Rache und Ehre bei Kleist und Schiller

Auge um Auge


Magisterarbeit, 2008

100 Seiten, Note: 2,00


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre
2.1 Entstehungs- und Stoffgeschichte

3. Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas
3.1 Entstehungs- und Stoffgeschichte

4. Ehre – Recht – Rache
4.1 Ehre und Rache
4.2 Ehre und Recht
4.3 Rache und Recht

5. Kleist und Schiller als Rächer des Rechts

6. Struktur

7. Erzählstrategie und Sprache

8. Charakteristika der Hauptfiguren
8.1 „Sprechende“ Namen
8.2 Profile der Rächer
8.3 Unehrliche Leute

9. Adressaten der Rache

10. Abschließende Betrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Was ist Ehre? – ein Wort.“ Das meint Shakespeare.[1] Das Wort Ehre ist eng verbunden mit dem Ermessen anderer. Das heißt, Dritte beurteilen, was als ehrenvolles Verhalten und Handeln erachtet wird und was nicht. Ehre, als das Ansehen und die Anerkennung, die einem von anderen zuteil wird, bestimmt in großem Maße unsere Identität und unsere Stellung in der Gesellschaft. Heute scheint die Ehre als Normsystem keine allumfassende Bedeutung mehr zu haben. Sie kommt gegenwärtig nicht mehr explizit zur Sprache. Gleichwohl spiegelt sie sich immer dann wieder, wenn z.B. von „Image“ oder dem „guten Ruf“ die Rede ist. Der verbürgte Leumund einer Person oder Institution macht sie glaub- und vertrauenswürdig sowie achtbar. Von einer Bank zum Beispiel, die sich durch die eben dargelegten Attribute auszeichnet, lässt man sich lieber in Kreditfragen beraten als von einem Wucherer. Verliert jemand seine Ehre durch unehrenhaftes Handeln, wie z.B. dem Wuchern oder dem Begehen einer Straftat, wird er von der Gesellschaft geächtet und sozial ausgegrenzt. Er verliert buchstäblich sein Gesicht – beim Ehrverlust wird daher auch von Gesichtsverlust gesprochen – und ist somit nicht länger ein Teil der Gemeinschaft, sondern ein ausgestoßener Sonderling.

Kleists Michael Kohlhaas und Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre[2], namentlich Christian Wolf, sind zwei dieser Ehrlosen. Sie fallen aufgrund verletzter bzw. verlorener Ehre dem Mord und Diebstahl; kurz dem Verbrechen anheim. Enttäuscht vom Rechtssystem, das ihr Unglück maßgeblich mit verschuldet, nehmen sie das Recht selbst in die Hand. Als Rächer und Selbsthelfer üben sie Vergeltung an Justiz und Obrigkeit für ihr erlittenes Unrecht.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der vergleichenden Gegenüberstellung der obengenannten Erzählungen Kleists und Schillers unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach den funktionalen und wirkungs-dimensionalen Bedeutungsbeziehungen von Rache und Ehre. Diese Fragestellung wird sowohl innerhalb des jeweils einzelnen Werkes als auch im Verhältnis zum jeweils anderen Werk betrachtet. Hierzu wird in einem ersten Schritt auf die Entstehungs- und Stoffgeschichte beider Werke eingegangen.

Daran anschließend erfolgt eine Analyse der Begriffs-Triade von Ehre – Recht – Rache. Die darauffolgende Untersuchung der Begriffspaare: Ehre und Rache, Ehre und Recht sowie Rache und Recht legt die gegenseitige inhaltliche Bezugnahme und definitorische Programmatik der einzelnen Termini dar. Hierbei wird der Schwerpunkt auf die psychologischen, religiösen sowie sozial-gesellschaftlichen Aspekte von Ehre, Recht und Rache gelegt. Im Rahmen der weiteren Untersuchung werden beide Autoren in ihrer Beziehung zum Recht dargestellt und ihre damit einhergehende Justizkritik eruiert.

Im Folgenden beschäftigt sich die Arbeit mit der Darlegung der Struktur, Erzählstrategie und Sprache sowie der Charakteristika der jeweiligen Hauptfiguren. Das Augenmerk liegt dabei auf dem Eruieren des funktionalen Zusammenhangs zwischen den einzelnen narrativen Strukturmerkmalen und den Leitbegriffen von Rache und Ehre. Die ausführliche Darstellung über sprechende Namen, sowie der Profile der Rächer und über unehrliche Leute, im Rahmen des Kapitels über das Hauptfigurenarsenal, dient der umfassenden Charakteristik der Titelfiguren in ihrer Rolle als ehrlose Verbrecher. Fernerhin werden die Adressaten von Kohlhaas` und Wolfs Rache näher betrachtet.

Alle analytischen Betrachtungen sind im Rahmen dieser Arbeit vergleichend angelegt. Sie werden an konkreten, werkimmanenten Textbeispielen belegt und veranschaulicht. Ziel der vorliegenden Analyse ist die Eruierung von Anhalts-punkten und Bedeutungsperspektiven im Kontext der zentralen Aufgaben-stellung. Die vorliegende analytisch-interpretatorische Untersuchung erhebt überdies keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden erschließt für beide Erzählungen, bezüglich der aufgeführten Gliederungspunkte, vorrangig exemplarische Beispiele.

Diese geben sodann Auskunft über die, in den einzelnen Kapitelüberschriften, definierten Untersuchungsgegenstände und deren Verhältnis zum Leitthema der vorliegenden Arbeit als Ganzes.

2. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre

2.1 Entstehungs- und Stoffgeschichte

Die Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre erscheint, unter dem Titel Der Verbrecher aus Infamie – Eine wahre Geschichte, erstmalig anonym im Jahr 1786 im Zweiten Heft der Zeitschrift Rheinische Thalia. 1792 veröffentlicht Schiller die zweite Ausgabe der Erzählung in seinen Kleineren prosaischen Schriften als Der Verbrecher aus verlorener Ehre.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Erzählung ist der Dichter kein Unbekannter mehr. 1782 werden Die Räuber mit großem Erfolg uraufgeführt, ein Jahr später auch sein Fiesco in Bonn. Im April 1784 wird Kabale und Liebe mit zunächst großem aber zeitlich nicht dauerhaftem Erfolg uraufgeführt. Ende des gleichen Jahres läuft Schillers Vertrag am Mannheimer Theater aus und er erhält keine Verlängerung seines Anstellungsverhältnisses. Obwohl Friedrich Schiller also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Erzählung kein Unbekannter mehr ist, sind diese Lebensjahre vorrangig Krisenjahre. Einerseits hat er seinem Landesherrn durch seine Flucht – er reist unerlaubt zur Uraufführung seiner Räuber, woraufhin Herzog Karl Eugen einen zweiwöchigen Arrest über ihn verhängt – den Gehorsam verweigert. Damit gibt er seine finanziell gesicherte Zukunft als Militärarzt auf. Andererseits ist seine literarische Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt noch wenig erfolgreich.

