Leitmotive in Thomas Manns "Der Tod in Venedig"


Bachelorarbeit, 2006

42 Seiten, Note: 8


Leseprobe


Inhalt

Einleitung
Das Leitmotiv in der Musik
Das literarische Leitmotiv
Formen des Leitmotivs:
Das literarische Leitmotiv bei Thomas Mann

Der Tod in Venedig, Handlung
Literaturgeschichtliche Einordnung
Gattung und Aufbau

Apollinisch versus dionysisch

Leitmotiv Todesboten
Die Reihe der Todesfiguren mit Gruppeneinteilung
Der Wanderer:
Der Zahlmeister
Der falsche Jüngling
Der Gondolier
Der Bademeister
Der Sänger
Der Clerk im Reisebüro
Der Coiffeur
Tadzio als Psychagoge
Jaschu
Aschenbach

Sonstige Leitmotive
Leitmotiv Natur
Leitmotiv Venedig
Leitmotiv Tiger
Leitmotiv üppig
Leitmotiv U-Ruf
Leitmotiv Zügeln
Leitmotiv Zucht
Leitmotiv Perlen
Leitmotiv Jaschu
Leitmotiv Rot
Leitmotiv Bezeichnung

Schlussfolgerung
Empfehlungen für weitere Studie

Literatur

Der Wanderer am Münchner Nordfriedhof, das düstere Polesaner Schiff, der greise Geck, der verdächtige Gondolier, Tadzio und die Seinen, die durch Gepäckverwechslung mißglückte Abreise, die Cholera, der ehrliche Clerc im Reisebüro, der bösartige Bänkelsänger oder was sonst anzuführen wäre – alles war gegeben, war eigentlich nur einzustellen und erwies dabei aufs verwunderlichste seine kompositionelle Deutungsfähigkeit.

Thomas Mann: Lebensabriß (1930)

Leitmotive in Thomas Manns „Der Tod in Venedig“

Einleitung

In dieser Studie wird versucht, die Leitmotive in Thomas Manns „Tod in Venedig“ zu ermitteln und sie als wesentliche Elemente der Struktur zu erfassen. Dazu dürfte es sich empfehlen, einige Begriffe, die angewandt werden, zu benennen und zu definieren:

1. Geschichte: Die durch die Wortgestalt der Erzählung geschaffene Welt der Personen und Dinge, der Handlungen und Geschehnisse;
2. Situation: Die Geschichtseinheit, Baustein der Welt von „Der Tod in Venedig“;
3. Text: Thomas Manns Text „Der Tod in Venedig“;
4. Struktur: Die räumliche Ordnung des Textes.

Thomas Mann hat die Novelle „Der Tod in Venedig“ zu seinen Hauptwerken gezählt. Zum Erfolg haben vermutlich auch der pittoreske Schauplatz und die dem klassischen Drama angehauchte Form beigetragen, worin uns auf kleinem Raum, zeitlich begrenzt und dramaturgisch konsequent, die Untergangsgeschichte eines Künstlers vorgestellt wird.

Aschenbachs Untergang wird durch seine Liebe für Tadzio verursacht. Das war in 1912 ein heikles Thema, auch in einem literarischen Werk. Bemerkungswert ist eine Aussage Stefan Georges in der „Einleitung“ seiner Umdichtung der Shakespeare Sonette (1909)[1]:

[…] im mittelpunkte der sonettenfolge steht in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingabe des dichters an seinen freund. Dies hat man hinzunehmen auch wo man nicht versteht und es ist gleich töricht mit tadeln wie mit rettungen zu beflecken was einer der grössten Irdischen für gut befand. Zumal verstofflichte und verhirnlichte zeitalter haben kein recht an diesem punkt worte zu machen da sie nicht einmal etwas ahnen können von der weltschaffenden kraft der übergeschlechtlichen Liebe.

