Kritik an der visuellen Leichtgläubigkeit

Eine Gegenüberstellung von Susan Sontags "Das Leiden anderer betrachten" und Otto Karl Werckmeisters "Der Medusa-Effekt"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten
2.1. Inhaltsüberblick
2.2. Was ist Kriegsfotografie und welche Reaktionen ruft diese hervor?
2.3. Bezug zu Susan Sontags Über Fotografie

3. Otto Karl Werckmeister: Der Medusa-Effekt
3.1. Inhaltsüberblick
3.2. Informative und operative Bildersphäre

4. Gegenüberstellung der Positionen Sontags und Werckmeisters
4.1. Über die Wahrheit von Bildern
4.2. Der Krieg und die Medien
4.3. Zensur und Propaganda

5. Kritik an der visuellen Leichtgläubigkeit: „Lösungsvorschläge“ und Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

„Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg“[1], so Walter Benjamin in seinem 1936 erstmals erschienenem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Schon Benjamin hat einen Zusammenhang zwischen Kunst und Politik gesehen, indem er schrieb, dass der Faschismus „die Ästhetisierung der Politik“ betreibe und der „Kommunismus […] ihm mit der Politisierung der Kunst“ antwor-tet.[2] Benjamin erkannte anhand des Faschismus und Kommunismus, dass der Kult-Charakter der Kunst zur Beeinflussung der Massen dienstbar gemacht wird: „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst.“[3] Als „erstes wirklich revolutionä-res Reproduktionsmittel“ bezeichnet Benjamin die Fotografie, denn mit dieser ist es möglich ge-worden, zu reproduzieren.[4]

Auch Susan Sontag[5] und Otto Karl Werckmeister[6] beschäftigen sich in ihren Publikationen Das Leiden anderer betrachten (2003) und Der Medusa-Effekt (2005) mit dem Zusammenhang von Fotografie und Politik bzw. Medien und der damit in Verbindung stehenden Zensur und Pro-paganda. In dieser Hausarbeit soll es um die Betrachtung des Verhältnisses der Masse zur Kunst und den Medien gehen. Das Thema der Kriegsfotografie und dessen Wiedergabe in den Medien sowie die Aufnahme des Gezeigten beim Rezipienten sollen hier im Mittelpunkt stehen.

Das Thema des ersten Teils meiner Arbeit ist Sontags Werk Das Leiden anderer betrachten. Daher werde ich einen Inhaltsüberblick geben und anschließend das Wesentliche herausgreifen. Auch soll ein Bezug zu ihrer 25 Jahre zuvor erschienenen Essaysammlung Über Fotografie herge-stellt werden, denn dort vertrat sie noch eine andere Auffassung, was die Wirkung der Fotografie auf den Betrachter angeht, als im Jahre 2003.

Anschließend möchte ich Otto K. Werckmeisters Der Medusa-Effekt schwerpunktartig wie-dergeben, wobei ich mich auf seine Überlegungen zu den verschiedenen Bildersphären und dem Verhältnis von Politik und Fotografie beschränken werde.

Am Ende der Hausarbeit sollen ein Vergleich der Ansichten Sontags und Werckmeisters ste-hen sowie eine Betrachtung ihrer Lösungsvorschläge, um die Kritik der visuellen Leichtgläubig-keit des Betrachters zu hinterfragen. Dabei werde ich besonders auf drei Aspekte, die sich in bei-den Werken wiederfinden, eingehen: die Wahrheit von Bildern, das Verhältnis von Krieg und Me-dien sowie das Thema Zensur bzw. Propaganda. In diese Gegenüberstellung möchte ich noch wei-tere Untersuchungen und Meinungen zur (Kriegs-)Fotografie mit einbeziehen, um so ein umfas-senderes Bild zur Thematik zu geben. Des Weiteren werde ich anhand von Beispielen aus der Kriegsfotografie und detaillierten Beschreibungen von Zensurmaßnahmen während Kriegszeiten, die in dieser Hausarbeit aufgegriffenen Aspekte untermauern.

2. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten

2.1. Inhaltsüberblick

In Das Leiden anderer betrachten setzt sich Susan Sontag mit der Kriegsfotografie näher ausein-ander, genauer gesagt mit der asymmetrischen Kriegsführung und ihren Folgen für die Bildbe-richterstattung, wie Zensur und Propaganda, sowie der zunächst außermoralischen Rolle des Bild-konsumenten und dem dabei unterdrückten Recht der Opfer, Verlierer und Unterprivilegierten.[7] Sontag rekapituliert die historische Entwicklung der Berichterstattung von Katastrophen mit der Kamera, beginnend bei Robert Capas Bild eines Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg, aufgenom-men in dem Moment, da ihn die tödliche Kugel trifft (siehe Abb. 1). Sie sagt u.a., dass der fotogra-fische Kriegsbericht, wie wir ihn heute kennen, erst mit einer neuen Ausrüstung für Fotografen, mit leichten Kleinbildkameras und mit der Emanzipation der Kamera vom Stativ möglich wurde. Der Spanische Bürgerkrieg (1936-1939) war der erste Krieg, über den auf diese Weise berichtet wurde.[8]

Doch auch schon zuvor wurden seit der Erfindung der Fotografie (1839) Kriegsschauplätze fotografiert, doch blieb das Kampfgeschehen für die Kamera weitgehend unerreichbar. Außerdem wurde hauptsächlich anonym publiziert und die Bilder bedienten sich einer vorwiegend epischen Bildsprache und zeigten meist das Nachher, wie mit Leichen übersäte Schlachtfelder oder zerstör-te Dörfer und Städte.[9]

Weiterhin geht Sontag auf die Ikonografie der Leiden ein, denn die Geschichte der Darstel-lung von Leiden hat eine lange Tradition. Als Beispiele benennt sie Heiligenbilder der christlichen Kunst und der heidnischen Mythen sowie Francisco de Goyas Die Schrecken des Krieges
(Abb. 2). Bei Goyas Werk handelt es sich um 83 nummerierte, zwischen 1810 und 1820 entstan-dene Radierungen, die die Gräueltaten der Soldaten Napoleons schildern, welche 1808 in Spanien eindrangen, um den Aufstand gegen die französische Herrschaft niederzuschlagen.[10] Goya führt den Betrachter dicht an die Schrecken des Krieges heran, indem er Beiwerk vernachlässigt und Landschaften nur andeutet, um Atmosphäre zu schaffen.[11] Er konzentriert sich auf das für ihn We-sentliche in den Bildern: Die Darstellung dessen, was Menschen anderen Menschen anzutun in der Lage sind.

Neben der historischen Entwicklung der Kriegsfotografie beschäftigt sich die Autorin mit dem Zweck derartiger Gräuelbilder und der Authentizität von Kriegsfotos. Sie verwahrt sich ge-gen jedes Bedürfnis nach Authentizität. Ihrer Meinung nach, ist jedes Kriegsfoto inszeniert, und beruft sich in seiner Aussage und Wirkung auf das Medium und dessen Geschichte.[12] Auch auf Werke, die sich mit Kriegsfotografie und den Zweck derselben sowie die Folgen des Krieges be-fassen, verweist Sontag, so z.B. auf den Essay Drei Guineen (1938) von Virginia Woolf oder auf den Bildband Krieg dem Kriege! von Ernst Friedrich (1924).

Susan Sontags zentrales Anliegen ist in Das Leiden anderer betrachten herauszufiltern, was Bilder des Schreckens, Kriegsbilder, beim Betrachter auslösen und was derartige Fotografien ver-mitteln; auf diese Thematik wird im nächsten Kapitel genauer eingegangen. Bei der Beantwortung dieser Fragen revidiert Sontag ihre frühere Ansicht, nach welcher der Betrachter abstumpfe, wenn er ständig mit dem konfrontiert werde, was Menschen anderen Menschen antun können, doch da-zu mehr an späterer Stelle (siehe 2.3.). Auf die historische Entwicklung der Kriegsfotografie und auf die Ikonografie der Leiden soll in dieser Hausarbeit nicht genauer eingegangen werden. Ich möchte mich auf die Beziehung zwischen Fotografie, Medien und Bildbetrachter, die Sontag he-rausstellt, sowie deren Konsequenzen beschränken.

2.2. Was ist Kriegsfotografie und welche Reaktionen ruft diese hervor?

Nachdem ein kurzer Überblick über den Inhalt von Das Leiden anderer betrachten gegeben wur-de, sollen in der Folge die wichtigsten Thesen Sontags herausgestellt werden. Im Mittelpunkt ste-hen ihre Definition der Kriegsfotografie und Reflektionen über die Medien sowie die Beobach-tungen zu den Reaktionen, die diese Art der Fotografie beim Betrachter hervorrufen.