Motiviert durch die materiell-desaströse Lage, gesundheitliche Probleme und die Zerschlagung seiner Pläne als Dramaturg zu arbeiten, bedingt durch die Kündigung vom Mannheimer Theater, gründet Schiller das Zeitschriften-Projekt Rheinische Thalia. Ein Teil der Zeitschriftenbeiträge steht unter der Rubrik „Gemälde merkwürdiger Menschen und Handlungen“.

Korrespondierend mit dem Verbrecher aus verlorener Ehre interessieren den Autor hier, neben dem Aspekt des Verbrechens als großer Tat innerhalb der Verbrechensdarstellung, vor allem die psychologischen Motivationen, die zu einer kriminellen Gewalttat führen.[3] In seiner Ankündigung der Rheinischen Thalia schreibt er dazu:

[…] Neugefundene Räder in dem unbegreiflichen Uhrwerk der Seele – einzelne Phänomene, die sich in irgend eine merkwürdige Verbesserung oder Ver-schlimmerung auflösen, sind mir, ich gestehe es, wichtiger, als die toten Schätze im Kabinett des Antikensammlers oder ein neu entdeckter Nachbar des Saturnus […].[4]

Schiller ist demnach an einem umfassenden Bild der Menschen interessiert. Er möchte die Einzigartigkeit des Lebens und seine Verwicklungen, wieder-gespiegelt in den Gedanken und Handlungen der Menschen, erforschen. Sie sollen ein Bestandteil seiner Zeitschrift sein. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die seelischen und psychologischen Hintergründe – oder wie es im Verbrecher heißt: „In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“[5]

Dies verweist nicht zuletzt auf die Pitaval Tradition. Einerseits gibt es Parallelen, andererseits grenzt sich Schiller ab. Der Pitaval, der als Sammlung berühmte und merkwürdige Rechtsfälle seiner Zeit – Entstehung 1734-43 – aufgreift, unterscheidet sich zum Teil von Schillers Erzählung. Bei Pitaval liegt der Schwerpunkt vorrangig auf der Sühnung; durch den Eingriff der Gesellschaft in die Taten des Verbrechers. Zudem umfassen diese Verbrechensdarstellungen oft Beschreibungen über den Verbrechens- und Bestrafungsprozess. Ferner gibt es, neben den straf- und prozessrechtlichen Darstellungen, in Analogie zu Schiller, mit den detaillierten kriminal-psychologische Reflexionen auch eine menschliche Komponente. Stärker als bei Pitaval stehen für Schiller, wie erläutert, jedoch die vielfältigen Ursachen des Vergehens im zentralen Fokus und nicht die Tat und deren Bestrafung selbst. Deswegen lässt er zum Beispiel die Darstellungen über den Bestrafungshergang weitgehend unbeachtet und versucht auch bei der kriminologischen Betrachtung weniger reflektierend zu wirken als Pitaval. Der Fall soll sich also weitgehend selbst erklären ohne ihn beständig zu begründen.[6]

Das erste Heft der Thalia erscheint 1785 zunächst im Mannheimer Selbstverlag, später jedoch bei J.J. Göschen in Leipzig, der ihn unterstützt. Mit seinem Projekt kann er nicht annähernd an die geschäftlichen Erfolge beispielsweise eines Christoph Martin Wieland mit seinem Teutschen Merkur (1773-1810) anknüpfen. Die eigene Zeitschrift verschafft Schiller zumindest punktuelle wirtschaftliche Entlastung, jedoch ohne dauerhaft finanzielle Absicherung zu gewährleisten. Die Zeitschrift dient demnach dem vorrangigen Ziel der Existenzsicherung. Diesem Umstand ist es zu schulden, dass Schillers Werk nicht zuletzt mit Blick auf den literarischen Markt und unter Zugeständnissen an ein breites Lesepublikum entsteht.[7]

Dieser „wahre[n] Geschichte“[8] liegt der Stoff einer tatsächlichen Begebenheit zugrunde – die Lebensgeschichte des Verbrechers Friedrich Schwan aus Württemberg. Dieser lebt von 1729-1760 und trägt den Beinamen Sonnenwirt. Wegen eines Bagatellvergehens wird Schwan übermäßig hart bestraft. Daraufhin entwickelt er starke Hass- und Rachegefühle. Schillers früherer Philosophielehrer an der Karlsschule, Jacob Friedrich Abel, berichtet ihm von dem Fall. Der Vater Abels hat seinerzeit als Amtmann das Verhör gegen den Sonnenwirt Schwan in Vaihingen geleitet. Abels Vorlesungen führen Schiller in die Psychologie, Sozialpsychologie und Literaturästhetik ein. Zur Illustration seiner Fallstudien zieht dieser gerne aktuelle Vorfälle heran, so

vermutlich auch den Fall Friedrich Schwans.[9]

Auch Jacob Friedrich Abel verarbeitet den Rechtsfall dieses berühmten Verbrechers in seiner Erzählung Lebensgeschichte Fridrich Schwans. Abel hält sich dabei sehr viel stärker als Schiller an die historische Vorlage und legt besonderes Augenmerk auf die Sozialisation Schwans, der er als Moralphilosoph und Psychologe Rechnung trägt.[10] In der Forschung ist umstritten, ob Abel seinen Bericht schon vor der Erzählung Schillers verfasst. Die mehrheitliche Meinung ist, dass Abel seinen Bericht erst nach der Erzählung Schillers niederschreibt.[11]

3. Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

3.1 Entstehungs- und Stoffgeschichte

Kleists Erzählung Michael Kohlhaas erscheint 1808 zunächst fragmentarisch im sechsten Heft des Phöbus. 1810 wird das Werk in erweiterter und überarbeiteter Fassung neben der Marquise von O… und dem Erdbeben von Chili im ersten Band seiner Erzählungen veröffentlicht.

