Mit Worten sehen - Audiovisuelle Bedeutungskonstitution


Bachelorarbeit, 2009

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Teil: Stand der Forschung

II. Teil: Die semiotische Fernsehlandschaft
II.1 Multikodalität am Beispiel einer Nachrichtensendung
II.1.1 Sprechsprache
II.1.2 Bewegte Bilder
II.1.3 Auditive Inserts
II.1.4 Visuelle Inserts
II.2 Audiovisuelle Einwegkommunikation
II.3 Audiovisuelle Performativität

III. Teil: Rezeption
III.1 Offene Struktur des Fernsehtextes
III.2 Passiver vs. aktiver Zuschauer

IV. Teil: Zusammenspiel der Fernsehzeichen
IV.1 Zum Begriff der Transkription
IV.2 Bedeutungskonstitution durch intermediale Transkription

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Traditionell gilt Fernsehen – neben Druck und Radio – als eines der drei größten Medien der Massenkommunikation.[1] Was aber zeichnet Fernsehen als „das Leitmedium“[2] des 20. Jahrhunderts aus?

Seine Erfolgsgeschichte macht deutlich, dass Fernsehen im vergangenen Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und bis heute ein wesentlicher Bestandteil zur Strukturierung des Alltagslebens vieler Menschen darstellt. Der Einzug des Fernsehens in das gesellschaftliche Leben lässt sich in die dreißiger Jahren zurückdatieren. Zu diesem Zeitpunkt wurden in Deutschland von der Post sogenannte ‚Fernsehstuben’ eingerichtet, in welchen Menschen zusammenkamen, um gemeinsam Kurzfilme und Nachrichten-sendungen zu sehen. Der endgültige Durchbruch des Fernsehens fand zu Beginn der fünfziger Jahre statt und ging einher mit einer Verlagerung des Mediums aus dem öffentlichen in den Privatbereich.[3] Das Fernsehen drang in die Wohnzimmer der Menschen vor: „erst als Ergänzung der Freizeit, dann als Leitmedium eines Systems von Konsum, Freizeit, Kommunikation und Lebensgestaltung“[4] und wurde infolgedessen als das „Fenster zur Welt“[5] angepriesen. Im zwanzigsten Jahrhundert galt Fernsehen schließlich als das Medium schlechthin, und diesen Status hat es – trotz des Internetbooms des einundzwanzigsten Jahrhunderts – weiterhin beibehalten. Es steht als die meistbeachtete Plattform der Öffentlichkeit zur Verfügung und bestimmt die Freizeit einer großen heterogenen Masse von Menschen. Die Popularität dieses Mediums wird anhand von Fernsehstatistiken deutlich: Jeder Deutsche verbringt durchschnittlich ca. tausend Stunden im Jahr vor dem Fernseher, was hochgerechnet „pro Menschenleben etwa sieben Jahre ergibt“[6]. Auch wenn allgemein vermutet wird, das Fernsehzeitalter sei vorbei und werde durch das Internet abgelöst, so stellt es immer noch das wichtigste Medium für die öffentlichen und privaten Kommunikationsverhältnisse dar.[7] Aufgrund einer Reihe von Faktoren bleibt das Fernsehen ein hochmodernes und expansives Medium, nicht zuletzt, weil es durch seine multimodale Verarbeitungskapazität[8] bewegte und statische Bilder in Kombination mit Ton und Sprache präsentiert, dies aber in Programmform frei Haus, in immer besserer Bild- und Tonqualität und auf immer mehr Kanälen. Seine optimale Zugänglichkeit und die Leichtigkeit, mit der Fernsehen rezipiert werden kann, macht es für viele Zuschauer zu einer Faszination. Fernsehen kann ohne Aufwand und ohne große Vorbildung rezipiert werden: „mehr als einschalten und umschalten muß man zunächst nicht“[9].

