Vergessenstheorien

Eine Einführung


Wissenschaftliche Studie, 2008

26 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vergessenstheorien

1. Einleitung

2. Nietzsche: Positives Hemmvermögen

3. Freud: Unbewusstes Vergessen
1. Das Vergessen.
2. Deckerinnerungen
3. Psycholinguistik: Versprechen, Verlesen, Verschreiben
4. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

4. Ricoeurs Definitionen des Vergessens
1. Das Vergessen.
3. Das Verzeihen
3. Fazit

5. Weinrich: Kunst des Vergessens
1. Sprachliches.
2. Mnemotechnik und Lethe
3. Die Verlockungen des Vergessens.
4. Liebesschmerzen vergessen
5. Die Transzendenz.
6. Angewandte Mnemotechnik

6. Osten: Das moderne Vergessen und die Gefahr der Zukunft
1. Einleitung zum Buch und zum Vorwort.
2. Vergangenheitshass und Stolz bei Napoleon, Goethe und Nietzsche
3. Verdrängung und Gedächtnisauslöschung: Freud, Nazis und das kulturelle Gedächtnis
4. Die Naturwissenschaften als Gedächtniszerstörer.
5. Moderne Techniken lassen vergessen.
6. Die Technik im Menschen

7. Schluss

8. Literatur

1. Einleitung

Vergessen – für manche positiv, für manche negativ. Was ist Vergessen wirklich? Diese Abhandlung soll einige Vergessenstheorien zeigen, angefangen bei Nietzsche und der Psychoanalyse Freuds, dann hin zu moderneren Theorien von Ricoeur, Weinrich und Osten.

2. Nietzsche: Positives Hemmvermögen

Den Menschen nennt er ein Tier, das versprechen darf, doch was darf es denn versprechen? Sich selbst eine Zukunft, indem es lernt zu unterscheiden, indem es sich ein Gedächtnis des Willens aufbaut, ein aktives Gedächtnis. Doch wer nie etwas vergisst, wird auch nie fertig, weshalb er die Vergesslichkeit wiederum ein positives Hemmungsvermögen nennt. Sie sorgt für Stille, schafft Platz für Neues, hält die innere Ordnung aufrecht. Ohne sie gäbe es keine Gegenwart; ohne je fertig zu werden, gibt es keine Zukunft.

Ein Tier, das versprechen kann, muss für ihn einförmig, gleich und berechenbar sein. Dies schafft die Sitte, indem sie den Menschen durch die 'soziale Zwangsjacke' berechenbar macht. Dagegen schafft es das souveräne Individuum, die Sitte wieder zu überwinden, es hat einen eigenen Willen und vor allem Herrschaft über sich, die Natur und Willensschwächere. Dadurch entsteht aber eine Verantwortlichkeit und daraus das Gewissen.

Doch wie entstand das Gedächtnis denn überhaupt? Nietzsche sieht es als einen dauernden, bleibenden Schmerz an. Dies ist auch die Grundlage für jegliche Strafen, denn sie sind da, um ein schlechtes Gedächtnis zu festigen. Erst durch Strafandrohung kann man versprechen.

Nietzsche sah das Vergessen als Positiv an. Vergessen ist wichtig für den Einzelnen wie für das Ganze. Selbst das Tier, mit dem Nietzsche den Menschen oft vergleicht, lebt völlig ohne Wissen an die Vergangenheit und lebt damit gut. Auf sich selbst konzentrieren erfordert auch die Fähigkeit, alles andere vergessen zu können – und nur wenn man sich auf sich selbst konzentriert und kennenlernt, kann man sich überwinden, zum Übermenschen werden.

Ohne das Vergessen hängt der Mensch immer am Alten. Dies ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier, denn letzteres lebt im Augenblick. Der Mensch dagegen wird von der Last seiner Vergangenheit erdrückt. Die Vergangenheit bringt Leiden und Überdruss, das Dasein wird zum nie vollendbaren, ewigen Gewesensein. Wer sich aber nicht im Augenblick niederlassen kann, wird niemals Glück verspüren noch geben können.

Zum Handeln gehört das Vergessen. Ohne Erinnerung lebt es sich glücklicher. Ohne Vergessen ist Leben unmöglich, denn zuviel Erinnern bringt Schmerz. Man muss das Vergangene ein- und verarbeiten können um nicht zu Schaden zu kommen. Gesund bleibt man nur in einem begrenzten Horizont. Das Vergessen ist wichtig, um Neues aufnehmen zu können.