Zur Zeit der Entstehung von Kleists Werk scheint der Schriftsteller auf dem Höhepunkt seiner literarischen Produktion zu sein. Allein zwischen den Jahren 1805 – 1810 entstehen viele Werke, darunter Amphitrion und Der Zerbrochene Krug oder Erzählungen wie Der Zweikampf oder Die heilige Cäcilie. Dennoch ist, ähnlich wie für Schiller, Kleists Lebenssituation mit Unwägbarkeiten, vielseitigen Entbehrungen und dem Ausbleiben der erhofften dichterischen Anerkennung verbunden. Nach schwerem seelisch-körperlichen Zusammen-bruch aus Paris zurückgekehrt, ist Kleist für den preußischen Staatsdienst von 1804-1806 zunächst in Berlin später in Königsberg tätig. 1807 gerät er als vermeintlicher Spion in französische Gefangenschaft. Nach seiner Haft-entlassung lebt er in Dresden. Hier gibt es Pläne, eine Buchhandlung zu eröffnen, die unter anderem eine gewinnträchtige Veröffentlichung des französischen „Code Napoleon“ in Aussicht stellt. Dieses Vorhaben scheitert.

Kleist beschließt daraufhin als freier Schriftsteller zu leben. In Analogie zu Friedrich Schiller setzt auch Heinrich von Kleist auf ein Zeitschriftenprojekt zur Sicherung seiner Existenzgrundlage. Gemeinsam mit seinem Freund, Adam Müller, Dichter und Staatsphilosoph, gründet er die Zeitschrift Phöbus, Ein Journal für die Kunst. Mit diesem anspruchsvollen Projekt versuchen die Herausgeber Poesie, Philosophie und bildende Kunst auf hohem Niveau miteinander zu verbinden. Die Mitarbeit angesehener Autoren bleibt jedoch aus. Kleist nutzt, analog zu Schiller, seine Zeitschrift ebenfalls zur Veröffentlichung eigener Werke, wie zum Beispiel des Kohlhaas. In Parallelität zu Schiller hat auch Kleists Zeitschrift keinen großen Erfolg und wird nach einem Jahr eingestellt.[12]

Analog zu Schiller beruht auch Kleists Erzählung auf einer wahren Begebenheit. Der Verfasser gibt an, den Stoff seiner Erzählung aus „einer alten Chronik“ zu beziehen. Als Hauptquelle wird die Maerckische Chronic von Hafftitz angesehen, die in der umfangreichen Sammlung Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober-Sachsen und angrenzenden Laendern von 1731 enthalten ist. Zudem existiert der historische Lutherbrief, von dem Kleist vermutlich aber keine Kenntnis hat. Die detaillierten sächsischen Originalakten stehen Kleist nicht zur Verfügung, da diese erst Mitte des 19. Jahrhunderts öffentlich zugänglich werden. Die Forschung geht davon aus, dass Kleist im Rahmen seiner Studien in Frankfurt (Oder) vom Fall Hans Kohlhase erfährt.

Hans Kohlhase, das historische Vorbild von Michael Kohlhaas, ist ein angesehener Bürger Kölns und Handelsmann. Er lebt von ca. 1500 – 1540. Er gilt als rechtschaffener und ehrlicher sowie wohlhabender Kaufmann. Eines Tages bricht er von Köln nach Leipzig auf, um dort seine Pferde zu verkaufen. Ihm werden vom Junker Günther von Zaschwitz widerrechtlich zwei seiner Pferde abgenommen, weil dieser behauptet, Kohlhase habe die Pferde gestohlen. Kohlhase lässt die Pferde bis zum Beweis seiner Unschuld beim Junker zurück. Als er sie wiederhaben will, verweigert sie der Junker.

Daraufhin wendet Kohlhase sich an den sächsischen Kurfürsten. Nicht zuletzt weil er mit der Verweigerung des Junkers auch seine Existenz bedroht sieht. Trotz der eindeutigen Beweislage bekommt Kohlhase kein Recht und beginnt nun sein Recht eigenständig, mit Gewalt einzufordern. Er erklärt dem Junker und dem Land Sachsen die Fehde. Hans Kohlhase zieht raubend durchs Land und zündet unter anderem Wittenberg und das Kloster Zinna an. Geistliche und Adlige üben Druck auf den sächsischen Landesherrn, Johann Friedrich I. von Sachsen, aus, den Streit beizulegen. Nach einer nochmaligen Verhandlung in Jüterbog steht Kohlhase eine finanzielle Entschädigung zu. Als der Kurfürst ihm die Zahlung verweigert, wendet er sich an Luther. Dieser rät ihm, den Kampf aufzugeben. Doch Kohlhase kämpft weiter und wird landesweit gesucht. Er wird letztlich ergriffen und wegen Landfriedensbruch durch Rädern hingerichtet.[13]

Auch Heinrich von Kleist hält sich, wie Friedrich Schiller, in vielen Details nicht an die historische Vorlage. Im Vergleich zum historischen Rechtsfall etwa gestaltet Kleist in seiner Erzählung den Rechtsweg Kohlhaas` länger, komplizierter und auch undurchsichtiger. Gepaart mit dem Chronistenstil, der analog zu Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, an einigen Stellen durch kommentierende Eingriffe unterbrochen wird, setzt er den Leser einer ambivalenten Lektüre aus. Er macht ihn damit zum Co-Autoren und fordert so eine eigene Stellungnahme des Lesers.

Es ist möglicherweise auch kein Zufall, dass die Maerckische Chronic als Hauptquelle für Kleists Erzählung im Rahmen einer curieusen Nachlese der Historie erscheint. Das Wort „curieuse“ ist französisch und bedeutet „merkwürdig“ bzw. „sonderbar“. Eine Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle bietet auch die, bereits erwähnte, Pitavalsammlung. Diese erscheint zudem nur vier Jahre nach der Historie. Auch konzeptionell lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen beiden Sammlungen feststellen. Die Pitavalsammlung, die den Namen ihres Autors Francois Gayot de Pitaval trägt, legt nicht nur die einzelnen Fälle und den jeweiligen Verlauf, sondern auch die psychologischen und menschlichen Verwicklungen der kriminellen Taten dar. Kleists Held ist zwar kein hässlicher Held wie der Schillers, aber ein Held, der aufgrund menschlicher Verwicklungen zu seinen gewaltsamen Racheakten getrieben wird. Auf der Tronkenburg wird er durch Beleidigungen in seinem Selbstverständnis, als rechtschaffener, ehrenhafter Bürger gekränkt.[14] Die Justiz, die mithilfe von Vetternwirtschaft korrumpiert wird, tut ihm Unrecht. Sie verstärkt damit zudem die Ehrkränkung. Ferner wird beim ehrlichen Versuch, den Streit auf rechtmäßigem Weg beizulegen, Kohlhaas` Frau getötet.[15] Darüber hinaus verzichtet auch Kleist, genau wie Schiller, auf die ausführliche Beschreibung der Strafvollstreckung und deutet sie nur an. In diesem Punkt stehen beide Autoren gegen die Pitavaltradition.