Bei der Kriegsfotografie handelt es sich um ein Betrachten des Leidens aus Distanz – bedingt durch das Medium der Fotografie.[13] Es ist eine durch und durch moderne Erfahrung, Zuschauer von Katastrophen zu sein, die sich in einem anderen Teil der Welt ereignen. Dies ist erst durch die Nachrichten, Reporter und Massenmedien möglich geworden.[14] Im Gegensatz zu einem Kriegs-bericht, der sich, je nach Komplexität, Kontext oder Wortschatz, an einen größeren oder kleineren Leserkreis richtet, „verfügt ein Foto nur über eine einzige Sprache und ist im Prinzip für alle be-stimmt“.[15] Der Fotografie kommt „bei der Vermittlung des Schreckens von massenhaft produ-ziertem Tod eine Unmittelbarkeit und eine Autorität zu, die jeder sprachlichen Darstellung über-legen“ ist.[16]

Susan Sontag hält fest, dass das Foto in einer Ära der Informationsüberflutung eine Methode bietet, etwas schnell zu erfassen und gut zu verinnerlichen. Wo es um das Erinnern geht, hinterlas-sen Fotografien eine tiefe Wirkung, denn das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern und die Grund-einheit bleibt das einzelne Bild.[17] Als Grund dessen, wieso die Fotografie es schaffte, sich zu etablieren, nennt Sontag zwei gegensätzliche Punkte: Zum einen ist ein Foto eine Garantie für Ob-jektivität und zum anderen werden Bilder immer auch aus einem bestimmten Blickwinkel aufge-nommen. Fotografien sind eine Wiedergabe von etwas Realem; sie sind unanfechtbar im Gegen-satz zu sprachlichen Darstellungen.[18] Gleichzeitig bezeugen Fotos unweigerlich dieses Reale, denn jemand musste zugegen sein, um diese Aufnahme tätigen zu können.[19]

Welche Reaktionen rufen nun Kriegsbilder beim Rezipienten hervor?

Sieh her, sagen die Fotos, so sieht das aus. Das alles richtet der Krieg an – und auch das hier. Der Krieg zertrümmert, läßt bersten, reißt auf, weidet aus, ver-sengt, zerstückelt. Der Krieg ruiniert.[20]

Sontag macht deutlich, dass das größte Publikum der Bilder des Schreckens die Menschen aus-macht, die nicht direkt mit den schrecklichen Ereignissen konfrontiert sind. Die Reaktion eines Betrachters auf ein Foto hängt nicht davon ab, ob das Bild Werk eines erfahrenen Könners ist oder als naives Objekt gesehen wird, sondern davon, wie das Bild vom Betrachter identifiziert wird, was die Betrachtung der Bildlegende miteinbezieht.[21] Die Autorin betont die Wichtigkeit der Bild-legende eines Fotos, „die es erklärt – oder fälscht“.[22] Wenn eine Distanz zum Motiv vorhanden ist, kann der Rezipient das Bild auf mehrere Weisen deuten. Wo aber Protest gegen Krieg ausbleibt, lässt sich das Antikriegsfoto, das bei Kriegsgegnern den Krieg als grausam entlarvt, als Darstel-lung von Pathos oder als Darstellung eines bewundernswerten Heldentums in einem unvermeid-lichen Kampf, der nur in Sieg oder Niederlage enden kann, sehen.[23] Die Absichten des Fotografen bestimmen also die Bedeutung eines Fotos nicht, das vielmehr zwischen den Launen und Loyali-täten der verschiedenen Gruppen seinen eigenen Weg geht.[24] Fotos von grausamen Geschehnissen können also gegensätzliche Reaktionen beim Betrachter hervorrufen:

Den Ruf nach Frieden. Den Schrei nach Rache. Oder einfach das dumpfe, stän-dig mit neuen fotografischen Informationen versorgte Bewußtsein, daß immer wieder Schreckliches geschieht.[25]

Sontag macht noch eine weitere Wirkung der Kriegsfotos aus: die Schockwirkung: „Das Bild schockiert – und darum geht es. Nachdem die Bilder ins Arsenal des Journalismus aufgenommen waren, sollten sie fesseln, bestürzen, überraschen.“[26] Die Jagd nach möglichst dramatischen und schockierenden Bildern treibt das fotografische Gewerbe an. Laut Sontag, gehört dies zur Norma-lität einer Kultur, „in der der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsumanreiz […] geworden ist“.[27] Mit schockierenden Bildern lässt sich Aufmerksamkeit auf das eigene Produkt lenken, kann man Eindruck schinden. Und je größer die Bilderflut, desto schwieriger ist es, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.[28]