Homosexualität[2] war zur Zeit der Erscheinung der Novelle im Deutschen Kaiserreich verboten und wurde aktiv verfolgt; es gab Skandalprozesse wegen Homosexualität gegen Friedrich Alfred Krupp (1902) und Philipp zu Eulenburg (1907-1909). Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld und sein humanitäres Komitee zur Abschaffung der Strafbarkeit der Homosexualität, u.a. von den Autoren Hauptmann, Rilke, Hesse, Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig und Schnitzler unterstützt, bemühte sich um Liberalisierung der Homosexualität in Deutschland. Das galt nicht für Päderastie; bis heute ist Päderastie ein Sonderfall und auch jetzt noch strafbar. Der Literaturwissenschaftler Carl Busse schrieb 1913 über „Der Tod in Venedig“[3]:

Ohne Zweifel wird man das Thema peinlich finden, aber man muß bekennen, daß es mit vorbildlicher Zartheit behandelt wird. Im bürgerlich-moralischen Sinne bleibt der Held völlig „korrekt“; er nähert sich dem schönen Knaben überhaupt nicht, er spricht nie ein Wort mit ihm […]. Jedenfalls: soweit die Kunst an sich ein solches Thema überhaupt von dem peinlichen Erdenrest, der ihm anhaftet, befreien kann, ist es hier geschehn.

Und der Theaterkritiker und Publizist Alfred Kerr schrieb 1913[4]:

Bei Mann ist mehr literarische Fleißarbeit. Für die Herstellung liest er Sachen aus dem klassischen Altertum nach und versucht (trüb und fein) mit seinem Buchauszug die Handlung zu plombieren. […] Und wenn einmal der Junge, Tadzio, lächelt, sagt ohne Säumnis der arbeitsame Verfasser: ›Es war das Lächeln des Narziß, der sich über das spiegelnde Wasser neigt […] Nun freilich. Das war es. Oder: „Hyakinthos war es, den er zu sehen glaubte […]“. Jedenfalls ist hier Päderastie annehmbar gemacht für den gebildeten Mittelstand.

Der Literaturwissenschaftler Fritz Martini schrieb in seiner Interpretation der letzten fünf Absätze des vierten Kapitels:

Dieses banale „Ich liebe dich“ ist, gerade in seiner Einfalt, ein großes stilistisches Wagnis, die höchste Gipfelung der Pointen[5].

Zur Homoerotik hat Thomas Mann öfters Stellung genommen. In seinem Aufsatz „Über die Ehe“ (1924) schreibt er[6]:

Tatsächlich ist über eine Gefühlszone, aus der das Mediceergrabmal und der David [Michelangelo], die Venezianischen Sonette [Von Platen] und die Pathéthique in h-moll [Tschaikowsky] hervorgegangen sind, nicht gut schimpfen oder spotten. […]

In Bezug auf Von Platens berühmte Tristan-Verse Wer die Schönheit angeschaut mit Augen / Ist dem Tode schon anheimgegeben erklärte Thomas Mann, dass sie die Ur- und Grundformel alles Ästhetizismus bildeten und die Homoerotik mit Fug und Recht […] erotischer Ästhetizismus zu nennen sei. Im Hinblick auf den „Tod in Venedig erklärt er in „Über die Ehe“, dass es sich dabei um eine Verfassung handele, auf die er sich selbst mit einem Teil seines Wesens beizeiten verstanden habe.

Obwohl man einen Autor nicht mit den Protagonisten aus seinen literarischen Werken gleich setzten darf, muss man aber feststellen, dass Thomas Mann und Gustav Aschenbach charakterlich sehr ähnlich sind. Dieser Eindruck wird verstärkt durch Aschenbachs Lebensbeschreibung in Kapitel zwei der Novelle.

Das Leitmotiv in der Musik

Der Begriff „Motiv“ stammt vom lateinischen movere (bewegen). Ein Motiv ist der Beweggrund für ein Werk oder eine Tat. Mehrere Motive können zu einem Thema zusammen gefasst werden, aber ein Thema kann auch aus nur einem Motiv bestehen. Das Leitmotiv ist ein Sonderform des Motivs, das an einer Person, Sache oder Situation verbunden, in der Gesamtheit des Werkes regelmäßig wiederzufinden ist und assoziativ einen konkreten poetischen Sinngehalt, eine Idee oder ein Gefühl symbolisiert. Je nach Kunstrichtung (Musik, Malerei, Architektur, Literatur usw.) werden unterschiedliche Motive eingesetzt. So können Farben, Stimmungen, Symbole, Personen, Tonfolgen, Sätze und vieles mehr als Leitmotiv benutzt werden.

Weil die Ausdrucksmöglichkeiten sich pro Kunstrichtung unterscheiden, kann, wie für das literarische Leitmotiv deutlich gemacht wird, die genaue Definition dieses Begriffes pro Kunstrichtung verschieden sein. Leitmotive sind in der Musik bekannter als in der Literatur. Um literarische Leitmotive richtig zu verstehen, ist es sinnvoll zuerst das musikalische Leitmotiv zu erklären.