Sowohl Schillers als auch Kleists Werk stehen jedoch in dem Versuch, die vielseitigen Ursachen – die menschlichen Verwicklungen – von Verbrechen zu benennen und zu begründen. Damit stehen beide Literaten im über-einstimmenden, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten, Bezug zu Pitaval.

4. Ehre – Recht – Rache

Die Ehre ist im Mittelalter und der frühen Neuzeit sehr bedeutend. Die Ehre in der Gesellschaft, der sowohl Schiller und Kleist als auch ihre beiden Helden, Christian Wolf und Michael Kohlhaas, angehören, ist zwar immer an ökonomischen und sozialen Status gebunden, hat darüber hinaus aber ihren eigenständigen Wert. Diesen eigenständigen Wert kann man als soziale Norm bezeichnen, nach der sich jeder zu richten hat, will er sein eigenes Leben in Anerkennung und Ehre verbringen. Zunkel legt in seinem Artikel Ehre, Reputation dar, dass bereits bei den Germanen die Ehre als höchster Wert und die wesentliche Ordnungsgrundlage für das menschliche Dasein angesehen wird.[16] Die Ehre, als soziokulturelles Ordnungsgefüge, das bestimmte Verhaltenscodices, Werte und Richtlinien umfasst, ist ein konstitutives Moment sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen. Sie hat damit eine sehr große Macht- und Vorrangstellung inne. Sie bildet die Grenzen des Sag- und Handelbaren. Ferner zeigt sie Risiken des sozialen Falles und Verrufes sowie die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstieges und des damit ein-hergehenden guten Rufes auf.[17]

Die Ehre ist somit ein ambivalenter Begriff. Er spaltet sich auf in innere und äußere Ehre. Die innere Ehre bezeichnet das Selbstwertgefühl, die Selbstwertschätzung aber auch die Moral, Sittlichkeit und Tugend sowie die soziale Verantwortung. Diese Ehreigenschaften des Individuums bilden seine Maxime für Ehrlichkeit und Unbescholtenheit, aufgrund derer es in der Gesellschaft anerkannt und gewürdigt wird. Die äußere Ehre umfasst die Reputation, die Achtung und das Ansehen anderer gegenüber dem Einzelnen. Sie kann dem Individuum z.B. aufgrund von besonderen Leistungen, sozialer Stellung oder Berühmtheit zuerkannt werden. Hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zwischen innerer und äußerer Ehre. Die innere Ehre besitzt man aufgrund seines Menschseins und ist bestrebt, sie zu bewahren. Die äußere Ehre, als öffentliche Anerkennung anderer, hingegen muss erst erworben werden bzw. diese kann einem auch wieder aberkannt werden.[18]

Die Ehre als soziales Kapital, bedarf daher einer äußerst sorgfältigen Behandlung und ist gegen jede Verletzung zu schützen. Die Ehre ist ein sozialmoralisches Konstrukt, in dem sich das Individuum stets unter der Beobachtung anderer begreift. In einer Gemeinschaft braucht jeder den anderen, um zu existieren. Das Bild, das sich der Einzelne von sich selbst macht, hängt folglich unmittelbar von dem Bild ab, das andere von ihm haben und auf ihn zurückprojizieren. Die Ehre des Einzelnen misst sich immer an den Maßstäben und Werten der Gesellschaft; sie erlangt deshalb nur innerhalb sozialer Kontexte ihre Gültigkeit. Die innere und äußere Ehre sind somit unmittelbar miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig; das stellt auch Arthur Schopenhauer fest: „Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und, subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.“[19]

Die Ehre steht außerhalb des Rechts. Recht, Gesetz und ihre Repräsentanten sind selbst Bestandteil der Ehrenordnung, da sie ihre Legitimation über die öffentliche Anerkennung und Achtung beziehen. Das Recht ist also eher ein Bestandteil der Ehrordnung als umgekehrt. Die Ehrordnung ist nicht auf ein geschriebenes Recht begründet. Eine schriftliche Fixierung ist hier nicht vorhanden, daher sind die Gesetze der Ehre weitgehend ungeschriebene Gesetze. Somit kann sich auch in einem Ehrkonflikt[20] niemand auf eine explizite Schriftgrundlage berufen. Die Gesetze der Ehre sind nicht von einer unabhängigen Instanz verbürgt, sondern von Tradition und den einzelnen sozialen Gruppen der Gesellschaft. Die Eigenschaft des schriftlich Unfixierten lässt sie daher als natürlich, selbstevidente Ordnung erscheinen, die keiner Legitimation bedarf. Die Ehre ist damit Unkontrollierbarkeit und einer gewissen Willkür unterworfen.[21] Die Möglichkeiten des Rechts bei Ehrkonflikten bestehen zumeist darin, die Rechtslage zu erläutern, Sachschäden oder Straftaten, z.B. die Wilderei von Christian Wolf, an sich rechtlich zu sanktionieren und so auch auf die damit einhergehenden Ehrkonflikte zu reagieren. Das Recht fungiert folglich als gerichtliche Vermittlungsinstanz und kann überdies die Ehre von Personen mindern, z.B. durch die Verurteilung in einer Strafsache oder eine Ehrlichsprechung bewirken. Doch die Fremdregulierung bietet bei Ehr-verletzungen nur eine zusätzliche Handlungsmöglichkeit, die nicht oft genutzt wird.[22] Grund dafür ist die unangemessene Entschädigung, die das Recht nach Meinung der Betroffenen, in Bezug auf die Wiederherstellung von Ehre und sozialem Status und Genugtuung, bietet. Die Obrigkeit ahndet demnach Ehrverletzungen, wie erläutert, urteilt aber primär nur über den Tatbestand an sich.

