Selbstsozialisation (Luhmann) und Habitualisierung (Bourdieu)


Hausarbeit, 2009

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Niklas Luhmann: Sozialisation als Selbstsozialisation
2.1 Autopoiesis
2.2 Kommunikation
2.3 Soziale Systeme
2.4 Sozialisation
2.5 Intentionale Sozialisation
2.6 Sekundäre Sozialisation
2.7 Konsequenzen für die Pädagogik

3. Pierre Bourdieu: Sozialisation als Habitualisierung
3.1 Habitus
3.2 Kapital
3.2.1. Ökonomisches Kapital
3.2.2. Kulturelles Kapital
3.2.3. Soziales Kapital
3.2.4. Symbolisches Kapital
3.3 Konsequenzen für die Pädagogik

4. Selbst- und/oder Fremdsozialisation?

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Konzepte von Sozialisation der beiden einflussreichen Soziologen Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu vorzustellen, sowie in einem nächsten Schritt zu überprüfen, ob – und falls ja, inwiefern – sich beide Konzepte in ein Verhältnis zueinander setzen lassen.

Sozialisationsprozesse standen weder für Luhmann noch für Bourdieu im Zentrum ihrer Arbeit. Während Luhmann sich vorrangig an einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme abarbeitete, die dann erst später sozusagen auf einzelne gesellschaftliche Teilsysteme angewendet und übertragen werden sollte (etwa auf das Rechtssystem, die Religion oder auch das Erziehungssystem), so widmete sich Bourdieu vornehmlich der – meist im Alltagsleben verwurzelten – empirischen Forschung, dabei insbesondere zur gesellschaftlichen Reproduktion. Auf diese Weise ist der Begriff der Sozialisation im Gesamtwerk Luhmanns nur von marginaler Bedeutung, während Bourdieu erst gar keine Theorie der Sozialisation entwickelt hat. Dennoch lassen sich Bourdieus Ausführungen zum Habitus für eine Sozialisationstheorie anschlussfähig machen, und auch Luhmanns knappe Ausführungen zum Begriff der (Selbst-)Sozialisation bieten neue Erkenntnisse auf dem Feld der Sozialisationsforschung.

Um ein angemessenes Verständnis von Selbstsozialisation und Habitualisierung zu ermöglichen, ist es unumgänglich, zunächst jeweils einige zentrale Grundbegriffe Luhmanns und Bourdieus einzuführen sowie im Kontext zu erläutern. Insbesondere im Hinblick auf die Systemtheorie ist dies ein durchaus schwieriges Unterfangen, da Luhmann diese so angelegt hat, dass man zur Darstellung einzelner systemtheoretischer Sachverhalte im Grunde immer auch auf andere Begriffe aus der Systemtheorie zurückgreifen muss. Dennoch kann in dieser Arbeit keine vollständige systemtheoretische Rezeption erfolgen, weshalb ich mich auf eine Darstellung der für Luhmanns Sozialisationskonzept zentralen Begriffe Autopoiesis und Kommunikation sowie auf eine überblicksartige Beschreibung sozialer Systeme beschränken möchte, bevor der Begriff der Sozialisation selbst diskutiert wird. Bourdieus Modell der Habitualisierung wiederum setzt eine Klärung des Habitusbegriffs sowie der von ihm differenzierten Kapitalformen voraus.

Im Anschluss an die Beschreibung der beiden Sozialisationskonzepte sollen jeweils die Konsequenzen für die Pädagogik diskutiert werden, bevor es abschließend um die Frage geht, in welchem Verhältnis beide Theorien zueinander gedacht werden können.