Der historische Mensch versucht zu sehr anhand der Vergangenheit etwas 'besseres' zu machen und scheitert. Dem Überhistorischen bringt das Neue nichts Neues, sondern nur bekanntes und erwartetes, was zu Ekel und Übersättigung führt.

So fordert Nietzsche, dass man nicht von der Geschichte und Vergangenheit bestimmt wird, sondern sie zu Nutzen versteht, zum Zwecke des Lebens.

3. Freud: Unbewusstes Vergessen

Sigmund Freud publizierte 1901 sein Werk 'Psychopathologie des Alltagslebens. Über Versprechen, Vergessen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum'. Hier wendet er seine Psychoanalyse an verschiedenen Beispielen – meist welchem aus seinem eigenen Leben, von Patienten oder Freunden – mit der Theorie, dass dies alles zurückzuführen sei auf unterbewusste Vorgänge. Auch führt er hier den später so genannten 'Freudschen Versprecher' ein, ebenso wie er in diesem Werk zu einer Konklusion der Frage kommt, ob es nun einen freien Willen gibt oder nicht.

Freud war kein moderner Naturwissenschaftler und so erinnert sein Buch mehr an das eines Philosophen. Seine Erkenntnissen gründen sich größtenteils auf eigene Beobachtungen und Überlegungen. An anderen Autoren zitiert er eigentlich nur Meringer und Mayer von 1900 sowie Wundt, Zeitgenossen von ihm. An einer Stelle erwähnt er zwar auch durchgeführte Experimente, doch sind diese in der Minderheit. Aber eines unterscheidet ihn stark von einem Philosophen: er behauptet immerhin nicht, die absolute Wahrheit gefunden zu haben und dass weitere Forschungen nötig seien.

1. Das Vergessen.

Freud unterscheidet in zwei Kapiteln zwei erste Arten von Vergessen: das von Eigennamen und das von Fremdwörtern. Kurz gesagt also von Wörtern.

Das Vergessen nennt er das Versagen einer psychischen Funktion, nämlich der Erinnerung.[1]

a) Eigennamen, so Freud, vergisst man leichter, doch man erinnert sich stattdessen an damit assoziierte Ersatznamen. Hierbei wird man durch das vorhergehende Thema beeinflusst. Als mögliche Ursachen für das Vergessen führt er an:

1. Man wollte etwas vergessen (bewusst oder unbewusst).
2. Das Thema wechselte bevor man das vorherige fertig behandelt hatte und man muss weitere Assoziationen unterdrücken, die nun wieder hervor kommen.

Die Ersatznamen haben auf jeden Fall Elemente (v.a. In Form von Silben) des Verdrängten und des vorhergehenden Themas.

Das Beispiel für die Eigennamen war sein Vergessen eines italienischen Malers.

b) Fremdwörter vergisst man je nach allgemeinem Befinden und Wachheitsgrad. Dies führt am Beispiel eines lateinischen Pronomens aus. Der Betroffene hatte hierbei Assoziationen zu Elementen seiner Vorstellung sowie eines unterbewussten Wunsches. Als Lösung führt er folgendes an:

1. Den Assoziationen folgen um unbewusste Vorstellungselemente hervorzuholen.
2. Assoziationen folgen die zeigen, was unangenehm ist und was verdrängt werden soll.

2. Deckerinnerungen

Als Deckerinnerungen fasst Freud vor allem frühe Kindheitserinnerungen auf, die fester im Gedächtnis sitzen als neuere Erinnerungen. Warum dem so ist, kann er nicht sagen, vermutet aber, dass in der Kindheit die Gewichtung, was zu erinnern sein soll, anders ist.[2] Wie der Name schon sagt 'decken' diese Erinnerungen spätere, v.a. solche, an die man sich gar nicht erinnern will. Das ganze kann regressiv, progressiv oder gleichzeitig[3] ablaufen. Dem Menschen ist völlig unbewusst, dass diese Erinnerungen überhaupt existieren.

3. Psycholinguistik: Versprechen, Verlesen, Verschreiben

Diese Kapitel sind die längsten im Text. Er greift hier vor allem auf Meringer und Mayer (1900) und ihre Erkenntnisse zurück, v.a. bei den Versprechern, welche für ihn eine Vorstufe von Paraphasien sind.