Da die Ehre, als soziales Gut, dem Einzelnen die öffentliche Integration und Anerkennung ermöglicht, ist jeder für deren Schutz und Verteidigung selbst verantwortlich. Die Ehrgeschädigten empfinden den Ehrschutz durch das Gesetz meist als unzureichend. Sie greifen daher zu außerrechtlichen Mitteln und werden zu Rächern und Selbsthelfern. Sie entziehen somit dem staatlichen Monopol die Ehre um der Ehre willen. Das beweist zum Beispiel die Duell-Sitte, die trotz massiver Strafandrohung der Obrigkeit bis ins 20. Jahrhundert hinein weitergeführt wird. Der Staat hat also bezüglich des Ehrenschutzes keine hinreichende Gewalt.[23] Die Rache steht folglich ebenso wie die Ehre außerhalb des Rechts, bzw. bei der Ehre scheint das “außerhalb“ ein „über“ zu sein.

Ehre – Recht – Rache stehen nicht nur explizit als Worte in der Überschrift neben einander. Das Recht, als geltende, allgemein-anerkannte Norm, steht der Rache und Ehre als Konstrukte mit ungeschriebenen, subjektiv festgelegten Regeln gegenüber. Das nicht-festgeschrieben Sein von allgemeinen Funktions- und Verhaltensweisen innerhalb dieser Gebilde von Ehre und Rache birgt Risiken von Willkür, subjektiven Interessen und Zuwiderhandlungen gegen allgemein geltendes Recht. Bei der Ehre, als einer Art „Zwitterwesen“, verschärft sich dieser Umstand noch. Sie steht einesteils außerhalb des Rechts und regelt ihre Angelegenheiten selbst. Andernteils gibt es rechtliche Maßnahmen – diese gleichen jedoch eher einer Rechtsinstrumentalisierung.

Die enge Verbindung von Ehre – Recht – Rache ist auch bei Kleist und Schiller zu beobachten. Kleists Michael Kohlhaas ist bekanntlich die Geschichte eines Pferdehändlers, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts lebt. Auf dem Weg zu Geschäften nach Sachsen wird er bei der Tronkenburg auf Befehl des Junkers Wenzel von Tronka aufgehalten und gezwungen, seine besten Pferde zurückzulassen. Da die Gerichte seine Klage, die die rechtmäßige Wieder-herstellung der heruntergewirtschafteten Rappen fordert, mehrmals abweisen, greift er zur rächenden Selbsthilfe. Mithilfe einer Bande, die er um sich versammelt, brennt er das Schloss des Junkers nieder und durchzieht auf seinem Rachfeldzug raubend und mordend das Land. Für sein eigenmächtiges Handeln in dieser Streitsache wird, trotz der Rechtmäßigkeit seiner Forderung an den Junker Wenzel von Tronka, Kohlhaas zum Tode verurteilt.

Bereits in der Eingangsszene der Erzählung wird der Zusammenhang zwischen den drei Größen Ehre – Recht – Rache deutlich. Eines Tages führen seine Geschäfte den Pferdehändler Kohlhaas über die Landesgrenze nach Sachsen. Hier erfährt er, dass der alte Landesherr tot ist und sein Nachfolger, Junker Wenzel von Tronka, aufgrund eines „Landesherrliche[n] Privilegium[s]“ einen Schlagbaum errichtet hat, um Zölle zu erheben und den Pferdehandel einzuschränken.[24] Nachdem Kohlhaas den erforderlichen Pass nicht vorweisen kann, wird er vom Schlossvogt unrechtmäßig genötigt, zwei seiner schönsten Pferde als Pfand zu hinterlassen. Wenn er bei der erneuten Durchreise den Passierschien vorgelegt, bekommt er seine Rappen zurück.[25]

Der Schlagbaum an den Kohlhaas an der sächsischen Landesgrenze aufgehalten wird, gleicht einem Orakel bzw. einem Dingsymbol. Er steht in seinen vielfältigen Gestalten, als Baum oder Gehölz bzw. in seinen jeweiligen Verarbeitungsformen, als Holz oder Papier, als Zeichen für das gesamte Ehr-, Rechts- und Rachebegehren Kohlhaas` und seiner Person selbst. Als Bestätigung dafür weist Kohlhaas proleptisch daraufhin: „[…] wenn der Baum im Walde stehen geblieben wäre, wärs besser gewesen für mich und Euch […].“[26] Ohne Schlagbaum gäbe es keine unrechtmäßige Abnahme der Rappen und missliche Behandlung derselben. Ohne heruntergewirtschaftete Pferde käme es nicht zum Streit zwischen Kohlhaas und dem Junker von Tronka. Und ohne Streit gäbe es keinen blutigen und mörderischen Rachefeldzug Kohlhaas` gegen Tronka und seine Unterstützer. Demnach hätte ohne Schlagbaum Kleists Titelheld weder seine Frau noch seine Anerkennung in der Gesellschaft noch am Ende sein Leben verloren.

Kohlhaas wird eingangs „[…] als einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit […]“ beschrieben.[27] Somit ist sein ambivalenter Charakter betont, auf der einen Seite ehrenhaft und rechtschaffen auf der anderen Seite entsetzlich. Entsetzlich verweist zugleich auf ein „entsetzt sein“, hier im Sinne von „von Recht und Gesetz entfernt bzw. entrückt sein“. Denn Kohlhaas missachtet nach Ablehnung seiner eingereichten Rechtsklagen die geltenden Gesetze. Er wird zum selbsthelfenden Rächer und Mörder. Als Strafe für die Missachtung der Gesellschaft und Übertretung von dessen Rechts- und Ehrordnung wird er später zum Tode verurteilt.

Mit der Grenzziehung durch den Schlagbaum wird Kohlhaas ferner durch den Burgvogt und Tronka selbst in seiner Ehre als Mensch und als ehrlicher Kaufmann gekränkt. Durch die unrechtmäßige Erhebung der Zölle durch den Junker ist Kohlhaas` Existenz als ehrlicher Kaufmann in Gefahr: „Kohlhaas [wendet] sich und frag[t] den Junker, ob es denn mit diesem Umstand, der sein ganzes Gewerbe zerstöre, in der Tat seine Richtigkeit habe?“[28] Darüber hinaus beschimpft der Vogt Kohlhaas als „filzigen Geldraffe[r]“, dem man „nützliche Aderlässe“ verordnen sollte.[29] Er weist ihn zudem darauf hin, dass er dieses Mal nicht ohne Passierschein „durchschlüpfen“ wird.[30] Hiermit bezichtigt er Kohlhaas unlauterer Absichten, die implizieren, dass dieser nicht bereit wäre, den Zoll ordnungsgemäß zu entrichten. Und als der Protagonist seine gepfändeten Pferde wieder einlösen will und sich über deren desolaten Zustand beschwert, sieht der Burgvogt ihn nur trotzig an und sagt: „[…] seht den Grobian! Ob der Flegel nicht Gott danken sollte, daß die Mähren überhaupt noch leben? […] Er [der Burgvogt] [schließt], daß er [Kohlhaas] hier keine Flausen machen möchte, oder daß er die Hunde rufen […]“ wird.[31]