2. Niklas Luhmann: Sozialisation als Selbstsozialisation

In seinem 1984 veröffentlichten Hauptwerk „Soziale Systeme“ überträgt Niklas Luhmann die Idee der Autopoiesis (= Selbst-Produktion) auf soziale Systeme. Das Konzept der Autopoiesis, welches zuvor hauptsächlich in biologischen Kontexten verwendet wurde, führt zu einer scharfen Trennung zwischen verschiedenen autopoietischen Organisationsformen, so etwa zwischen Leben, Bewusstsein und Kommunikation. Nach Luhmann kann daher das Verhältnis zwischen sozialen Systemen und Menschen nur dadurch angemessen beschrieben werden, indem man akzeptiert, dass beide füreinander Umwelt sind. Die Annahme eines solchen theoretischen Hintergrunds führt schließlich zu einer neuartigen Konzeption von Sozialisation. Während die Trennung von sozialen Systemen und Menschen auch in anderen soziologischen Theorien seit langem etabliert ist, so konzentriert sich Luhmann explizit auf die scharfe Abgetrenntheit beider Systemtypen, und nicht – wie etwa sein Lehrmeister Talcott Parsons – im Sinne einer Übernahme von sozialen Rollen auf deren Interdependenz. Bewusstsein und Kommunikation sind nach Luhmann zwei grundlegend verschiedene Formen von autopoietischer Reproduktion, die nicht an der gegenseitigen Selbsterneuerung teilhaben (vgl. Vanderstraeten 2000a: 581 f.).

Bereits diese knappen einleitenden Bemerkungen machen deutlich, dass Sozialisation nach Luhmann nicht mehr länger im klassischen Sinne etwa als eine Übertragung von kulturellem Kapital (Bourdieu) verstanden werden kann:

„This theoretical approach entails important consequences for the conceptualization of socialization and education. In classical socialization research, as displayed in the writings of Emile Durkheim, Talcott Parsons, Pierre Bourdieu and others, socialization fulfils a fairly unambiguous societal function. Socialization refers to the internalization or inculcation of social expectations” (Vanderstraeten 2003: 137).

Gleichzeitig erklärt die scharfe Trennung von psychischen und sozialen Systemen die im Vergleich zu anderen Soziologen relativ marginale Bedeutung, welche Luhmann dem Konzept der Sozialisation in seinem theoretischen Rahmen einräumt:

„A clear consequence of this perspective is the virtual absence of the concept of socialization in his theoretical framework. As prominent as this concept has been in sociology, and especially in systems theoretical sociology (e. g. in the work of Talcott Parsons), as marginal has it become in Luhmann’s writings. Only a handful of pages of ‘Soziale Systeme’ and of the subsequent monographs are devoted to a discussion of socialization” (Vanderstraeten 2000a: 582).

2.1 Autopoiesis

Luhmann selbst beschreibt seine Systemtheorie als „Theorie der sich selbst herstellenden, autopoietischen Systeme“ (Luhmann, zit. n. Berghaus 2004: 51). Autopoietisch ist ein System dann, wenn es sich selbst produziert und reproduziert. Das macht bereits der Begriff der Autopoiesis deutlich, welcher sich aus den beiden Komponenten „auto“ (= „selbst“) sowie „poiein“ (= schaffen, organisieren, produzieren) zusammensetzt. Der zentrale Gedanke hierbei ist also derjenige, dass autopoietische Systeme sich selbst herstellen – oder im umgekehrten Sinne: Was sich nicht selbst gemacht hat, das ist auch kein System:

„Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. […] Insofern heißt Autopoiesis: Produktion des Systems durch sich selber“ (Luhmann, zit. n. Berghaus 2004: 52).

In traditionellen Denkweisen und Definitionen ließe sich etwa eine Uhr als System beschreiben, da diese aus systematisch ineinander arbeitenden Elementen besteht. In Luhmanns Sinne ist eine Uhr dagegen kein autopoietisches, sondern ein allopoietisches System (vgl. Lenzen 1997: 958), weil ihr Regelwerk vom Uhrmacher geschaffen ist, und somit von außerhalb ihrer selbst stammt. Sich selbst produzierende und reproduzierende Systeme sind hingegen beispielsweise biologische Organismen, weshalb der Begriff der Autopoiesis auch von einem Biologen, Humberto R. Maturana, entwickelt wurde (vgl. Lenzen 1997: 957 ff.).