Der Schwerpunkt der folgenden Bachelorarbeit liegt darauf, wie das Fernsehmaterial, bestehend aus unterschiedlichen Zeichen – überwiegend aus gesprochener Sprache und bewegten Bildern –, von einer heterogenen Masse rezipiert und wie der sogenannte „Bild-Text-Reißverschluss“[10] genauer erklärt werden kann. Zunächst wird der aktuelle Stand der Fernsehforschung kurz erläutert, woraufhin einige Forschungsergebnisse vorgestellt werden, auf die sich u.a. die vorliegende Arbeit stützt. Der zweite Teil wird sich damit befassen, welche Zeichen bzw. Codes[11] im Fernsehmaterial enthalten sind, und anschließend wird veranschaulicht, dass audiovisuelle Bedeutung nicht in einer Zeichenart alleine entsteht, sondern nur im Zusammenspiel von bewegten Bildern und Sprache, also über ihre audiovisuelle Performativität. Dieses Zusammenspiel der Codes wird anhand eines aktuellen Beispiels aus einer Nachrichtensendung untersucht, da Fernsehen und insbesondere Nachrichten – wie Landbeck folgerichtig bilanziert – eine dominante Rolle für die „Integration der Menschen in ein immer enger werdendes Weltgefüge“[12] spielen. Alternativ hätte man auch weitere Beispiele aus dem Fernsehen wie z.B. Werbesendungen, Talk-Shows, Reality-TV, Dokumentationsfilme oder Fernsehserien heranziehen können, um Bedeutungskonstitution durch Fernsehen zu beschreiben. Eine Nachrichtensendung zur Illustration der Thesen zu verwenden, erscheint sinnvoller, da Informationsbericht-erstattungen – um es in Muckenhaupts Worte zu fassen – den einzigartigen Auftrag haben, „informativ, relevant, wahr, verständlich und aktuell“[13] über Ereignisse zu informieren, was gerade im globalen Informationsfluss des 21. Jahrhunderts von erheblicher Bedeutung ist. Die ausgewählte Nachrichtensendung wird auch im weiteren Verlauf dem Zwecke der Veranschaulichung dienen.

Im dritten Teil wird speziell die Rezeption von Fernsehtexten thematisiert. Dabei werden zwei gegensätzliche Positionen zur Rezeptionsleistung der Fernsehzuschauer vorgestellt: Die eine behauptet, die Wirkung von Fernsehen entfalte sich nach dem sogenannten Stimulus-Response-Vorgang bzw. nach dem berühmten ‚Geschossprinzip‘ (‚bullet‘-Theorie). Die Kernaussage dieser Theorie ist es, dass die Zuschauer die passiven Opfer der Fernsehmacher darstellen, von den Fernsehsendungen wie von einem Geschoss getroffen werden und dabei lediglich die Möglichkeit haben, auf den Stimulus zu reagieren. Die andere Position geht davon aus, dass „Rezeption nicht nur passiv ‚erlitten‘, sondern immer auch aktiv verarbeitet wird“[14]. An dieser Stelle wird die These widerlegt, dass Fernsehberichterstattungen eine Nachricht verpacken, diese über einen Kanal – dem Medium – bei dem Empfänger landet, der die Botschaft auspackt und versteht. Vielmehr wird aufgezeigt, dass gerade die ‚Offenheit‘ des Fernsehtextes[15] die Möglichkeit beinhaltet, eigenständige Rezeptionsweisen zu entwerfen. Fiske hat diesen Umstand deutlich unterstrichen, indem er sagte: “The text-as-meaning is produced at the moment of reading, not at the moment of writing”[16].

Der fünfte und letzte Teil wird die audiovisuelle Bedeutungskonstitution anhand der von Jäger entworfenen ‚Transkriptivitätstheorie‘ erklären und verdeutlichen, dass Sinn konstituiert wird, indem verschiedene Symbolsysteme in transkriptive Beziehung gebracht werden.[17] Anhand von Jägers Theorie wird die Bedeutungskonstitution durch Fernsehen und das audiovisuelle Muster ‚Mit Worten sehen‘[18] näher erläutert. In diesem Teil geht es insbesondere darum, Audiovisualität als eine wechselseitige Transkription von Bildern und Sprache zu erklären, wobei ‚unlesbar‘ gewordene Ausschnitte einer Zeichenart wieder oder anders ‚lesbar‘ gemacht werden.[19] An dieser Stelle wird das Nachrichtenbeispiel dazu verwendet zu veranschaulichen, dass sprachliche und bildliche Zeichenbedeutungen nicht einfach zusammengefügt und addiert werden, sondern bedingt durch ihre transkriptive Beziehung neue Bedeutungen hervorbringen können, die weder dem Bild noch der Sprache alleine zu entnehmen sind.