Der Schlagbaum definiert auch die Grenze zwischen dem willkürlichen Sachsen, das die „Racheobjekte“ Tronka und Kurfürst beherbergt und dem gerechten Kurfürsten von Brandenburg und seinem Rechtsstaat. Kohlhaas überschreitet beim zweiten Mal die Grenze nach Sachsen zur Zusicherung seiner bürgerlichen Existenz durch die Amnestieerklärung des Staates und beim dritten Mal zur Wiederherstellung seiner gekränkten Ehre, indem er zu seiner Hinrichtung nach Berlin gebracht wird.[32]

Ferner sind Kohlhaas` Klageschriften und seine Mandate auf Papier verfasst. Papier wird bekanntlich aus dem Rohstoff Holz gewonnen. Diesen liefern die Bäume. Der Schlagbaum in „Papierform“ steht weiterhin als Symbol für die Gesetze, die auf Papier geschrieben in Büchern stehen und die Kohlhaas mit seinem Rachefeldzug missachtet. Dieses untermauert zudem das oben erläuterte Verhältnis zwischen Ehre und Recht und die Macht der Ehre als unsichtbare, nicht schriftlich fixierte Norm.

Eng mit dem Dingsymbol des Baumes ist auch der Passierschein verbunden, den Kohlhaas bei der Grenzkontrolle vorlegen soll. Ein Pass dient der rechtmäßigen Identifikation von Personen. Hier sind der Name, Beruf und Gewerbeberechtigung und dergleichen vermerkt. Der Name, mit dem sich die jeweilige Person ausweist, ist der individuellste Bezugspunkt von Identität. Die Ehre ist ein identitätsstiftendes Element des Namen, da das persönliche Selbstbild entscheidend durch die Anerkennung und Achtung Dritter beeinflusst und geprägt wird. Michael Kohlhaas fehlt dieser Pass bei der Grenzkontrolle. Durch das Fehlen des Passierscheins ist Kohlhaas in dem Augenblick namen-, identitäts- und gewissermaßen ehrlos. Weil der Pass aber zu Unrecht verlangt wird, ist seine Abwesenheit nur eine scheinbare. In Bezug auf seinen „guten Namen“ und den Nachweis einer Berechtigung zur Ausübung eines ehrlichen Gewerbes bleibt Kohlhaas dennoch nicht ganz schadlos, da er ohne schriftlichen Nachweis seine Identität nicht verbürgen kann. Somit ist auch der Baum in Gestalt des Passes als Sinnbild und Dingsymbol eng verbunden mit der Ehre.

In Analogie dazu ist der Zettel der Zigeunerin zu nennen. Der Zettel ist für Kohlhaas das probate Mittel, sich am Kurfürsten, aufgrund seiner Unterstützung einer korrupten Justiz und für seinen Amnestiebruch; kurz für das an ihm verübte Unrecht zu rächen. Auf diesem Stück Papier werden die Zukunft des sächsischen Kurfürsten und der mögliche Untergang seines Hauses vorausgesagt. Im Besitz dieses Zettels erkennt Kleists Held die Macht, die er damit über den Kurfürsten hat und dass ihm durch diesen die Befriedigung seiner Rachegelüste ermöglicht wird:

[…] Wenn Euer Landesherr käme, und spräche, ich will mich […] vernichten [...] welches […] der größte Wunsch ist, den meine Seele hegt: so würde ich ihm doch den Zettel noch, der ihm mehr wert ist als das Dasein, verweigern und sprechen: du kannst mich auf das Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun, und ich wills!‘[33]

Die große Bedeutung des Zettels, als „papierener Baum“, für den Rachefeldzug Kohlhaas`, wird auch in seinem Gespräch mit der Zigeunerin wiederholt deutlich. Diese rät ihm, den Zettel dem Kurfürst von Sachsen zu überlassen. So könnte er sein Leben verschonen. Daraufhin heißt es in der Erzählung:

Kohlhaas, der über die Macht jauchzte, die ihm gegeben war, seines Feindes Ferse, in dem Augenblick, da sie ihn in den Staub trat, tödlich zu verwunden, antwortete: nicht um die Welt, Mütterchen, nicht um die Welt! […].[34]

Und desweiteren heißt es über den Zettel: „[…] [das] Blatt, durch welches mir für alles, was ich erlitten, auf so wunderbare Weise Genugtuung geworden ist.“[35]

Der Baum in Form des Zettels verdeutlicht wieder die Ambivalenz bezüglich des Handelns Kohlhaas` und seines Charakters. Auch der Baum ist ambivalent, er hat zwei Seiten, die widersprüchlich nebeneinander existieren. Einerseits ist der Baum als Papierstück ein Machtinstrument. Es dient dazu, den Kurfürsten innerhalb des Kohlhaasschen Rachfeldzuges vernichtend zu treffen. Das bestätigt demnach die Beschreibung des Erzählers, der Kohlhaas als „entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ betitelt.[36] Überdies symbolisiert der Schlagbaum eine Grenze, die Kohlhaas bereit ist, seiner Sache willen, zu übertreten. Das heißt, für seine Sache verstößt, er, wenn nötig, gegen geltendes Recht und zahlt einen hohen Preis. Dieser Charakterzug untermauert dann wiederum das Bild des grausamen Rächers, Mordbrenners und ehrlosen Verbrechers. Andererseits dient der Schlagbaum ferner auch als eingrenzendes Ordnungselement. An dieser Grenze wird jedoch, das Ehr-, Recht- und Rachebegehren des Kohlhaas allererst provoziert, da das bestehende Ordnungselement eine ungerechte Begrenzung verkörpert und keine Berechtigung hat. Der Baum, in Form des Zettels, ist hier nun zugleich, neben der Funktion als Machtinstrument, ein Mittel zur Befreiung aus der einengenden Begrenzung und zur Aufhebung der justiziellen Ordnungsstörung – der Rechtsbeugung durch Tronka – das von Kohlhaas genutzt wird. Somit wird hier wiederum Kohlhaas` Charakter als „rechtschaffen[er]" und „außerordentliche[r] Mann“[37] deutlich.