– Arten: Vertauschungen, Antizipation, Postposition, Kontamination, Substitution.

– Betroffen Einheiten: Wort, Silbe, Satz.[4]

Sobald wir das erste Wort eines Satzes beginnen, so Freud, realisieren wir innerlich bereits alle folgenden. Meringer und Mayer sehen hierbei eine Wertigkeit der Phoneme[5], in der Art, dass der Anlaut eines Wortes der wichtigste ist. Als Beweis führen sie an, dass man immer den korrekten Anlaut hat, wenn man ein Wort vergisst. Dem widerspricht Freud aber, dass es nicht immer so sein muss.[6]

– Antizipation und Postposition: entstehen durch einen Bestandteil derselben Rede oder einer zweiten Fassung, die man sich innerlich zurecht gelegt hat, aber aus verschiedenen Gründen nicht äußert.

– Äußere Einflüsse: sind solche, die man nicht aussprechen will, an die man aber denkt.

Er gratuliert Meringer und Mayer auch zu der Einsicht, dass manche Ursachen für Versprecher etwas komplexer sein können. Trotzdem führt Freud noch Wundt und seine Völkerpsychologie auf. Wundt sprach davon, dass es weitere psychische Einflüsse gibt wie den freien Fluss der Assoziationen und das Mischformen möglich seien. Diesem stimmt Freud völlig zu. Den Assoziationsfluss nennt er hierbei positiv, eine nachlassende Aufmerksamkeit negativ. Er selber fand in seinen Beispielen auch immer mit schuldig seiende äußere Einflüsse, nicht nur Innere. In diesen Beispielen fand er folgende Ursachen:

a) Ungeduld
b) Leichter auszusprechene Phoneme[7]
c) 'Ansteckung', wenn jemand anders schon Fehler machte
d) unbewusst vorhandene Gedanken
e) ein störender obszöner Anklang
f) eine Abneigung gegenüber den Erinnerungen oder Assoziationen
Beim Verlesen findet er ähnliche Ursachen:[8]
a) Beschäftigt sein mit Prioritätsgedanken
b) Assoziationen
c) unterschwellig vorhandenes
d) ein unterschwelliger Wunsch
e) unbewusste Abneigung
f) unbewusste Angst

Man sieht, das meiste basiert auf unbewusst vorhandenem Material, dass an die Oberfläche kommt.

Das Verschreiben soll laut Wundt häufiger geschehen als das Verlesen und laut Freud die selben Ursachen haben: unbewusst vorhandenes.

Letztlich führt der den Punkt des Vorlesens an, dass man dabei fast immer abschweift, seine Gedanken woanders hin lenkt, dem Text kaum Aufmerksamkeit schenkt und trotzdem alles fehlerfrei vorliest.[9]

4. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen.

Freud führt noch zwei weitere Arten des Vergessens an. Im Gegensatz zu den ersteren basieren diese aber nicht auf Erlerntem, das vergessen wird, sondern auf persönlichen Erfahrungen.

Vergessen definiert Freud als spontan, einen bestimmten zeitlichen Punkt oder Ablauf betreffend und dass es eine Auswahl trifft unter Eindrücken und zugehörigen Details.Er selber schildert sich hierbei als bei gutem Gedächtnis, der Kunstgriffe anwendet, um nicht zu vergessen. Doch auch ihm passierten einige Dinge, auf denen seine Beispiele und Erkenntnisse basieren, warum man vergisst:

a) aus Rücksicht (um dem anderen nicht zu schaden)
b) aus Urteilsstörung ('Liebe macht blind')
c) aus Abneigung (auch Hass macht blind)
d) aus schlechter Erfahrungen
e) aus Neid (wird etwas unbewusst vergessen, um den anderen zu schaden)

Laut Freud werden bevorzugt peinliche und unangenehme Situationen vergessen.[10] Er nennt es motiviertes Vergessen, da das Unterbewusstsein ein Interesse daran hat, etwas zu vergessen. An Gründen sieht er in seinen Beispielen hierbei

– bei Eindrücken: a) schlichte Erinnerungstäuschung, b) das eigene ICH stört die objektive Betrachtung des Geschehenen.