In der Musik ist ein Motiv ein kurzes melodisches Fragment, das den elementaren Baustein für ein musikalisches Thema bildet. Ein Leitmotiv ist eine Sonderform eines solchen Motivs und hat nebst seiner normalen musikalischen Funktion auch eine Erinnerungs- oder Ahnungsfunktion. Das Leitmotiv charakterisiert in musikdramatischen Werken wiederkehrend eine bestimmte Person oder Situation. Obwohl das Leitmotiv hauptsächlich mit Musikdramen, wie Opern verbunden ist, kommt es auch in symphonischer Programmmusik vor. Bekannte Beispiele sind Prokofjews „Peter und der Wolf“ und Smetanas „Die Moldau“.

Leitmotive sind schon in den Werken von Monteverdi, den ersten bedeutenden Opernkomponist (1567-1643) nachweisbar und sind seitdem von vielen großen Opernkomponisten wie Carl Maria von Weber, Giuseppe Verdi und Vincento Bellini angewandt worden. Das Wort „Leitmotiv“ tauchte 1871 in Friedrich Wilhelm Jähns „Verzeichnis der Werke Carl Maria von Webers“ erstmalig auf.

Im Allgemeinen besteht ein Thema aus einem oder mehreren Motiven, die eine musikalische Einheit bilden. Die Begriffe Motiv und Thema sind aber nicht eindeutig abzugrenzen.

Ein Meister der Anwendung des Leitmotivs war Richard Wagner, Komponist und Gründer des Gesamtkunstwerks, einer Kunstform, in den der Komponist für die Musik und das Libretto verantwortlich ist. Wagner hat das Leitmotiv häufig verwendet und die Reichweite stark erweitert; man könnte bei ihm von Leitharmonien sprechen, die ein strukturelles Element in seinen Musikdramen bilden. In den späteren Werken Wagners werden nicht nur Personen, Handlungen und Gemütslagen, aber manchmal auch personifizierte materielle Sachen wie Schwertmotiv und Walhallamotiv von Leitmotiven symbolisiert[7].

Die Leitmotive bilden einen roten Faden durch die Tetralogie „Ring des Nibelungen“, Wagners berühmtestes Gesamtkunstwerk. Der „Ring“ ist wegen der langen Dauer (vier Opern, fünfzehn Stunden Musik!), aber auch wegen der sogenannten „unendlichen Melodien“ (durchgehende Melodien ohne abgegrenzte Arien, wie es sonst in Opern üblich ist) ein komplexes Kunstwerk. Leitmotive bieten den Zuschauern einen Halt, der es ermöglicht Personen, Sachen und Gemütslagen mit einander zu verbinden, auch wenn die Person oder Sache nicht visuell auf der Bühne anwesend ist. Dadurch ist der Zuschauer mittels des Leitmotivs mehr an der Person oder der Sache beteiligt, wodurch die Musik eine konkretere Bedeutung bekommt. Diese Leitmotive (Wagner nannte sie Gefühlsmomente) tauchen unabhängig von der linearen Handlung auf. Sie verweisen als „Erinnerung“ auf die Vergangenheit oder als „Ahnung“ auf die Zukunft. Dadurch wird ein Netz, das den linearen Zeitraum durchbricht, gewebt, denn das Leitmotiv verweist auf die Vergangenheit und/oder die Zukunft.

Das literarische Leitmotiv

Es ist nicht sicher, ob das literarische Leitmotiv aus der Musik stammt, obwohl immer - so auch von Thomas Mann selbst - auf die Musik und bei Thomas Mann insbesondere auf Wagner verwiesen wird. Sicher ist, dass das Leitmotiv im Musikdrama ein wichtiges, nicht wegzudenkendes Phänomen bildet, und dass Thomas Mann mit dem Leitmotiv seine Erzähltechnik vertieft hat. Literarische Leitmotive sind von vielen Autoren mehr oder weniger bewusst angewandt[8].

Theodor Fontane hat in „Effi Briest“ (1895) das Leitmotiv auch schon angewandt. „Wasser“ ist für Effi Briest immer ein Bild der Gefahr und ist in der Geschichte ein situationelles Leitmotiv. Der Ausdruck „ein weißes Feld“ ist ein Beispiel eines textuelles Leitmotivs. Der wilde Wein aus Effis Heimatland steht leitmotivisch für Ungebundenheit und Freiheit.