Kohlhaas` Rachebegehren wird überdies nicht nur durch den Baum in seiner Papierform verkörpert, sondern auch in seiner ursprünglichen Form als Gehölz. Als Beispiel ist hier der Wald, als Standort vieler Bäume, zu benennen. Dieser dient Kohlhaas und seiner Bande als Zuflucht und Versteck. Damit wird wiederholt auf das gesetzlose Leben des ehrlosen Verbrechers Kohlhaas hingewiesen, der sein Dasein im Verborgenen und räumlich abgegrenzt von der Gesellschaft verbringen muss.[38] Zudem wird im Gespräch mit Martin Luther die Gewalt, in Form einer Keule – eine Hieb-, Wurf- oder Schlagwaffe, die meist aus Holz besteht – als Mittel der Selbstjustiz und Rache angesprochen:

Verstoßen […] nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich: […] und wer mir ihn [den Rechtschutz] versagt, der stößt mich zu den Wilden der Einöde hinaus; er gibt mir […] die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand.[39]

Hier also ein weiteres Indiz für die Ehrlosigkeit und die Selbstjustiz Kohlhaas`. In diese wird Kleists Protagonist, bedingt durch das ihm von der Justiz versagte Recht, hineingezwungen.

Zu der Eingangsszene bei Michael Kohlhaas steht in spiegelbildlicher Darstellung die Schlussszene von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Christian Wolf wird dreimaliger Wilddieb. Die Strafen steigern sich bis zu drei Jahren Festungshaft. Nach seiner Entlassung schlägt ihm gesellschaftliche Diskriminierung und Verachtung entgegen. Er beschließt von nun an, mit Vorsatz zu wildern. Eines Tages trifft er seinen Konkurrenten Robert im Wald und erschießt ihn. Nach dem Mord trifft er alsbald auf einen Räuber, der ihn mit zu seinen Gefolgsleuten nimmt. Christian Wolf wird Ihr Hauptmann. Nachdem er die Räuberbande, aufgrund unerfüllter persönlicher Erwartungen und Gewissens-bisse, verlassen hat, beschließt er als einfacher Soldat in die Dienste des Königs von Preußen zu treten, um auf diese Weise seine Vergehen zu sühnen.

An der Landesgrenze wird auch er, genau wie Kohlhaas, aufgehalten. Auch hier sitzt ebenso ein Torwächter „[...] vor dem Schlage […].“[40] Analog steht der Schlagbaum hier als Zeichen für das Ehr-, Recht- und Rachbegehren von Christian Wolf. Im Gegensatz zu Kohlhaas nimmt es hier jedoch nicht seinen Beginn, sondern endet hier. Der Torwächter, der „[…] am Schlagbaum grau geworden […] ist, misstraut dem „seltsamen Wandere[r]“.[41] Wolf wird im Gegensatz zu Kohlhaas aber nicht von ihm schikaniert. Der Torwächter hat mit den vielen Jahren Amtszeit einen „Falkenblick des Spürers“ entwickelt und ist zu einem „Physiognomen aller Landstreicher“ geworden.[42]

Von Wolf wird der Pass verlangt. Dieser „papierene Baum“ verfehlt genauso wie bei Kohlhaas seine Wirkung, da er nicht den wahren Namen Wolfs verbürgt; der Pass ist […] von einem geplünderten Kaufmann erbeutet […].“[43] Interessant auch hier wieder die spiegelbildliche Parallele zu Kohlhaas, der als Pferdehändler tatsächlich Kaufmann ist, sich aber als solcher nicht ausweisen kann. Wolf hingegen ist kein Kaufmann, gibt sich aber als solcher aus. Beiden ist gemeinsam, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihre Identität nicht nachweisen können und damit in ihrem Ehrverhalten angezweifelt werden können. Der „Paß“, als Identifikationspapier ist jedoch nicht genug, um „[…] das Orakel am Schlagbaum zu einem Widerruf zu bewegen […].“[44] Indem der Torwächter „[…] seinen Augen mehr als diesem Papiere [dem Pass] […]“[45] glaubt, bestätigt er überdies Wolfs Existenz als Verbrecher. Der Verbrecher gilt als namen- und ehrlos. Bei Schiller ist dies eine Bestätigung für die Laufbahn Wolfs als Verbrecher, die nun beendet ist. Bei Kleist hingegen fungiert dieses als Vorausdeutung auf den Werdegang Kohlhaas, der noch in der Zukunft liegt und am Schlagbaum beginnt.

Nach kurzem, missglücktem Fluchtversuch wird Wolf vom Oberamtmann verhört. Der Oberamtmann begegnet Wolf zunächst mit knappen, pointierten Fragen und einer gewissen Schärfe: „‘Wer seid Ihr?‘ frägt der Richter mit ziemlich brutalem Ton.“[46] Christian verweigert die Aussage. Nach einer Nacht im Turm geht das Verhör am Folgetag weiter. Der Amtmann ändert seine Methode und begegnet Wolf mit „Anstand und Mäßigung“.[47] Das Verhalten des Amtmannes veranlasst Wolf daraufhin, zum eigenen Verräter zu werden. Durch die Freundlich- und Barmherzigkeit des Amtmannes legt Wolf ein Geständnis ab. Wolf sieht in ihm einen „edlen Mann“, der „menschlicher geworden“ ist und den er sich bereits längst gewünscht hat.[48] Der Amtmann, als Vertreter von Justiz und Obrigkeit, begegnet Wolf mit Achtung und bewirkt somit eine Aussöhnung Wolfs mit dem Staat.

Mit dem Aussprechen des eigenen Namens, der Selbstanzeige und der menschlichen Ansprache des Amtmannes erlangt Wolf seinen ehrlichen Namen, d.h. seine Ehre zurück. Dass Wolf durch das Bekenntnis zum eigenen Namen wieder ehrenhaft wird, verweist zudem auf die Beglaubigungsinstanz der Ehre, die der Name verbürgen soll. Damit steht der Amtmann einerseits in Verbindung zu den übrigen Vertretern der Justiz, denen Wolf begegnet. Andererseits steht er damit auch in Kontrast zu ihnen und ferner auch in Opposition zu den Justizrepräsentanten bei Kleists Michael Kohlhaas. Diese begegnen Kohlhaas bereits in der Eingangsszene mit Überheblichkeit und Hohn.