Jedes Bild, das wir betrachten, sehen wir in einer bestimmten Umgebung. Diese Umgebungen haben sich in der Moderne vervielfältigt.[29] Es ist ein Unterschied, ob man ein Foto im Fotografie-museum, in einer Galerie für zeitgenössische Kunst, in einem Buch, im Fernsehen oder in einer Zeitschrift sieht.[30] Sontag weist darauf hin, dass es heutzutage nicht mehr die Möglichkeit gibt, den Bildern ein Ambiente der Andacht zu garantieren, indem sie mit der gebotenen Hingabe be-trachtet werden können. Der Grund dafür ist, dass massenweise Fotos auf vielerlei Art in Umlauf gebracht werden.[31]

2.3. Bezug zu Susan Sontags Über Fotografie

In Das Leiden anderer betrachten hebt Susan Sontag zwei Ansichten über die Wirkungsweise von Fotografie hervor, die sie auch schon in ihrem früheren Werk mit dem Titel Über Fotografie dis-kutierte. Der erste Ansatz lautet, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Aufmerk-samkeit der Medien gelenkt wird, d.h. hauptsächlich durch Bilder. Ein Krieg wird „real“, wenn es von ihm Fotos gibt.[32] Ein Beispiel hierfür ist der Protest gegen den Vietnamkrieg, der durch Bilder mobilisiert wurde. Dies zeigt, wie stark uns Fotos darin beeinflussen können, welchen Katastro-phen und Krisen wir unsere Aufmerksamkeit schenken, worum wir uns kümmern und letztlich auch, wie wir diese Konflikte beurteilen.[33] Der zweite Ansatz ist fast eine Umkehrung des eben Gesagten: In einer mit Bildern gesättigten bzw. übersättigten Welt haben gerade jene Bilder, auf die es ankommen sollte, eine dämpfende Wirkung. Wir stumpfen ab. Solche Bilder nehmen etwas von der Fähigkeit zu fühlen.[34] Im ersten Essay mit dem Titel In Platos Höhle aus der Essaysamm-lung Über Fotografie hat Sontag die Auffassung vertreten, dass zwar ein Geschehen, das wir durch Fotos kennenlernen, realer wird als es ohne Bebilderung je sein könnte, doch verliert dieses Geschehen an Realität, wenn es immer und immer wieder abgebildet wird.[35] So sehr Fotos Mitge-fühl wecken können, so sehr sind sie auch in der Lage, es wieder schrumpfen zu lassen.[36]

In Das Leiden anderer betrachten überprüft Susan Sontag ihre 1977 getätigte Aussage aufs Neue und stellt sich folgender Frage:

Was spricht dafür, daß Fotos ihre Wirkung nach und nach einbüßen können, daß unsere Zuschauerkultur das moralische Potential von Greuelfotos neutralisiert?[37]

Für ihre damals vertretene Ansicht spricht, dass das Medium Fernsehen, unser wichtigstes Nach-richtenmedium heute, ein Übermaß an Bildern produziert. Die Bilderflut sorgt dafür, dass die Auf-merksamkeit locker, beweglich und gegenüber den Inhalten relativ gleichgültig bleibt. Die Bilder-flut verhindert, dass eine Rangordnung zwischen den Bildern entsteht. Des Weiteren ist es beim Fernsehen entscheidend, dass man die Möglichkeit hat, umzuschalten und dass es durchaus nor-mal ist, zwischen den Programmen zu wechseln.[38] Ein reflektiertes Sicheinlassen auf den Inhalt setzt ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit voraus.[39] Gerade dadurch, dass der Inhalt nach und nach aus den Bildern herausgewachsen ist, tragen sie, laut Sontag, zur Gefühlsabstumpfung bei. Kriegsgräuel sind also zu einer „allabendlichen Belanglosigkeit“ verkümmert.[40] Wir als Zuschauer verlieren bei der Flut an Bildern die Fähigkeit, zu reagieren. Auf diese Weise werde das Mitgefühl ständig überfordert und erlahme schließlich, so Sontag.[41]