Das literarische Leitmotiv trägt die Grundzüge eines musikalischen Themas: Es besteht manchmal aus einem einzelnen Motiv, manchmal aus mehreren, es wird variiert und ausgearbeitet, ohne dass dabei die Grundelemente des Leitmotivs verloren gehen, es bezieht sich immer auf schon Gewesenem und hilft dem Leser eine bestimmte Person oder Situation wieder ins Gedächtnis zu holen.

Dabei fallen zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem literarischen und dem musikalischen Leitmotiv auf:

- In der Literatur hat der Autor viel mehr Möglichkeiten, das Subjekt mit dem Leitmotiv aus einer bestimmten Perspektive zu betrachten. In „Der Tod in Venedig“ sind alle Todesfiguren Aschenbach völlig fremd, sie sind alle kräftig, herrschend oder auch wie ein Reisender gekleidet und haben alle Züge anderer Rassen.
- Das literarische Leitmotiv hat immer eine doppelte Optik. Anders als in der Musik dient das Leitmotiv nicht nur dazu Erinnerungen aufzurufen, sondern muss auch die jeweilige Gegenposition mit in Betracht gezogen werden: Jeder einzelne Begriff erscheint in doppelter Optik mit doppelter Potenz. Eine Person in „Der Tod in Venedig“, die nicht fremd, kräftig, herrschend oder wie ein Reisender gekleidet ist, und keine Züge von anderen Rassen hat, ist demzufolge keine Todesfigur. Die doppelte Optik kann aber so komplex sein, dass es manchmal schwer festzustellen ist, was sich genau hinter einem Leitmotiv verbirgt, welche Ebenen mit angesprochen werden oder auf welcher dieser Ebenen es auf welche Art und Weise funktioniert. Das Auftauchen eines Leitmotivs muss aber den Leser dazu veranlassen, nach anderen Ebenen zu suchen, die doppelte Optik zu suchen und somit den Text unter seiner Oberfläche zu überprüfen.

Das literarische Leitmotiv ist also ein eigenständiger Begriff, der aus detaillierten und raffinierten Auswirkungen der normalen Mittel der Wiederholung und Kontrast besteht, die alle Künste mit einander gemeinsam haben. Ob die Herkunft des Leitmotivs aus der Musik oder der Literatur stammt, ist die berühmte Frage nach der Henne und dem Ei.

Thomas Mann führt uns mit Leitmotiven wie mit einem Ariadnefaden durch die Geschichte und so angeleitet fällt dem Leser noch manches kleinere und größere Muster im dichtgeknüpften Teppich auf.

Formen des Leitmotivs:

Leitmotive können ihrer Erscheinungsart nach, unabhängig von der Geschichte formuliert werden. Es ist aber auch möglich, die Leitmotive thematisch zusammenzunehmen. In dieser Studie ist die thematische Einteilung: Leitmotive, die mit den Todesboten zusammenhängen und sonstige Leitmotive.

In beiden Gruppen können die Leitmotive rein textlich oder als Doppelung vorkommen.

Eine formelle Einteilung, unabhängig von der Geschichte ist:

1. Doppelung: Die Handlungen oder/und äußere Merkmale kehren in anderen Personen oder Situationen wieder.
2. Situationelles Leitmotiv: Wiederholende Situationen und Geschehnisse.
3. Textliches Leitmotiv: Wiederholungen von Wörtern, Satzabschnitten, Sätzen oder Satzgruppen.

Die Doppelung und das situationelle Leitmotiv beruhen nicht auf textlicher Wiederholung. Auch das textliche Leitmotiv beruht nicht notwendigerweise auf textlicher Wiederholung; bei einem Leitmotiv „Kopfbedeckung“ können, stellvertretend für Hut, Elemente aus einem homogenen Wortfeld[9] Kopfbedeckungsformen, wie Panama, Bersaglieri oder Strohhut gebraucht werden, was in „Der Tod in Venedig“ auch tatsächlich der Fall ist.

Das literarische Leitmotiv bei Thomas Mann

Laut Helmut Koopmann nimmt das epische Leitmotiv:

Bezug auf das, was schon einmal genannt wurde, auf bereits relativ eindeutig charakterisierte Personen, Gebärden, Gegenstände und Situationen. Das epische Leitmotiv ist ein „Zeichen“, und die so „bezeichneten“ Figuren bekommen dadurch jeweils eine Allgegenwart, die es ihnen gestattet, auch weiterhin in epischer Zukunft wiederzukehren[10].