I. Teil: Stand der Forschung

Seit dem Durchbruch des Fernsehens in den fünfziger Jahren haben Forscher dieses Medium intensiv untersucht und dazu umfangreiche Arbeiten erstellt. Daher ist es erstaunlich, wie wenig noch immer über den gesamten Verlauf des Fernseh-kommunikationsprozesses bekannt ist.[20] In den ersten Jahrzehnten nach dem triumphalen Einzug des Fernsehens in die Gesellschaft beschäftigte sich die Forschung überwiegend mit dem Manipulationspotenzial des Mediums. Kritiker beobachteten das Dispositiv Fernsehen lediglich als eine gesellschaftliche und politische Manipulationsapparatur. In seinem Buch „Die Geschichte der Fernsehkritik“[21] hat Hickethier die Entstehung einer solchen Ansichtsweise detailliert dargestellt. Die aus den siebziger Jahren stammende Kritik hat sich allerdings kaum mit den Vorgängen der Produktion und noch weniger mit den wirklichen Details der Rezeption von Fernsehsendungen auseinandergesetzt.[22] Es wurde als selbstverständlich angenommen, dass die Zuschauer das Fernsehprogramm passiv absorbieren und durch dessen diverse Inhalte manipuliert werden. Den Ausschlag für eine rezeptionsbezogene Untersuchung gaben erst die Arbeiten der ‚Cultural Studies‘. Einen wesentlichen Beitrag leistete auch Fiske, indem er sich gegen eine passive Rezeption aussprach und die Offenheit von Fernsehtexten sowie die damit erforderliche aktive Teilnahme der Zuschauer betonte. Fiske zufolge kann die Interpretation von Fernsehinhalten maßgeblich durch den soziokulturellen Hintergrund der Rezipienten beeinflusst werden. In ‚Augenblicke des Fernsehens‘ kritisiert Fiske die Praxis, das Fernsehpublikum als eine einheitliche Kategorie und das Programm als ein einheitliches Ganzes zu betrachten, welches eine eindeutige Nachricht für das Publikum bereithält.[23] Diverse Experimente haben gezeigt, dass Rezipienten Fernsehinhalte – insbesondere Nachrichtensendungen – umdeuten bzw., um es in Ruhrmanns Worte zu fassen, „transformieren“[24].

In den vergangenen Jahrzehnten haben filmanalytische Studien[25] deutlich gemacht, dass z.B. Kameraperspektiven und Filmmusik[26] durchaus in der Lage sind, die Rezeptionsweise der Zuschauer zu bestimmen. Sprache und Bilder wurden in diesem Zusammenhang allerdings meistens gesondert voneinander betrachtet. Dabei ist gerade das Zusammenspiel von Kameraperspektive und Filmsprache bzw. von bewegten Bildern und Sprechsprache beim Dispositiv Fernsehen von auschlaggebender Bedeutung. Im Rahmen des Mediendiskurses hat Jäger unterstrichen, dass sich mediale Verfahren „nie monomedial, sondern durchweg in intermedialen symbolischen Prozeduren“[27] entfalten, was ebenfalls auf Fernsehsprache und Fernsehbilder zutrifft. Erst in den vergangenen Jahren hat man angefangen, Text-Bild-Kommunikation und Bild-Text-Kommunika­tion[28] als Einheit zu untersuchen. Im Bereich der audiovisuellen Fernsehrezeption hat insbesondere Holly schlagkräftige Arbeiten vorgelegt, welche sowohl die Rezeptionslei­tung der Zuschauer als auch die Verschränkung von Bild und Sprache eindrucksvoll in den Vordergrund rücken. Das dynamische Zusammenspiel von bewegten Bildern und gesprochener Sprache, welches bei der Fernsehanalyse eine unabdingbare Notwendigkeit darstellt, wurde von Holly umfassend untersucht.