Sontags These lautet also, dass der passive, undistanzierte Konsum der Masse an Fotografien, des Fernsehens und des Internet das Wahrnehmen, Begreifen und Erkennen realer Ereignisse ver-hindern oder stark beeinträchtigen kann. Die Fotografie ist in dieser Rezeptionshaltung wie Sontag In Platos Höhle ausdrückt, ein „Abklatsch der Erkenntnis“ und ein „Abklatsch der Weisheit“.[42] Das heißt, dass man zwar Bilder der Wirklichkeit sieht, doch dies ist nicht gleich bedeutend damit, dass man die Wirklichkeit kennt. Das Problem besteht demnach nicht darin, dass Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern dass sie sich nur an die Fotos erinnern.[43]

Des Weiteren vermutet Sontag, dass die Voraussetzung einer moralischen Beeinflussung durch Fotos das Vorhandensein eines politischen Bewusstseins ist. Ohne dieses würde man Gräu-elfotos nur als unwirklich oder als persönlichen Schock empfinden.[44] Die Konsequenz daraus wä-re, dass blutrünstige Bilder seltener gesendet werden, dass auf etwas, das Sontag am Ende ihres Buches Über Fotografie eine „Ökologie der Bilder“ genannt hat, hingearbeitet wird.[45] Damit ist der bewusste Gebrauch und Verbrauch von Bildern gemeint.

In Das Leiden anderer betrachten distanziert sich Susan Sontag nun von dieser einstigen, wie sie es bezeichnet „konservative[n]“ Forderung nach einer „Ökologie der Bilder“.[46] Die Autorin be-trachtet das Thema differenzierter und sie konstatiert, dass die aktive, einfühlsame und auch dis-tanzierte Betrachtungsweise besonders von Kriegs- und Gräuelfotos und -filmen ethisch und poli-tisch nicht nur gerechtfertigt, sondern ggf. auch zwingend erforderlich ist, da die Fotos an Schau-plätzen aufgenommen wurden, die uns scheinbar nicht unmittelbar zu betreffen scheinen. Noch in Über Fotografie schrieb Sontag, die Fotografie habe eine „chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt“[47] geschaffen, doch in Das Leiden anderer betrachten geht sie davon aus, dass man mit den Kriegsbildern konfrontiert werden muss. Nicht nur die Opfer des Krieges hätten, laut Sontag, ein Recht darauf, dass ihre Leiden dargestellt werden, den Bildern käme außerdem eine wichtige Funktion zu, auch wenn sie die Realität, auf die sie sich beziehen nicht erfassen können.[48] Die Fo-tos sagen: „Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, be-geistert, selbstgerecht. Vergeßt das nicht.“[49]

Susan Sontag hält die Betrachtung von Kriegsfotos für notwendig, da sich so Unbeteiligte ei-ne konkrete Vorstellung von den wahren Vorgängen auf der Erde machen können.[50] Das Medium der Fotografie dient hierbei als erlebnisförmige Anschauungsform der Auswirkungen von Krieg, Gewalt und Elend. Auf diese Weise sollen die, die von jener Gewalt oder vom Krieg verschont bleiben, anhand der eigenen ästhetischen Vorstellungskraft und moralischen Urteilskraft, die Ka-tastrophen der Anderen nachvollziehen, solidarisch mitvergegenwärtigen und miterinnern.[51] So kann sich, laut Sontag, ein erweitertes politisches Bewusstsein jenseits der narzisstischen Beschir-mung durch die Medien und durch den privilegierten Wohlstand herausbilden.[52] Fotografie, sagt sie, diene heute vor allem zu „konsumistischen Manipulationen“, und man könne sich der Wir-kung keines noch so bedrückenden Bildes mehr sicher sein.[53] Dennoch muss man die Bilder unbe-dingt wirken und ihre Schockwirkung sich entfalten lassen. Dann können sie Ausgangspunkt für eine intervenierende Kritik und damit für eine konkrete Politik werden.[54] Denn nicht nur die Auf-merksamkeits-, auch die kollektive Erinnerungsökonomie funktioniere in einer Ära der Informati-onsüberflutung am besten noch mit Fotos, die uns helfen, unsere Vorstellungen gerade vom Un-vorstellbaren zu organisieren.[55] Sontag sagt, „Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.“[56] Bilder helfen also, Ereignisse im Gedächtnis zu behalten, doch ist das Sontag nicht genug. Nur das Leiden anderer Menschen betrachten reicht ihr nicht aus, denn das bewirkt nicht, dass man die Wirklichkeit auch kennt. Sie appelliert, dass man es für seine Pflicht halten sollte, über die Fotos nachzudenken, die man sieht:

Solche Bilder können nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksam-

keit, zum Nachdenken, zum Lernen – dazu, die Rationalisierungen für massen-

haftes Leiden […] kritisch zu überprüfen. Wer hat das, was auf dem Bild zu se-

hen ist, verursacht? Wer ist verantwortlich? Ist es entschuldbar? War es unver-

meidlich? Haben wir eine bestimmte Situation bisher fraglos akzeptiert, die in Frage gestellt werden sollte?[57]

Doch nicht nur über Fotos nachdenken soll der Rezipient, sondern auch zu der Einsicht gelangen, dass „weder moralische Empörung noch Mitgefühl das Handeln bestimmen können“.[58] Der Be-trachter soll sowohl den Rezeptions- als auch den Produktionskontext berücksichtigen. Die Rezep-tion der Bilder soll das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit des Konsumenten stabil mit den Or-ten des vermeintlichen Fremdgeschehens verknüpfen, um zu einer „Horizontverschmelzung“ zu gelangen, in der der Betrachter sich als Teil einer globalen Politik und in der reflektierbaren Diffe-renz der wirklichen Ereignisse und ihrer selektiven Berichterstattung versteht.[59]

[...]


[1] Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 74.

[2] Ebd., S. 77.

[3] Ebd., S. 55.

[4] Vgl. ebd., S. 23.

[5] Susan Sontag wurde 1933 in New York geboren und verstarb dort 2004. Sontag war Kritikerin, Autorin und Filme-macherin. Bekanntheit erlangte sie vor allem mit ihren Essays. 2003 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihren Roman In Amerika ausgezeichnet.

[6] Der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister wurde 1934 in Berlin geboren und lebt nach langjähriger Lehrtätigkeit an Universitäten in Illinois und Los Angeles heute wieder in Berlin.

[7] Vgl. Brinkemper: Die politische Rebellion der Erlebnisse.

[8] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 27 f.

[9] Ebd., S. 27.

[10] Ebd., S. 53.

[11] Ebd., S. 53 f.

[12] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 56.

[13] Ebd., S. 20.

[14] Ebd., S. 25.

[15] Ebd., S. 27.

[16] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 31 f.

[17] Ebd., S. 29.

[18] Ebd., S. 33.

[19] Ebd.

[20] Ebd., S. 14.

[21] Ebd., S. 47 f.

[22] Ebd., S. 17.

[23] Ebd., S. 47 f.

[24] Ebd., S. 48.

[25] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 20.

[26] Ebd., S. 30.

[27] Ebd.

[28] Vgl. ebd.

[29] Ebd., S. 140.

[30] Vgl. ebd.

[31] Ebd., S. 140 f. Siehe auch Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 29.

[32] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 121.

[33] Ebd., S. 121 f.

[34] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 122.

[35] Ebd.

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Ebd., S. 123.

[39] Ebd.

[40] Ebd., S. 125.

[41] Ebd.

[42] Sontag: Über Fotografie, S. 29.

[43] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 103.

[44] Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 133 f.

[45] Sontag: Über Fotografie, S. 172.

[46] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 126.

[47] Sontag: Über Fotografie, S. 17.

[48] Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 130 ff.

[49] Ebd., S. 134.

[50] Ebd., S. 111.

[51] Vgl. ebd., S. 28 und 136.

[52] Ebd., S. 133 f.

[53] Ebd., S. 93.

[54] Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 136.

[55] Vgl. ebd. sowie S. 28.

[56] Ebd., S. 104.

[57] Ebd., S. 136.

[58] Ebd.

[59] Vgl. ebd., S. 119 sowie Brinkemper: Die politische Rebellion der Erlebnisse.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Kritik an der visuellen Leichtgläubigkeit
Untertitel
Eine Gegenüberstellung von Susan Sontags "Das Leiden anderer betrachten" und Otto Karl Werckmeisters "Der Medusa-Effekt"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Kunstgeschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar: Humanistische Fotografie. Engagierte und sozialdokumentarische Fotografie im 20. Jh.
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
38
Katalognummer
V131884
ISBN (eBook)
9783640377312
Dateigröße
3660 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fotografie, Moderne Kunst, Humanismus, Robert Capa, Susan Sontag, Caravaggio, Krieg, Kriegsfotografie, Roger Fenton, Nick Ut, Eddie Adams, James Nachtwey, Otto Karl Werckmeister, Bild, Medien, Zensur, Propaganda, Ökologie der Bilder
Arbeit zitieren
Doreen Fräßdorf (Autor:in), 2009, Kritik an der visuellen Leichtgläubigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131884

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