Er macht die Unterschiede der Leitmotivtechnik bei Thomas Mann und Richard Wagner wie folgt deutlich[11]:

Das Thomas Mannsche Leitmotiv nimmt dabei, im Gegensatz zu dem Wagners, nicht Bezug auf Phänomene, für die das Leitmotiv nur eine Chiffre darstellt, sondern auf einen bedeutungsvollen Zusammenhang, der mit dem ersten Kapitel des jeweiligen Romans dargestellt wurde. War das Leitmotiv Wagners eine Chiffre für einen zuweilen sogar abstrakten oder auch emotionalen Gehalt, so ist das durch Wiederholung zum Leitmotiv gewordene Motiv bei Thomas Mann Teil einer umfassenderen Situation. Jede Wiederholung bedeutet dabei den Einbezug neuer Situationen; erst die Kette der wiederholten Motive erstellt kaleidoskopartig einen leitmotivischen Zusammenhang.

Thomas Mann wird öfter von Richard Wagner inspiriert:

Mit Neid empfindet man hier […] welche Möglichkeiten der Vereinheitlichung und der geistreich oder innig-sinnigen Vertiefung die Wagnerisch-motivische Kunstarbeit gewährt,[…].[12]

[…] und früh habe ich bekannt, dass Wagners Werke […] mich immer aufs neue mit einer neidisch-verliebten Sehnsucht erfüllten, wenigstens im kleinen und leisen, auch dergleichen zu machen.[13]

Wahrscheinlich spricht Thomas Mann in beiden Zitaten nicht nur von einem Leitmotiv, das man als Selbstzitat innerhalb eines Werkes definieren kann, sondern vor allem vom Zitat als solchem: von wörtlichen Zitaten aus älterer Literatur, Variationen auf ein gegebenes Thema und von bloßen Anklängen an seine früheren Werke oder solche seiner Lehrmeister[14]. Wie man bei Wagner von Leitharmonien sprechen könnte, kann mann bei den Todesboten in „Der Tod in Venedig“ von einer zusammenhängenden Kette von Leitmotiven sprechen.

Gerade diese Kette von Leitmotiven erweist sich, sobald man das Phänomen erkannt hat, als einer der prägnantesten Bestandteile der Erzähltechnik in Thomas Manns „Tod in Venedig“.

Der Nachdruck, der die Leitmotive auf die Geschehnisse legen, schwächt deren Zeitaspekt, denn das Leitmotiv ist nicht Ausdruck eines Vorganges, sondern eines Zustandes[15]. Die Zeit wird aufgehoben, denn Vergangenheit und Zukunft vermischen sich. Thomas Mann schreibt im Princeton-Vortrag:

[…] durch das Leitmotiv, die vor- und zurückdeutende magische Formel, die das Mittel sei, seiner inneren Gesamtheit in jedem Augenblick Präsenz zu verleihen[16].

[…] strebt es selbst […] die Aufhebung der Zeit an durch den Versuch […] in jedem Augenblick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches „nunc stans“ herzustellen[17].

Obwohl Leitmotive schon im Roman „Buddenbrooks“ (1901) nachzuweisen sind[18], hat Thomas Mann die Leitmotivtechnik zum ersten Mal strukturell in der Novelle „Tonio Kröger“ (1903) angewendet und sie dann weiterentwickelt[19]. Die Leitmotive in „Tonio Kröger“ sind hauptsächlich textliche Leitmotive, die recht einfach zu erkennen sind. In „Der Tod in Venedig“ ist das Leitmotiv weiterentwickelt und ein strukturelles Element seiner Erzähltechnik geworden.

Der Tod in Venedig, Handlung

Der alternde Schriftsteller Gustav Aschenbach hat sein Leben in äußerster Strenge und Reinheit geführt und alle seine Kräfte mit angespannter Selbstbeherrschung in den Dienst seines Schaffens gestellt. Er gehört zur Kategorie der von der Natur nur mit schwachen Kräften Ausgestatteten, die trotz ihrer Schwäche durch Willenszwang große Leistungen vollbringen können. Aber als Aschenbach sich einmal Entspannung gönnt, machen sich tiefere, bislang verdrängte Kräfte in ihm frei und nehmen Rache. Mit schrecklicher Beschleunigung findet der Verfall statt: Während eines Erholungsurlaubs in Venedig verliebt er sich in einen Knaben und stirbt nach tiefer innerer Entwürdigung.