II. Teil: Die semiotische Fernsehlandschaft

Im folgenden Abschnitt sollen die verschiedenen Fernsehelemente näher beschrieben und ihre Funktionen erläutert werden. Die „elementaren Konstituenten“[29] von Fernseh-sendungen sind gesprochene Sprache, bewegte Bilder, auditive Inserts (z.B. Musik) und visuelle Inserts (z.B. Grafiken, Fotografien usw.), aus welchen sich die hier so bezeichnete ‚semiotische Fernsehlandschaft‘ zusammensetzt.

Zunächst einmal lassen sich die verwendeten Zeichen semiotisch nach physikalischer Grundlage (optisch, akustisch) bzw. dem rezeptiven Sinnesorgan (visuell, auditiv) einteilen.[30] Prinzipiell kann man also Medien nach ihrer Zeichenverarbeitungskapazität in visuelle (z.B. Schriftmedien, Stummfilme), auditive (z.B. Radio, Telefon) und audiovisuelle (z.B. Fernsehen) unterscheiden[31]. Visuelle und auditive Medien gehören zu den monosensuellen Medien, da sie bei der Rezeption nur einen Sinn beschäftigen. „Fernsehen ist dagegen bisensuell bzw. bimodal, und zwar audiovisuell“[32]. Durch seine Mehrkanaligkeit besteht die einzigartige Möglichkeit, Sprache, Musik und begleitende Geräusche durch den akustischen Kanal und Gestik, Mimik, Bewegung, Räume, Landschaften, Situationen durch den visuellen Kanal zu übermitteln.[33] Zu beachten ist, dass monosensuelle Medien ebenfalls multikodal sein können, d.h. verschiedene Codes werden zusammen verarbeitet. Dies geschieht i.d.R. bei Schriftmedien (z.B. Bücher oder Zeitschriften), die sowohl Schriftzeichen als auch Bildzeichen verwenden. Holly sieht das Spezifikum der ‚Fernsehlandschaft‘ nicht so sehr in der Möglichkeit, mehrere Codes miteinander zu kombinieren, als vielmehr in der technischen Manipulation bei der Herstellung und Zusammenfügung der zunächst getrennten Codes zu einem multikodierten Text, der – wie in natürlicher Kommunikation – bimodal, also über den auditiven und den visuellen Sinneskanal, übermittelt und wahrgenommen wird.[34] Wie dies genau geschieht, wird im Folgenden anhand einer Nachrichtensendung näher illustriert.

II.1 Multikodalität am Beispiel einer Nachrichtensendung

Das Hauptaugenmerk dieses Abschnittes wird sein, die Zeichen einer Nachrichtensendung zu beschreiben und deren Funktion zu klären. Die Auswahl eines nachrichtenwürdigen Ereignisses und die darin involvierten Kriterien stellen einen komplizierten Prozess dar, auf den an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann, der jedoch bei der Bedeutungskonstitution durch Fernsehen eine nicht minder wichtige Rolle spielt. Einblicke in das komplexe Produktionsverfahren der Nachrichtenberichterstattung gibt u.a. Straßner[35].

II.1.1 Sprechsprache

Um die Sprechsprache des Fernsehens sorgfältig zu studieren, wird an dieser Stelle der reine Sprechtext aus einer Nachrichtensendung, d.h. herausgelöst aus dem audiovisuellen Ereignis, gesondert betrachtet. Die betroffene Nachrichtensendung wurde am 06.11.2008 um 4:10 Uhr im Rahmen der Tagesschau gesendet und handelt von Barack Obamas Wahlsieg in den USA.

