich auch bei bester Gestaltung die Comics nicht zu „guter Jugendliteratur“ entwickeln werden, denn Lektüre, die wir unseren Kindern in die Hand geben, sollte bereichern und ermuntern (...)Dazu können die Bildhefte nicht beitragen.“ Welke (1958): S.76. Frederic Wertham ging in den USA noch weiter und stellte einen Kausalzusammenhang zwischen Comics und Homosexulatität her (Wertham, 1954), der bis zu Comicverbrennungen auf den Straßen geführt haben soll, vgl. Sieck (1999), S.43

[2] Pierre Fresnault-Deruelle, beeinflusst durch Eco, Peirce und Barthes, La bande dessinée, essai d’analyse sé - miotique. Paris: Hachette, 1972, sowie Nachfolgeschriften.

[3] Carrier (2000)

[4] Weitere Beispiele wären Portrait of an Extraordinary Gentleman von Gary Spencer Millidge, eine Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze über Alan Moore, oder „How to read Superhero Comics“ von Geoff Klock, das das bezeichnete Sub - Genre mit dem kanonischen Verständnis des Literaturwissenschftlers Harold Bloom aufzuschlüsseln versucht.

[5] Sean Carneys detaillierte Arbeit über den Autor Alan Moore etwa, Moore’s Historiographic Vision, bezieht auf über 40 Seiten Text kein einziges Panel, keine einzige Comicseite mit ein, als bestünde das Werk allein aus einem undefiniert - abstrakten Ideen - Korpus.

[6] Comic - Forschung steht vor einem ähnlichen Dilemma wie die Beschäftigung mit dem Film, nämlich dem der Autorenschaft. Wenn hier metonymisch von „Gaimans Werk“ die Rede ist, soll nicht die Beteiligung der Zeichner, Inker, Letterer und Coloristen am Schöpfungsprozess unterschlagen werden. Obwohl eine eigene Untersuchung der Urheberschaft in The Sandman zur Klärung der Frage notwendig wäre, lässt sich anmerken, dass Gaiman berüchtigt dafür ist, Kontrolle über alle Stadien der Produktion zu behalten, bis hin zum Vorwurf der „polymorphen Perversion“ durch auktoriale All - Einflussname (Smith: 2008). Die häufig wechselnde Zeichnerschaft der Serie darf in diesem Sinne nicht als qualitatives Manko gesehen werden, sondern als kommerziell durchaus unpopuläre Maßnahme zur Unterordnung der Zeichnerauswahl an die künstlerischen Erfordernisse der jeweiligen Sequenz, vgl.Bender (1999) S.6 - 8. Unter diesen Zugeständnissen werde ich im Laufe der Arbeit die diskussionswürdige Bezeichnung „Gaimans Werk“ beibehalten.

[7]Ein vielleicht repräsentatives Beispiel aus einer Web - Rezension der Seite Comicsgirl.com: „I always remem - bered The Kindly Ones as being long, messy as complicated.(...)And yes, The Kindly Ones is still long, still messy and still complicated.“ < http://www.comicsgirl.com/?p=193>, 05.03.2009

[8] Genette, Gérard: „Discours du récit. Essai de méthode“ in: Figures III, Paris 1972, zitiert nach Dammann (2002): S.91

[9] Barbieri (2002): S.125

[10] McCloud (1993) S.20/21

[11] Auch als mit Morpheus, Oneiros, Kai Ckul, Lord Shaper oder zahllosen anderen Kennings und schmückenden Epiteta bezeichnet. „Dream accumulates names to himself like others make friends.“ #21/11. Im Folgenden werde ich die Numerierung der Originalausgaben (in der Form #Ausgabe/Seite) verwenden, da die Ordination der Sammelbände gelegentlich abweicht.

