Identität und Religion - Aspekte eines Zusammenspiels am Beispiel des Sozialisationsprozesses

Entwurf einer Unterrichtseinheit für die gymnasiale Oberstufe


Unterrichtsentwurf, 2009

39 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ansätze zu einer Bestandesaufnahme: theoretischer Teil

3. Bedingungsanalyse: Unterricht
3.1. Strukturelle Rahmenbedingungen
3.2. Die Frage der inhaltlichen Passung
3.3. Richtziele und Lerninhalte
3.4. Didaktische Aufbereitung des Materials
3.4.1. Grundstruktur der Unterrichtseinheit
3.4.2. Inhaltliche Ziele
3.4.3. Zeitliche Organisation
3.4.4. Methoden
3.4.5. Wissens- und Kompetenzerweiterung
3.4.6. Anforderungen und Aufträge an die Schillerinnen und Schiller
3.4.7. Medien und Materialien

4. Literatur

5. Anhang 1-8: Unterrichtsmaterial

1. Einleitung

Die Frage nach der „Identität", eine uralte Menschheitsfrage nach dem Woher, dem Wozu und dem Wohin, wird heute, im Zeitalter von Globalisierung und Pluralismus mit neuer Dringlichkeit gestellt. Dies spiegelt sich nicht nur darin, dass sich die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen (Philosophie, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Theologie, Religionswissenschaft, Politik- und sogar die Wirtschaftswissenschaften) dem Thema aus immer wieder neuen Perspektiven und in immer wieder neuen Kombinationen zuwenden. Allein in den Sozialwissenschaften reicht die Palette von der „ethnischen", der „kulturellen"1, der „politischen"2, der „moralischen" und „religiösen"3 Identität ilber Themen wie „Arbeit und Identität"4, „Identität und Angst"5, „Identität und Institution"6, „Lebenslauf und Identität"7, „Geschichte und Identität"8, „Identität und Pluralismus"9 bis hin zur „Identitätsgesellschaft", die in der westlichen Welt die „Oberlebensgesellschaft"10 abgelöst haben soll. Der Begriff erfährt aber auch in der Alltagswelt eine inflationäre Verwendung, und die Fillle an Literatur und medialen Angeboten unterschiedlichster Couleur, die sich dem Gegenstand „Identität" widmen, ist nicht nur evident, sondern auch unilberblickbar geworden. Im Internet werden zum Thema „Identität finden und leben" Selbstfindungsseminare filr Interessierte angeboten11, die Zeitschrift Facts präsentiert unter dem Titel „Position ist Identität" einen kritischen Artikel zur Oberwachungstechnik12, eine Datenbank sammelt alles zum Thema ethnische Identitäten im Zusammenspiel mit Wirtschaft, Politik und Soziales13, ein Institut filr Identitätsforschung bietet Identitätsgutachten auf Anfrage an14 und verschiedenste Universitäten und Fachhochschulen veröffentlichen ihre Lehrangebote, Forschungsprojekte und Tagungen rund um das Thema15, um nur einige Beispiele zu nennen. „Identität" ist zum Modewort geworden, was das Problem der Begriffsklärung zusätzlich erschwert.

Diese Sachlage macht es ausserordentlich schwierig, sich der Problematik auf eine gute Weise anzunähern, ohne dabei in simplifizierende bzw. verkomplizierende (Re-)Konstruktionen zu verfallen. Im Sinne der Machbarkeit und in Rückbesinnung auf die eigenen fachlichen Kompetenzen soll das Thema hier aus religionswissenschaftlicher Perspektive angegangen werden. Dieser kulturwissenschaftlich orientierte Ansatz, der „Identität" in Zusammenhang mit „Religion" und „Kultur" beleuchtet, rechtfertigt sich auch im Hinblick auf die Rahmenbedingungen dieser Arbeit, die auf eine didaktische Umsetzung der theoretischen Uberlegungen für den Unterricht im Fach „Religion" am kantonalen Gymnasium zielt, wo das Fach in diesem Sinne verstanden sein will.