(1) Guten Morgen, meine Damen und Herren. (2) Nach dem Sieg bei den US-Präsidentenwahlen bereitet sich Barack Obama auf die Übernahme der Amtsgeschäfte vor. (3) Eine Gruppe von Vertrauten solle erste Gesetzesvorlagen ausarbeiten und über die Zusammensetzung der künftigen Regierung beraten, verlautete es aus Obamas Wahlkampfteam. (4) Der neue Präsident der USA wird am zwanzigsten Januar vereidigt. (5) Bei der gestrigen Wahl hatte sich Obama deutlich gegen seinen Rivalen McCain durchsetzen können. (6) Grenzenloser Jubel, ein Freudentaumel. (7) Die Westküste hatte abgestimmt, die Fernsehsender den Sieg ausgerufen, als der neue Bewohner des Weißen Hauses in Chicago vor zweihundertfünfzigtausend enthusiastischen Fans seine Siegesrede hielt. (8) Wenn es da draußen immer noch jemanden gibt, der daran zweifelt, dass in Amerika alles möglich ist, wenn da immer noch jemand glaubt, der Traum unserer Gründerväter sei nicht mehr lebendig, dann ist diese Nacht unsere Antwort darauf. (9) Ein historischer Moment, an den viele Freunde, Helfer und Wegbegleiter oft schon nicht mehr geglaubt hatten nach so vielen dramatischen Wendungen im Wahlkampf. (10) Geradezu historisch aber auch die Probleme, die der neue Präsident im Weißen Haus übernimmt. (11) Er wird eine starke First Lady brauchen.

Die Begrüßung zu Beginn des Textes lässt erahnen, dass ein Nachrichtensprecher, der sogenannte ‚Ankermann‘, das Wort hat, um den Zuschauer sachlich und distanziert in das Thema einzuführen. Vor Satz (6), (8) sowie vor Satz (9) wurde offensichtlich ein Sprecherwechsel vollzogen. Dieser Wechsel des Sprechers geht mit einem Wechsel des Sprachstils einher. So lässt sich von Satz (1) bis (5) ein relativ sachlicher Stil erkennen, welcher in Satz (6) von einem wesentlich emotionaleren Stil abgelöst wird. Die Aussagen (6) und (7) vermitteln den Eindruck, dass die berichtende Person direkt im Geschehen involviert ist, was darauf schließen lässt, dass tatsächlich ein Reporter das Wort hat, der vor Ort über das Ereignis berichtet. Die hier deutlich werdende Änderung des Stils von (5) zu (6) ist durch eine klare Aufgabenverteilung des Ankermanns und des Reporters bedingt. Die Aufgabe des Ersteren ist es, sachliche Information zu liefern; die des Reporters hingegen ist es, live am Geschehen teilzuhaben und darüber zu berichten. Satz (7) dient dazu, den in (8) folgenden Ausschnitt aus Obamas Siegesrede einzuleiten. In Satz (9) wurde erneut ein Sprecherwechsel vollzogen, was durch einen weiteren Stilwechsel und die Verwendung von Possessivpronomen sowie von bestimmten und unbestimmten Artikeln indiziert wird. Während das Possessivpronomen unsere in (8) kennzeichnend dafür ist, dass Obama sich an sein Publikum wendet und sich mit den Menschen verbunden fühlt, haben die bestimmten und unbestimmten Artikel (ein in (9), die in (10) und eine in (11)) hingegen einen eher berichtenden Charakter, welcher für die Sprechsprache des Reporters charakteristisch ist.

Auch wenn im Groben zu verstehen ist, wovon dieser Textausschnitt handelt, scheint er dennoch auf den ersten Blick ‚eigenartig‘ und ‚ungewöhnlich‘. Man hat Mühe mit der Textkohärenz, und Formulierungen, wie sie in Satz (6) zu finden sind, sind schwierig zu verstehen. Herausgelöst aus den Filmbildern[36], in die der Text einst eingebettet war, ist aus dem audiovisuellen Textereignis nun ein Stück ‚toter‘ Text[37] geworden. Im Gegensatz dazu würde der gehörte und gesehene Fernsehbericht bei den Rezipienten solche Irritationen nicht auslösen, sondern eher alltäglich und unauffällig wirken.[38] Folglich handelt es sich hierbei um eine spezifische Art von Sprache, die für das Medium Fernsehen charakteristisch ist und welche, herausgelöst aus ihrer Audiovisualität, nach den herkömmlichen Kriterien der Semantik, Textlinguistik und Grammatik als unzureichend beschrieben werden kann.