[12] #2/17

[13] Vgl. Eric Voegelin nach Soeffner, Hans - Georg (2006), S.11

[14] Rauch (2003), S.32

[15] #4/22

[16] 64/2

[17] #40/21

[18] Vgl. Sharkey (2008)

[19] #45/20

[20] Žižek (2008) S. 52. Die oben getroffene Aussage ist natürlich im höchsten Maße unpräzise und eigentlich irreführend. Mit dem „Realen“ ist schließlich kein unereichbarer Abgrund hinter dem Schleier der Wirklichkeit gemeint, der sich unserem Zugriff dauerhaft entzieht (womit man leicht irrige Parallelen zu einem „Reich“ wie dem Dreaming ziehen könnte), sondern eine innere, rein psychische Nahtstelle, wegen der wir die Wirklichkeit schon immer verzerrt wahrnehmen, vgl. Auch Žižek (2006) S. 24 - 28. Diese verfälschende Lücke aber, durch die jegliche Symbolisierung ihren Gegenstand verfehlt, liegt im Unterbewussten, im Dreaming, brach.

[21] Ebd.

[22] #34/3

[23] Žižek (1992) S.18

[24] Seeßlen (2002) S.72

[25] Lyotard (1987): S.20

[26] Claude-Levy Strauss (1955), S.64: “Wir wissen, dass sie [konstitutive Einheiten des Mythos, Mytheme] weder mit dem Phonemen, noch mit den Morphemen oder den Semantemen vergleichbar sind, sondern auf einem höheren Niveau liegen; sonst wäre der Mythos von einer beliebigen Form der Rede nicht zu unterscheiden.“

[27] Campbell, (1968), S.165

[28] Angelopolous nach Scherer (2006): S.76

[29] Bordwell (1985): S.49

[30] Ebd., S.52

[31] #13/18

[32] #14/7

[33] #9/24. Diese zielgerichtete Irreführung der hermeneutischen Impulse des Lesers ist eine der zentralen Strategien in Gaimans Arbeit und besitzt große Ähnlichkeit mit den Filmtechniken Michelangelo Antonionis, der seinen Zuschauern „wichtige narrative oder kognitive Informationen vorenthält um eine bestimme hermeneutischen Spannung zu erzeugen“, vgl. Brunette (1998): S.4

[34] Shakespeare und die Genese seiner Werke spielen in mehreren Sandman-Ausgaben eine zentrale Rolle, wie es bei Shakespeares Bedeutung als einer der ersten außerspirituellen Mythenschöpfer nicht anders zu erwarten ist. Zu Interpretation und historisch-literaturgeschichtlichen Präzisierung siehe Alan Levitan in Sanders, Joe (2006) S.97-115.

[35] Sharkey (2008)

[36] #48/8

[37] #62/18

[38] #9/12

[39] #71/4

[40] #48/16

[41] Deleuze (1989), S.279

[42] Vgl. dazu das erwähnte In Search of Modern Myth von Stephen Rauch (2003), S.59 ff.

[43] Neil Gaiman im Vorwort zu Endless Nights, S.8

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Phänomenologischen Qualitäten von Zeitstrukturen am Beispiel "The Sandman"
Untertitel
Eine Analyse der Narration und medienspezifischer Realisierungsstrategien
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Theater-, und Medienwissenschaften ITM)
Veranstaltung
Hauptseminar "Film und Melancholie"
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
42
Katalognummer
V132114
ISBN (eBook)
9783640378456
ISBN (Buch)
9783640378852
Dateigröße
2819 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Eine sehr eigenständige und innovative Arbeit auf hohem Reflexionsniveau und mit interessanten Einsichten in die Optionen der Zeitgestaltung." - Kommentar des Dozenten
Schlagworte
Comic, Gaiman, Sandman, Zeit, Narration, Melancholie, Langsamkeit, Mythos
Arbeit zitieren
Lukas Roland Wilde (Autor:in), 2009, Phänomenologischen Qualitäten von Zeitstrukturen am Beispiel "The Sandman", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132114

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Titel: Phänomenologischen Qualitäten von Zeitstrukturen am Beispiel "The Sandman"



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