Der Schlagbaum, in Form der papierenen Supplik, einer Bittschrift, die er an den Landesherren richtet, um in seinem Diensten wieder rechtschaffen zu werden, spielt auch bei Wolf eine Rolle. Sowohl Schillers als auch Kleists Held versuchen mit dieser Supplik den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten und ihre Ehre, die bei beiden unterschiedlich stark verletzt ist, wiederherzustellen.

Wie eine Spiegelung zu Kohlhaas Rechtsstreit um seine zwei Rappen, wirkt auch die Beschreibung Wolfs beim Grenzübertritt. Dieser kommt auf einem „hagre[n] Klepper“ angeritten.[49] Er trägt „burleske [...] Kleidung“, die ihn in Verbindung mit seinem Äußeren, dass unter anderem durch den „Schlag eines Pferdes“[50] entstellt ist, furchterregend aussehen lassen.[51] Im Unterschied zu Kohlhaas wird Wolfs Pferd von vornherein als Klepper bezeichnet, was auf ein altes, abgemagertes, krankes Pferd hinweist. Die Rappen des Kohlhaas sind zunächst zwar gesund und kräftig, werden aber bald darauf auch zu heruntergewirtschafteten Mähren. Die Pferde verweisen mit ihrer Nähe zum Helden auch auf den Beginn (Kohlhaas) bzw. das Ende (Wolf) der jeweiligen Verbrecherlaufbahn und das damit verbundene Ehr-, Recht- und Rachebegehren.

[...]


[1] Ott, Michael: Das ungeschriebene Gesetz. Ehre und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur um 1800. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 2001, S. 9.

[2] Die Hervorhebungen des Verfassers beziehen sich auf die gesamte Arbeit und beinhalten alle Werk- und Zeitschriftentitel der aufgeführten Autoren, vorrangig der Titel Kleists und Schillers.

[3] Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse. München: Winkler Verlag 1972, S. 108.

[4] Rautenberg/Hoppe/Dehn: Friedrich Schiller. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Frankfurt/ Main: Hirschgraben Verlag 1982 (= Literatur und Methode), S. 37-40.

[5] Schiller, Friedrich von: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. In: Sämtliche Werke. Bd. V: Erzählungen / Theoretische Schriften. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München: Carl Hanser Verlag 1959, S. 13 – 35., hier: S. 13.

[6] Marsch, Edgar: Kriminalerzählung, S. 109.

[7] Kawa, Rainer: Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Frankfurt am Main: Diesterweg 1990 (= Grundlagen und Gedanken zum Verständnis Erzählender Literatur), S. 5f.

[8] Schiller, Friedrich: Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 13-35, hier: S. 13.

[9] Köpf, Gerhard: Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Geschichtlichkeit, Erzählstrategie und „republikanische Freiheit“ des Lesers. München: R. Oldenbourg Verlag 1978 (= Analysen zur Deutschen Sprache und Literatur), S. 12f.

[10] Kawa, Rainer: Verbrecher – Gedanken zum Verständnis, S. 5 und S. 8.

[11] Köpf, Gerhard: Verbrecher – Analysen zur Deutschen Sprache und Literatur, S. 12f.

[12] Apel, Friedmar (Hrsg.): Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei. Berlin: Wagenbach 1984, S. 13ff.

[13] Hamacher, Bernd: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Stuttgart: Reclam 2003 (= Erläuterungen und Dokumente), S. 50-67.

[14] Kleist, Heinrich von: Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. 2 Bde. Bd. 2: Erzählungen und Anekdoten. 9. verm. u. rev. Aufl. München: Carl Hanser Verlag 1993, S. 9-103, hier: S. 10f.

[15] Ebd., S. 30.

[16] Zunkel, Friedrich: Ehre, Reputation. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Brunner/Conze/ Kosselleck. Bd. 2 (E-G). Stuttgart: Klett Cotta 1979, S. 1-63, hier: S. 2f.

[17] Ott, Michael: Das ungeschriebene Gesetz, S. 23.

[18] Burkhart, Dagmar: Eine Geschichte der Ehre. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 11f.

[19] Burkhart, Dagmar: Ehre. Das symbolische Kapital. München: DTV 2002, S. 14.

[20] Anmerkung des Verfassers: Als Ehrkonflikte werden alle Konflikte betrachtet, die mit Ehre in engem Zusammenhang stehen. Die Ehrverletzung kann dabei sowohl durch verbale Sprechakte also z.B. durch Schimpfworte als auch durch Gesten oder unrechtmäßige Handlungen, von einem selbst oder durch Dritte verursacht werden und somit die Ehrbarkeit einer Person einschränken oder zerstören.

[21] Ott, Michael: Das ungeschriebene Gesetz, S. 127.

[22] Schreiner, Klaus und Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 1995, S. 49.

[23] Ehmann, Horst: Ehre und Recht. Festvortrag vom 22.11.2000 zum 25-jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät der Universität Trier. (http://www-alt.uni-trier.de/~ehmann/ehre.pdf, 17. 7. 2008), S. 2.

[24] Kleist, Heinrich v.: Michael Kohlhaas, S. 9-103, hier: S. 9f.

[25] Ebd., S. 12.

[26] Ebd., S. 10.

[27] Ebd., S. 9.

[28] Ebd., S. 12.

[29] Ebd., S. 11.

[30] Ebd., S. 10.

[31] Ebd., S. 11-14.

[32] Ebd., S. 94.

[33] Ebd., S. 86.

[34] Ebd., S. 97.

[35] Ebd., S. 98.

[36] Ebd., S. 9.

[37] Ebd.

[38] Ebd., S. 36.

[39] Ebd., S. 45.

[40] Schiller, Friedrich: Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 13-35, hier: S. 31.

[41] Ebd., S. 32.

[42] Ebd.

[43] Ebd.

[44] Ebd.

[45] Ebd.

[46] Ebd., S. 33.

[47] Ebd., S. 34.

[48] Ebd., S. 35.

[49] Ebd., S. 31.

[50] Ebd., S. 16.

[51] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Rache und Ehre bei Kleist und Schiller
Untertitel
Auge um Auge
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Deutsche Philologie)
Note
2,00
Autor
Jahr
2008
Seiten
100
Katalognummer
V130772
ISBN (eBook)
9783640360598
ISBN (Buch)
9783640360307
Dateigröße
708 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rache, Ehre, Kleist, Schiller, Michael Kohlhaas, Verbrecher aus verlorener Ehre, Thema Michael Kohlhaas
Arbeit zitieren
Magister Artium Yvonne Holz (Autor:in), 2008, Rache und Ehre bei Kleist und Schiller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130772

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