Wie weiter oben bereits kurz angesprochen, besteht der Anspruch Luhmanns nun darin, den Begriff der Autopoiesis aus diesem biologischen Kontext herauszulösen und das Konzept auf soziale Zusammenhänge zu übertragen. Für Luhmanns Verständnis von Sozialisation – und mehr noch für das von Erziehung – wird nun ein damit verbundenes Charakteristikum von Systemen von entscheidender Bedeutung:

„Die Systeme sind also kausal mit ihrer Umwelt verbunden, sind ‚umweltoffen’ oder ‚kausal offen’. Gleichzeitig operieren sie in Abgrenzung zur Umwelt und können in all ihren Operationen und Ausdifferenzierungen allein an die eigenen, bereits erfolgten Operationen, Selektionen und Differenzierungen anschließen, sind ‚operativ geschlossen’ oder ‚rekursiv geschlossen’“ (Berghaus 2004: 56).

Luhmann geht demnach davon aus, dass Systeme grundlegend sowohl teils offen, als auch teils geschlossen operieren. Wie ist dies zu verstehen? Systeme benötigen zunächst bestimmte fundamentale Grundvoraussetzungen in ihrer Umwelt, um existieren zu können. Biologische Systeme brauchen Sauerstoff, Wasser oder Nahrung; Bewusstseinssysteme brauchen wiederum biologische Systeme sowie eine Welt, die sie wahrnehmen können; soziale Systeme haben sowohl Leben als auch Bewusstsein als Voraussetzung. Eben diese fundamentalen und für Luhmann nicht zur Diskussion stehenden Grundvoraussetzungen sind es, die er mit dem Begriff der Umweltoffenheit zu fassen versucht: „Dass die Umwelt immer mitwirkt und ohne sie nichts, absolut gar nichts geschehen kann, ist selbstverständlich“ (Luhmann, zit. n. Berghaus 2004: 57). Die operative bzw. rekursive Geschlossenheit von Systemen bezieht sich nun hingegen auf Anschlussoperationen, die durch bereits zuvor getroffene Selektionen nicht beliebig, sondern in gewisser Weise bereits festgelegt sind:

„Das heißt: durch bisherige Operationen und Selektionen des Systems sind Festlegungen getroffen und Formen entstanden, welche die Rahmenbedingungen für Anschlussoperationen darstellen, aus denen das System nicht entkommen kann. Das sind die Bedingungen der Autopoiesis: Nur Leben produziert Leben, nur Denken Denken und nur Kommunikation Kommunikation. […] Kein System kann seine Autopoiesis zurückdrehen, wieder von vorne anfangen oder ganz anders vorgehen“ (Berghaus 2004: 57).

Die Umweltoffenheit bei operativer Geschlossenheit von Systemen soll anhand der folgenden Abbildung noch einmal veranschaulicht werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Umweltoffenheit und operative Geschlossenheit von Systemen (Berghaus 2004: 59)

Wie die Grafik zeigt, erfolgen Anschlussoperationen eines Systems stets auf der Basis von bereits erfolgten Operationen bzw. Selektionen, d. h. nur im Spektrum dieser autopoietischen Systembedingungen. Durch die operative Geschlossenheit wird das grundsätzlich Mögliche sowie Unbestimmte letztlich bestimmt. Operative Geschlossenheit ist nun allerdings nicht mit einer thermo-dynamischen Ab geschlossenheit gleichzusetzen. Das System erhält sich durchaus offene Grenzen nach außen, wodurch gegenseitige Einflüsse und Wirkungen von System und Umwelt möglich werden. Sind diese wechselseitigen Beziehungen dauerhaft, so spricht Luhmann von strukturellen Kopplungen, wie beispielsweise zwischen den Massenmedien, dem Wirtschaftssystem und dem politischen System. Zentral ist allerdings nun, dass diese Einflüsse aus der Umwelt auf ein System in Luhmanns Sinne niemals kausal wirksam sein können, sondern das System stets selbst dazu bereit sein muss, sich beeinflussen zu lassen:

„Wirkungen kommen ‚nur durch den Mitvollzug auf seiten des die Wirkungen erleidenden Systems zustande’. […] Von der Welt dringen bloß Irritationen, Rauschen, Pertubationen, Reizungen, Störungen zu dem System vor, das manches davon – höchst selektiv – ‚in Informationen transformiert’; das System macht ‚order from noise’“ (Berghaus 2004: 59).

Auf die weitreichenden Konsequenzen, die diese Annahme insbesondere für die Pädagogik bedeuten, wenn es demnach also keinen kausalen Einfluss vom Erzieher auf den Zögling geben kann, wird später noch zurückzukommen sein (Kapitel 2.7).

2.2 Kommunikation

Bereits 1979 veröffentlichte Niklas Luhmann zusammen mit Karl Eberhard Schorr unter dem Titel „Reflexionsprobleme im Erziehungssystem“ eine Monographie, die sich speziell mit dem Feld der Erziehung auseinandersetzt. Der „Nachfolger“ hierzu ist das 2002 posthum veröffentliche Manuskript „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Büchern ist derjenige, dass letztgenanntes auf einer Kommunikationstheorie aufbaut:

„The main theoretical difference between both books is that ‚Das Erziehungssystem der Gesellschaft’ is based on the concept of communication. This posthumously published manuscript is, much more than its predecessor, an attempt to conceive of education in terms of communication and face-to-face interaction” (Vanderstraeten 2003: 134).

In den Sozialwissenschaften haben Theoretiker unterschiedliche Konzepte im Hinblick auf die zentrale Einheit der sozialen Realität entworfen, so etwa Handlungen, Austausch oder Macht. Luhmann war dabei der erste bedeutende Soziologe, der Kommunikation als das konstitutive Element des Sozialen ausmachte:

„It was Luhmann, in choosing communication theory over action theory, who took on the role of the first major sociological communication theorist, a role which had to be taken by someone anyway“ (Vanderstraeten 2003: 135).

Der Begriff der Kommunikation ist in Luhmanns Systemtheorie nahezu identisch mit dem des sozialen Systems. Soziale Systeme operieren, indem sie kommunizieren, und es sind allein soziale Systeme, die kommunizieren. Somit basiert für Luhmann das gesamte soziale Dasein letztlich auf diesem einen Prozess der Kommunikation. Doch was versteht er nun genau unter diesem Begriff? Kommunikation besteht für Luhmann aus drei Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Dieses zunächst relativ einfach wirkende Verständnis bricht dabei radikal sowohl mit dem Alltagsverständnis als auch mit dem üblichen kommunikationswissenschaftlichen Verständnis. Zentral für das Kommunikationsverständnis Luhmanns ist zunächst ihre Selektivität. Kommunikation heißt, zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen zu müssen, wobei jede einzelne Selektionsentscheidung kontingent, d. h. immer auch anders möglich ist. Potentiell kann die Kommunikation dabei aus einer unendlichen Fülle von Inhalten auswählen, wird aber real durch Sinn[1] begrenzt, da nicht alles sinnvoll kommunizierbar ist (vgl. Berghaus 2004: 73-76).

Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass Kommunikation aus zwei Handlungen
(dem Senden und dem Empfangen) mit dementsprechenden Akteuren (dem Sender sowie dem Empfänger) besteht. Auch bei Luhmann sind am Kommunikationsprozess jeweils zwei „informationsverarbeitende Prozessoren“ (Luhmann, zit. n. Berghaus 2004: 76) beteiligt, wobei er den Sender „Alter“, den Empfänger „Ego“ nennt. Bereits durch diese Bezeichnungen deutet sich an, dass in Luhmanns Kommunikationsmodell dem Verstehen eine besondere Bedeutung zukommt, denn erst hierbei entscheidet sich, ob Kommunikation zustande kommt oder nicht, und nicht etwa schon bei der Mitteilung: „Es ist so, dass wir Kommunikation nicht vom Mitteilungshandeln, sondern vom Verstehen her begreifen“ (Luhmann, zit. n. Berghaus 2004: 82).