– bei Vorsätzen: a) Motivänderung/Meinungsänderung (etwas ist nicht mehr wichtig)

Letztlich schildert er, dass der allgemeine Glaube herrscht, dass Vergessen erlaubt ist bei unwichtigen Dingen, wenn man aber wichtige Dinge vergisst, wird einem vorgeworfen, es wäre einem nicht mehr wichtig. In gewisser Weise aber stimmt dies auch, denn die psychische Wertschätzung hat sich geändert, es entsteht ein unbewusster Gegenwille.

Am Ende des Buches greift er dieses Thema noch einmal auf und sagt, dass die vorgefundenen Phänomene zurückführbar sind auf unvollkommen unterdrücktes psychisches Material, das vom Bewusstsein verdrängt aber nicht verstummt ist.

Freud schließt damit, nochmal auf einige Punkte einzugehen und zu konkretisieren. So entstehen z.B. Symptomhandlungen durch innere Widerstände, die dies ans Tageslicht bringen. Durch all die Geschilderten Phänome ist es letztlich möglich, all das auszuleben, was das Bewusstsein versucht zu verdrängen.

Um noch einmal zusammenzufassen: Das Bewusstsein versucht stets Objekte des Seelenlebens zu verdrängen. Das Unterbewusstsein aber will oder kann diese nicht aufnehmen, sondern ausleben. So kommt es zu den geschilderten Phänomenen. Auf diese Art bekommt jede noch so kleine Handlung oder Äußerung absolute Bedeutung. Bei Versprechern nennt man dies heutzutage Freudsche Versprecher: sie verraten etwas über das Seelenleben derer, denen sie zustoßen. Und dadurch, dass das Unterbewusstsein durch diese Phänome quasi Kontrolle über uns hat, sind wir alle seelisch determiniert und können gar nicht anders.

[...]


[1] Derweil z.B. Nietzsche sagte, dass das Vergessen ebenso notwendig sei wie das Erinnern.

[2] Man könnte es aber auch mit einem Computer-Laufwerk vergleichen: in dem jungen frischen Gedächtnis werden in der Kindheit Erinnerungen gespeichert. Der Platz ist begrenzt und es wird etwas gelöscht. Ganz gelöscht werden können sie aber niemals, es bleiben Spuren.

[3] Umformulierung seiner Termini im Text sind von mir. Beispiel 'regressiv' statt rückläufig und 'progressiv' statt vorläufig.

[4] Wie wir heute wissen, können auch Phrasen oder Morpheme, also Einzelteil von Satz und Wort, betroffen sein. Ebenso auch schon einzelne Phoneme in einem Wort.

[5] Bei Freud immer 'Laut'.

[6] Und womit er auch Recht hat.

[7] Quasi persönliche spontane phonologische Regeln.

[8] Hierbei fehlt aber der wichtige Punkt, dass es nicht nur psychisch bedingt sein kann, auch den Sinnen können Täuschungen und Verwechslungen passieren!

[9] Allerdings werden die meisten ihre Gedanken wohl völlig darauf verwenden, das Vorgelesene korrekt vorzulesen. Dass der Inhalt hierbei nicht ins Bewusstsein durchkommt, ist klar.

Ich selber kann jedoch bestätigen, dass das von Freud geschilderte ebenso vorkommt.

[10] Dem muss ich wehement widersprechen. Zumindest meine Person erinnert sich gerade an peinliche Situationen am besten. Dagegen gab es viele schöne Momente, die sich meinem Gedächtnis entziehen. Und schließlich viele unwichtige, die zumindest noch vage vorhanden sind. Und wie lautet doch das treffende Sprichwort? 'Aus Fehlern lernt man'. Weiterhin scheint man auch meist das zu vergessen, auf das man am wenigsten Aufmerksamkeit gegeben hat. Im extremsten Fall wird es dann überhaupt nicht gespeichert. So kann man Handlungen ausführen, geistig anderweitig beschäftigt sein und später nichts von diesen Handlungen mitbekommen haben.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Vergessenstheorien
Untertitel
Eine Einführung
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1
Autor
Jahr
2008
Seiten
26
Katalognummer
V131194
ISBN (eBook)
9783640542277
ISBN (Buch)
9783640542192
Dateigröße
504 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vergessen, philosophie, nietzsche, ricoeur, freud, psychoanalyse, psychologie, oste, osten, weinrich
Arbeit zitieren
Andre Schuchardt (Autor:in), 2008, Vergessenstheorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131194

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