Kapitel 1

Dem 50-Jährigen Gustav von Aschenbach, der pflichtbewusst und diszipliniert arbeitend sich auf dem Höhepunkt seines Ruhms befindet, fällt auf einem Spaziergang durch den Englischen Garten in München am Nördlichen Friedhof ein Fremder auf, dessen seltsame Erscheinung in ihm eine Reiselust weckt, hinter der sich die Begierde nach Leidenschaft und einer unterdrückten Homosexualität verbirgt, was durch einen Tagtraum ersichtlich wird. Dabei schwebt ihm eine exotische Dschungellandschaft vor; seine Vision ist mit erotischen Symbolen gespickt:

[Aschenbach] sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und ferne emporstreben [...] und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen (S. 355)[20].

Kapitel 2

Thomas Mann beschreibt, wie Aschenbachs Leben vor dem Anfang der Geschichte aussieht. Es stellt sich heraus, dass Aschenbach in seiner Jugend ein Anhänger des Psychologismus war und die hohe Kunst eher spöttisch betrachtete. Später aber wandte er sich zur Neuklassik, wobei die Form ihm wichtiger wurde als der Inhalt. Er unterdrückte seine aufkeimende Homosexualität und zwang sich jeden Tag aufs Neue zur Arbeit. Jeder Satz aus seiner Feder war das Resultat von Willensdauer und Zähigkeit; am Morgen nimmt er kalte Bäder. Er wünscht sich sehnlichst alt zu werden, da ihn seine Jugend und das Leben ebenfalls an die Homosexualität und das Unbeherrschte erinnern. Aschenbachs Romanhelden sind ausschließlich Sebastiansfiguren[21], die um jeden Preis durchhalten wollen:

Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual bedeutet nicht nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein positiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede stehenden Kunst. Blickte man hinein in diese erzählte Welt, sah man die elegante Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine innere Unterhöhlung, den biologischen Verfall vor den Augen der Welt verbirgt […] (S. 360).

Aschenbach fühlt sich, nach einigen Jahren der Unruhe, sehr wohl in seinem formellen bürgerlichen Leben in München.

Etwas Amtlich-Erzieherisches trat mit der Zeit in Gustav Aschenbachs Vorführungen ein, sein Stil entriet in späteren Jahren der unmittelbaren Kühnheiten, der subtilen und neuen Abschattungen, er wandelte sich ins Mustergültig-Feststehende, Geschliffen-Herkömm-liche, Erhaltende, Formelle, selbst Formelhafte, […] (S. 362).

[…] sein Lieblingswort war „Durchhalten“ (S. 359).

Über Aschenbachs Verwandte wird uns mitgeteilt:

[…] als Sohn eines höheren Justizbeamten geboren. Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter, Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Königs, des Staates, ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten. Innigere Geistigkeit hatte sich einmal, in der Person eines Predigers, unter ihnen verkörpert; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in der vorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines böhmischen Kapellmeisters, zugekommen. Von ihr stammten die Merkmale fremder Rasse in seinem Äußern. Die Vermählung dienstlich nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen (S. 358).

Die Ehe, die er in noch jugendlichem Alter mit einem Mädchen aus gelehrter Familie eingegangen, wurde nach kurzer Glücksfrist durch den Tod getrennt. Eine Tochter, schon Gattin, war ihm geblieben. Einen Sohn hatte er nie besessen (S. 363).

Kapitel 3

Aschenbach reist zuerst nach einer Adriainsel und dann nach Venedig. Es begegnen ihm drei Figuren: ein Beamter auf dem Schiff nach Venedig, ein alter Mann, der als Jüngling verkleidet ist und sich unter junge Burschen gemischt hat, und schließlich ein Gondoliere, der ihn von der Stadt zum Lido bringt. Die drei gehören zu der Gruppe der Todesboten, zu denen auch der Wanderer im Englischen Garten und der Sänger im fünften Kapitel gezählt werden. Die Todesboten werden im Verlauf dieses Aufsatzes ausführlich besprochen.