Der Kommunikationsprozess beginnt mit der Selektion von Information durch Alter,
d. h. Informationen sind nicht per se als ontologische Entitäten in der Welt vorhanden, sondern müssen zunächst durch einen Beobachter konstituiert werden. Hat Alter eine Selektion der Information getroffen, so folgt als nächster Schritt die Selektion der Mitteilung. Alter verfügt potentiell über eine riesige Menge an Informationen, die er nicht alle in Mitteillungen äußern will noch kann; Alter muss sich also zwangsläufig für eine Mitteilung und gegen viele andere entscheiden. Doch nicht nur das inhaltliche Was ist hier von Bedeutung, sondern auch das formale Wie der Wahl des Mediums und der Form (nonverbal, schriftlich, in Bildern usw.). Der dritte und gleichzeitig wichtigste Schritt der Annahme bzw. des Verstehens liegt nun bei Ego. Verstehen darf hierbei nicht mit Verständigung bzw. Konsens verwechselt werden (im Sinne von richtig verstehen). Bei Luhmann bedeutet Verstehen, dass Ego versteht, dass es sich um eine Mitteilung handelt. Fasst man etwas als Mitteilung auf, so hat man verstanden, dass bei Alter eine Differenz zwischen Information und Mitteilung vorliegt – deshalb ist Kommunikation die Synthese der drei Selektionen, was mehr ist als die bloße Summe der Handlungen von zwei Akteuren. Weil das Verstehen der Differenz zwischen Information und Mitteilung ein gewisses Irritationspotential enthält, stimuliert es gleichzeitig Anschlusskommunikation (vgl. Berghaus 2004: 78-86).

Im Folgenden seien noch einmal die zentralen Unterschiede zum üblichen Verständnis von Kommunikation stichpunktartig zusammengefasst (vgl. Berghaus 2004: 86-94):

- Nicht der Mensch, nur die Kommunikation kommuniziert: Biologische und psychische Systeme sind lediglich Voraussetzungen und auch oft Thema der Kommunikation, sie selbst jedoch sind in der Kommunikation nicht enthalten.[2]
- Keine Übertragung von Information: Information ist keine vorab in der Welt bestehende Entität, die man nur noch übertragen müsste; sie muss zunächst durch einen Beobachter konstituiert werden.
- Der Sender ist nicht länger entscheidend: Der Empfänger wird bei Luhmann aus seiner üblicherweise passiven Rolle herausgeholt und das Dominanzgefälle umgekehrt; es ist die Interpretation als Mitteilung durch einen Empfänger die darüber entscheidet, ob es sich um Kommunikation handelt oder nicht.
- Differenz statt Konsens: Kommunikation ist bei Luhmann weder auf Konsens noch auf Dissens ausgelegt, sondern auf die Differenz zwischen Information und Mitteilung.
- Aufrichtigkeit ist nicht kommunizierbar: Psychische Systeme können nicht kommunizieren, d. h. man kann einem anderen Menschen nicht ins Herz oder ins Hirn sehen; „der unumgängliche Umweg über Kommunikation setzt unausweichlich einen leisen Zweifel in die Welt“ (Berghaus 2004: 92).

Dadurch, dass es sich bei Kommunikation also um eine Synthese aus drei Selektionsleistungen handelt, wird Kommunikation tendenziell unwahrscheinlich. Wir werden darauf zurückkommen, wenn es um das Verhältnis von Sozialisation und Erziehung (Kapitel 2.5) geht.