Das besondere Merkmal der Fernsehsprache besteht nach Ong in ihrer „sekundäre[n] Oralität“[39]. Er behauptet, dass die modernen elektronischen Medien ein neues Zeitalter der Oralität hervorbrächten und dass diese Oralität „sekundär“ sei, da sie auf der Basis der Schriftlichkeit gegründet und somit inszeniert ist. Offenbar hat Ong mit dieser Behauptung Recht, denn der gesprochene Fernsehtext wird i.d.R. vor der Sendung geschrieben und vom Nachrichtensprecher auswendig gelernt oder abgelesen. Diesen Umstand hebt auch Holly hervor: „Selbst wenn jemand frei zu formulieren scheint, steht oft etwas auf seinem Spickzettel oder ist vorher in Stichworten konzipiert worden.“[40] Und auch Fiske spricht von einer ‚sekundären Oralität‘ des Fernsehens und verweist auf ihre Eigentümlichkeit:

“The orality of television is not just a spoken version of a literate culture; its textual forms, not just its ‘spokenness’, are oral, and, more significantly, it is treated as oral culture by many of its viewers.”[41]

In diesem Zusammenhang hebt Holly hervor, dass „im besten Fall die akustische Rezeption [bei der Textproduktion] bedacht wurde“[42], gleichwohl die ‚sekundäre Oralität‘ des Fernsehens von einer primären face-to-face-Mündlichkeit grundsätzlich zu unterscheiden ist. Er bilanziert:

„Die Fernsehmündlichkeit unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von einer ‚naiven‘, alltäglichen oder gar präliteralen Mündlichkeit. Das betrifft vor allem das Ausmaß der Vorbereitetheit und Inszeniertheit; das meiste, was wir im Fernsehen hören, ist nicht spontan hervorgebracht, sondern vorher geschrieben worden.“[43]

Die meisten Medienprofis beherrschen die „sekundäre Mündlichkeit“, was auch in unserem Beispiel deutlich wird. Die Begrüßung und Ansprache durch den Ankermann wirkt gewollt und kontrolliert. Burger hat die Sprechsprache in den Nachrichten intensiv untersucht und herausgestellt, dass der Unterschied im Sprechstil besonders augenfällig wird, wenn Laien zu Wort kommen, die im Gegensatz zu Nachrichtensprechern „primär oral, also wirklich spontan“[44] sprechen.

Merkmale der primär gesprochenen Sprache sind nach Holly: kurze, weniger komplexe Sätze, Parataxen, Ellipsen, Herausstellungen, Modalpartikeln, Sprechersignale, Referenzen auf die eigene Person, Einstellungsbekundungen, ein schmales Vokabular, Vagheit, direkte Rede, Verzögerungsphänomene, Selbstkorrekturen, weniger Kohärenz, aber mehr Personalisierung.[45] In unserem Textbeispiel findet man hingegen viele Merkmale, die typisch für die Schreibsprache[46] sind: mehr Variation und Komplexität wie z.B. bei (3), (7), (8) und (9); viele hypotaktische und kompakte Strukturen wie z.B. bei (7), (8) und (9); mehr Einbettungen in Nominalgruppen wie z.B. der neue Bewohner des Weißen Hauses bei (7) oder vielen dramatischen Wendungen im Wahlkampf bei (9); abstrakte Formulierungen mit Passiv wie z.B. Der neue Präsident der USA wird am zwanzigsten Januar vereidigt bei (4) oder Er wird eine starke First Lady brauchen bei (11); und Nominalisierung wie z.B. bei (2) und (3).

In diesem Teil wurde anhand des Nachrichtentextes verdeutlicht, dass Mündlichkeit im Fernsehen inszeniert und folgerichtig als ‚sekundäre Oralität‘ bezeichnet werden kann. Herausgelöst aus dem audiovisuellen Kontext, verliert offensichtlich die Sprechsprache des Fernsehens ihren spezifischen Charakter und hat demnach eine deutlich andere Wirkung auf den Rezipienten, der – wie hier gezeigt wurde – lediglich in der Lage ist zu ‚erahnen‘, was einst das audiovisuelle Fernsehereignis dargeboten hat.

[...]


[1] Holly 2004, S. 1.

[2] Jäger 2004a, S. 251. In: Frevert, Ute / Baungart, Wolfgang (Hgg.): Sprachen des Politischen: Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2004, S. 332-355.