Im Hotel begegnet Aschenbach Tadzio, einem polnischen Knaben absoluter Schönheit. Bald darauf sieht er, wie Tadzio von Jaschu geküsst wird:

[…] welcher „Jaschu“ gerufen wurde, küßte den Schönen. Aschenbach war versucht, ihm mit dem Finger zu drohen. „Dir aber rat’ ich, Kritobulos“, dachte er lächelnd, „geh ein Jahr auf Reisen! Denn soviel brauchst du mindestens Zeit zur Genesung“. Und dann frühstückte er große, vollreife Erdbeeren, die er von einem Händler erstand. Es war sehr warm geworden, obgleich die Sonne die Dunstschicht des Himmels nicht zu durchdringen vermochte. Trägheit fesselte den Geist, indes die Sinne die ungeheure und betäubende Unterhaltung der Meeresstille genossen (S. 379).

Dir aber rat’ ich, Kritobulos [...] geh ein Jahr auf Reisen: Zitat aus Xenophon, „Memorabilien des Sokrates“, Buch eins, Kapitel drei. Sokrates warnt Xenophon in diesem Gespräch vor den Gefahren der sinnlichen Schönheit, die selbst einem offensichtlich vernünftigen Mann drohen. Insofern behandelt der Dialog genau das Thema dieser Geschichte. Kritobulos, der den Sohn des Alkibiades geküsst hat, wird von Sokrates geraten, für ein Jahr auf Reisen zu gehen, um die Wunde des Kusses zu heilen, der mit dem Biss der Tarantel verglichen wird. Aschenbach ist ein zweiter „Xenophon“, der trotz besserer Einsicht nicht dem Rat des Sokrates folgt, beim Anblick der Schönheit die Flucht zu ergreifen[22]. Aschenbachs war sich also der Gefahr nicht bewusst. Tragisch ist, dass er genau in dem Moment vollreife Erdbeeren isst, wodurch er vermutlich mit Cholerabazillen angesteckt wird.

Er verliebt sich augenblicklich in Tadzio, aber will dies nicht wahrhaben. Da er nicht von ihm ablassen kann, beschließt er Venedig zu verlassen, doch am Bahnhof stellt sich heraus, dass sein Koffer in falsche Richtung geleitet wurde. Mit Freude über dieses Missgeschick, das, wie er sich sagte, ein Sonntagskind nicht gefälliger hätte heimsuchen können, kehrt er ins Hotel zurück:

[…] fühlte die Begeisterung seines Blutes, die Freude, den Schmerz seiner Seele und erkannte, daß ihm um Tadzios willen der Abschied so schwer geworden war (S. 386).

Kapitel 4

Nun erklärt Aschenbach den Jungen zu einem Sinnbild des Schönen. Dass er ihn in den nächsten Tagen am Strand oder im Hotel ständig beobachtet, ist, wie er sich einredet, nur der Ausdruck seiner künstlerischen Freude am Schönen. Er gesteht sich nicht ein, dass die Leidenschaft gesiegt hat und er sich in Tadzio verliebt hat. Unter diesem Vorwand wird er vollkommen glücklich; auch das Wetter ist nun schöner. Am Strand verfasst er, während er Tadzio beobachtet, anderthalb Seiten erlesener Prosa, seine Schaffenskrise scheint nun also auch vorbei zu sein. Am Ende des Kapitels lächelt Tadzio Aschenbach zu:

Der, welcher dies Lächeln empfangen, enteilte damit wie mit einem verhängnisvollen Geschenk. Er war so sehr erschüttert, daß er das Licht der Terrasse, des Vorgartens, zu fliehen gezwungen war und mit hastigen Schritten das Dunkel des rückwärtigen Parkes suchte. […] überwältigt und mehrfach von Schauern überlaufen, flüsterte er die stehende Formel der Sehnsucht, - unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich und heilig doch, ehrwürdig auch hier noch: „Ich liebe dich!“ (S. 396).

Kapitel 5

Dieses Kapitel ist Aschenbachs Untergang gewidmet. Aschenbach entdeckt, dass in der Stadt die Cholera ausgebrochen ist weshalb sämtliche Gäste abreisen. Die Vernunft verliert und die Leidenschaft triumphiert. In einer letzten Bemühung will er Tadzios Familie vor der Cholera warnen und Tadzios Untergang abwenden, aber weil er nicht ohne Tadzio leben kann, entschließt er sich anders. Schließlich erlebt er in einem nächtlichen Alptraum eine Vision: Eine Horde Barbaren feiert ein wildes Fest, wobei sie sich um ein Phallussymbol herum einer Massenorgie hingeben. Dieser Traum beseitigt die letzten Hemmungen und er verfolgt Tadzio nun durch die ganze Stadt. Schließlich bricht er, sitzend in seinem Liegestuhl auf dem fast verlassenen Strand zusammen und stirbt an der Cholera, während ihm Tadzio zuzuwinken scheint. Nun zeigt sich, dass der Junge ein Psychagog (Hermes als Seelengeleiter) ist:

Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu folgen (S. 417).