2.3 Soziale Systeme

Luhmann unterscheidet grundlegend drei verschiedene Typen von Systemen, die jeweils unterschiedlich operieren. Biologische Systeme operieren in Form von Leben, psychische Systeme in Form von Bewusstseinsprozessen und soziale Systeme in Form von Kommunikation. Immer wenn Kommunikation stattfindet handelt es sich demnach um ein soziales System, wobei Luhmann mit Interaktionen, Organisationen sowie der (Welt-)Gesellschaft verschiedene Ebenen der Systembildung unterscheidet. Entgegen dem Alltagsverständnis besteht die Gesellschaft demnach für Luhmann nicht aus Menschen, sondern nur aus Kommunikation:[3]

„Das System der Gesellschaft besteht aus Kommunikationen. Es gibt keine anderen Elemente, keine weitere Substanz als eben Kommunikation. Die Gesellschaft besteht nicht aus menschlichen Körpern und Gehirnen. Sie ist schlicht ein Netzwerk von Kommunikationen“ (Luhmann, zit. n. Berghaus 2004: 64).

Systeme bestehen nach Luhmann aus Operationen, weshalb die Kommunikation als die kleinstmögliche Einheit, als das Letztelement eines sozialen Systems gelten muss. Erst nachträglich, sozusagen von einer zweiten Ebene aus, kann die Kommunikation im Akt der Beobachtung in individuelle Handlungen von Personen zerlegt werden. Psychische und soziale Systeme operieren also getrennt: „Weder Bewusstseine noch Gehirne können miteinander kommunizieren, immer geht der Weg über das Soziale“ (Berghaus 2004: 68). Weil sich beide Systemtypen allerdings im Rahmen der Evolutionsgeschichte gleichzeitig entwickelt haben sind sie wechselseitig voneinander abhängig, weshalb Luhmann deren Verhältnis im Anschluss an Parsons als Interpenetration[4] beschreibt, d. h. als besonders enge strukturelle Kopplung: „Das selbst gesteuerte Bewusstsein ist der Beitrag des psychischen Systems, der in das soziale System aufgenommen wird, während das soziale System Kommunikation beisteuert, um das psychische System zu konstituieren“ (Hurrelmann 2006: 89). Ermöglicht wird diese Interpenetration durch Sinn sowie durch Sprache, die eine „reibungslose, ‚unbemerkte, geräuschlose’ Koordination zwischen den beiden Systemtypen [ermöglichen]“ (Berghaus 2004: 70).

[...]


[1] Für eine nähere Charakterisierung des Sinnbegriffs bei Luhmann vgl. Berghaus 2004: 118-123.

[2] Luhmann illustriert diese zunächst recht unvertraut wirkende Vorstellung am Beispiel eines Zeitschriftenaufsatzes (vgl. Berghaus 2004: 87).

[3] Luhmann machte sich stets mit der Veranschaulichung, wenn jemand zum Friseur ginge und sich dort die Haare schneiden ließe, ob dann auch etwas von der Gesellschaft abgeschnitten würde, über den Einwand lustig, dass eine Gesellschaft doch aus Menschen bestehen müsse (vgl. Berghaus 2004: 64).

[4] Zum Begriff der Interpenetration und seiner Bedeutung für Sozialisation im Sinne Luhmanns vgl. ausführlich Gilgenmann 1986.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Selbstsozialisation (Luhmann) und Habitualisierung (Bourdieu)
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Person und System - Luhmann und der pädagogische Konstruktivismus
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
35
Katalognummer
V131597
ISBN (eBook)
9783640374243
Dateigröße
921 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu, Selbstsozialisation, Habitualisierung, Autopoiesis, Kommunikation, Soziale Systeme, Sozialisation, Habitus, Kapital
Arbeit zitieren
B.A. René Klug (Autor:in), 2009, Selbstsozialisation (Luhmann) und Habitualisierung (Bourdieu), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131597

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