[3] Vgl. Straßner 2002, S. 76.

[4] Bachmair 1996, S. 87.

[5] Straßner 2002, S. 8.

[6] Ebd., S. 77.

[7] Holly 2004, S. 1.

[8] Vgl. Holly 2004, S. 4.

[9] Holly 2001a, S. 13. In: Holly, Werner / Püschel, Ulrich / Bergmann, Jörg (Hgg.): Der sprechende Zuschauer: Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen.Wiesbaden 2001, S. 11-24.

[10] Holly 2007a (im Druck).

[11] Vgl. Holly 2004, S. 38.

[12] Landbeck 1991, S. 2.

[13] Muckenhaupt 1988; zit. n. Landbeck 1991, S. 29.

[14] Gast 1993, S. 14.

[15] Neitzel 1999, S. 200. In: Pias, Claus / Vogl, Joseph / Engell, Lorenz / Fahle, Oliver / Neitzel, Britta (Hgg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, S. 197-201.

[16] Fiske 1987, S. 305.

[17] Vgl. Jäger 2002, S. 28ff. In: Jäger, Ludwig / Stanitzek, Georg (Hgg.): Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2001, S. 19-41.

[18] Vgl. Holly 2007a (im Druck).

[19] Vgl. Jäger 2004a, S. 343.

[20] Vgl. Holly 2001a, S. 11.

[21] Vgl. hierzu Hickethier 1994.

[22] Vgl. Holly 2001a, S. 11.

[23] Vgl. Fiske 1989, S.234. In: Pias, Claus / Vogl, Joseph / Engell, Lorenz / Fahle, Oliver / Neitzel, Britta (Hgg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, S. 234-253.

[24] Ruhrmann 1989, S. 63.

[25] Vgl. Gast 1993.

[26] Vgl. hierzu Kreuzer 2001.

[27] Jäger 2004b, S. 70. In: Fohrmann, Jürgen / Schüttpelz, Erhard (Hgg.): Die Kommunikation der Medien. Tübingen 2004, S. 69-79.

[28] Vgl. hierzu Straßner 2002.

[29] Holly 2004, S. 38.

[30] Vgl. Holly 2004, S. 2.

[31] Vgl. Ebd., S. 3.

[32] Ebd., S. 3.

[33] Vgl. Löffler 1996, S. 201. In: Biere, Bernd U. / Hoberg, Rudolf (Hgg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Stuttgart 1999, S. 55-66.

[34] Vgl. Holly 2004, S. 39.

[35] Vgl. hierzu Straßner 1982.

[36] Der dargestellte Prozess – die ‚Herauslösung‘ des Fernsehtextes aus dem audiovisuellen Ereignis – kann als ‚intermediale Transkription‘ charakterisiert werden (siehe dazu Teil IV, S. 24ff.). An dieser Stelle soll nur verdeutlicht werden, dass der ursprüngliche audiovisuelle Sprechtext hier zu Schrift mit Orthografie und Zeichensetzung transkribiert wurde und dadurch seinen ‚spezifischen‘ Charakter erhalten hat.

[37] Vgl. Holly 2007a (im Druck).

[38] Vgl. Ebd.

[39] Ong 1982; zit. n. Holly 1996, S. 29. In: Biere, Bernd U. / Hoberg, Rudolf (Hgg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen 1996, S. 29-40

[40] Holly 2004, S. 43.

[41] Fiske 1987, S. 106.

[42] Holly 2004, S. 43.

[43] Ebd.

[44] Vgl. Burger 1996, S. 66. In: Biere, Bernd U. / Hoberg, Rudolf (Hgg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen 1996, S.41-80.

[45] Vgl. Holly 1996, S. 33.

[46] Vgl. Ebd.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Mit Worten sehen - Audiovisuelle Bedeutungskonstitution
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
37
Katalognummer
V131278
ISBN (eBook)
9783640368396
ISBN (Buch)
9783640368655
Dateigröße
809 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Worten, Audiovisuelle, Bedeutungskonstitution
Arbeit zitieren
Teodor Nenov (Autor:in), 2009, Mit Worten sehen - Audiovisuelle Bedeutungskonstitution, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131278

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