Literaturgeschichtliche Einordnung

In „Der Tod in Venedig“ (1912) sind Züge mehrerer literarischen Strömungen zu finden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Der Tod in Venedig“ gehört zu den erfolgreichsten Werken des Autors. Innerhalb Thomas Manns Gesamtwerks nimmt die Novelle zusammen mit „Tonio Kröger“, hinsichtlich der zentralen Künstlerproblematik, die inhaltlich hier noch keiner Lösung zugeführt wird, eine wichtige Stelle ein. Thomas Mann bestätigte durch die Novelle seinen Ruf als klassischer Schriftsteller. Ihre Popularität verdankt die Erzählung nicht zuletzt auch der homo-erotischen Thematik, die einen autobiografischen Bezug nahe legte. Auch Lucio Viscontis Verfilmung von 1970 mit Dirk Bogarde in der Hauptrolle hat zum Erfolg der Erzählung erheblich beigetragen.

[...]


[1] Großschreibung nach der Gesamtausgabe (1931), Otto von Holzen, Berlin.

[2] Der Abschnitt über Homosexualität gründet auf Sascha Kiefers Der Tod in Venedig, Aspekte der Interpretation

[3] Carl Busse in Velhagen & Klasings Monatshefte 27 (1912/13). Zit. n. RUB 8188, S. 146. Zitat aus: Kiefer S. 14

[4] Alfred Kerr in Pan 3 (1913), zit. n. RUB 8188, S. 140f Zitat aus: Kiefer S. 16

[5] Martini (1961, S. 222) Zitat aus Bahr S. 58

[6] Bahr S. 57/58: Die hier erwähnte Zitate stammen alle aus Thomas Manns Aufsatz: Über die Ehe

[7] Eine Einführung in die Terminologie der Wagnerschen Musik bietet Prof. Dr. K. Bernet Kempers (Herinneringsmotieven, Leidmotieven, Grondthema’s, Amsterdam 1929).

Eine praktische Darstellung der wagnerischen Leitmotive bietet: http://www.richard-wagner-werkstatt.com/ring/

[8] Zum Beispiel James Joyce’s Ulysses, Bulhof S. 2/3

[9] Ein Wortfeld besteht aus einer Menge von Wörtern, die zueinander in Relationen stehen. Diese Wörter gehören derselben Wortklasse an, sind inhaltlich einander Ahnlich und haben einander Ahnlich und haben einen gemeinsamen Referenzbereich, z.B. denselben Oberbegriff. Diese Wortfelder werden auch als homogene Wortfelder bezeichnet.

[10] Koopmann S. 53

[11] Koopmann S. 54/55

[12] Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen S. 414

[13] Mann: Rede und Antwort S. 360.

[14] Wirtz S. 64/65

[15] Bulhof S. 25ff

[16] Mann: Einführung in den Zauberberg (für Studenten der Universität Princeton S. VI

[17] Mann: Einführung in den Zauberberg (für Studenten der Universität Princeton S. XI

[18] Koopmann S. 55ff

[19] Mann: Einführung in den Zauberberg (für Studenten der Universität Princeton S. XI

[20] Das Zitat kommt, wie alle Zitate in dieser Studie aus Der Tod in Venedig, Fischer Verlag 1963.

[21] Christlicher Märtyrer, Offizier in der Leibgarde Diokletians. Pestheiliger und Patron der Schützen. In seiner Stockholmer Nobelpreisrede nannte Thomas Mann Sebastian seinen Lieblingsheiligen und nahm sein Heldentum „für die deutschen Geist, die deutsche Kunst in Anspruch .

[22] Bahr S. 42

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Leitmotive in Thomas Manns "Der Tod in Venedig"
Hochschule
Universiteit Utrecht
Note
8
Autor
Jahr
2006
Seiten
42
Katalognummer
V132084
ISBN (eBook)
9783640382156
ISBN (Buch)
9783640382262
Dateigröße
654 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leitmotive, Thomas, Manns, Venedig
Arbeit zitieren
Ton van der Steenhoven (Autor:in), 2006, Leitmotive in Thomas Manns "Der Tod in Venedig", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132084

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