Nach einem allgemeinen Uberblick über verschiedene Identitätstheorien in Vergangenheit und Gegenwart wird eine Anpassung des Materials an die lebensphasebedingten Fragen der Jugendlichen erfolgen. Die Fokussierung und Einengung der Identitätsthematik auf die (religiose) Sozialisation erscheint darum sinnvoll, weil sich die Schülerinnen und Schüler an der Nahtstelle zwischen Kind-Sein und Erwachsen-Werden auf ganz neue Weise mit dem auseinandersetzen, was ihnen in der Erziehung mitgegeben wurde. Gleichzeitig sind sie herausgefordert, sich - vor dem Hintergrund des Vertrauten - mit alternativen Denk- und Lebensweisen in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

2. Ansätze zu einer Bestandesaufnahme: theoretischer Teil

Der wissenschaftliche Diskurs und die Begrifflichkeiten zur Identitätsproblematik sind stark geprägt vom europäischen und anglo-amerikanischen Kontext. Das Interesse an einer Thematisierung und Erforschung der Identität scheint gerade in den (spät-)modernen Gesellschaften, wo Brüche und Diskontinuitäten zur Standarderfahrung des Individuums wie der Gemeinschaft geworden sind, besonders ausgeprägt zu sein. Es erstaunt darum nicht, dass hier die Identitätskrise bzw. die stabile versus die instabile oder die kohärente versus die fragmentierte Identität immer wieder zum zentralen und dominanten Thema des Identitätsdiskurses gemacht wird. Dabei liegt der Fokus nach wie vor stark, wenn auch nicht ausschliesslich, auf der Identität der Einzelperson, d.h. bei der personalen Identität.16

Nun sei hier die kritische Frage erlaubt, ob die Unterstellung eines universal gfiltigen Identitätsproblems - „identische Probleme der Identität"17 - rechtmässig ist oder ob es darum gehen muss, den methodologischen Gesellschaftszentrismus, d.h. den Bezug auf eine spezifische Kultur und Gesellschaft einzugestehen bzw. als Voraussetzung ffir eine fiberhaupt noch erreichbare „Objektivität" zu einzufordern?18 So wie der Kulturbegriff bzw. die Idee von Kultur als einer abgrenzbaren Sinnwelt als historisch bedingte und auf die westliche Welt begrenzte kulturelle Konstruktion kritisiert wurde, so kann m. E. auch der Identitätsbegriff kritisiert werden. Jedenfalls sollte der Begriff in der Forschungspraxis weder dazu dienen, konzeptuell etwas festzuschreiben, was empirisch genau zu benennen unmoglich ist und auch vermieden wird, noch sollten Problemstellungen und Begrifflichkeiten vorbehaltlose verallgemeinert werden. 19

In den meisten sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepten zum Identitätsbegriff wird die funktionale Differenzierung der Gesellschaft als gegeben vorausgesetzt. Die Diskussion kreist wesentlich um die personale Identität und dort um die Beziehung zwischen den Polen „individuelles Selbstbild" und „gesellschaftlich vorgegebenes Selbstkonzept"20 bzw. zwischen dem „Ich" und den „Anderen", dem „Innen" und „Aussen", dem „Gegebenen" und „Erworbenen" (ascribed - achieved). Mit anderen Worten, das Verhältnis der biologisch-genetischen, historisch-kulturellen und individuellen Anteile der Identität unter- und zueinander prägt den Identitätsdiskurs nach wie vor. Die Frage nach der Determinierung versus der Machbarkeit bleibt nach wie vor aktuell und unbeantwortet.

Um den Diskurshorizont zu erhellen, sei hier ein kurzer Rfickblick in die Wissenschaftsgeschichte erlaubt. Seit den 1950er Jahren - es handelt sich um die Zeit der Nachkriegsjahrzehnte bis in die Gegenwart - haben verschiedene AutorInnen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften die Diskussion nachhaltig geprägt. Es handelt sich um eine Zusammenschau einiger der bedeutendsten Arbeiten. Dabei ist zu beachten, dass die verwendeten Begriffe von AutorIn zu AutorIn unterschiedliche Bedeutungen annehmen können.

Eriskon verstand unter Identität, bezeichnet als „Ich-Identität", einen „spezifischen Zuwachs an Persönlichkeitsreife", den eine Person am Ende ihrer Adoleszenz gegen die phasenspezifische Gefahr der Identitätsdiffusion erwerben muss. Dieser Prozess äussere sich im positiven Fall in einem spezifischen Identitätsgefühl: „Das GefUhl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten."21 Damit thematisierte Erikson die personale Identität als einer subjektiven Verarbeitung biographischer Kontinuität bzw. Diskontinuität und ökologischer Konsistenz bzw. Inkonsistenz durch eine Person vor dem Hintergrund von SelbstansprUchen und von sozialen Erwartungen und setzt voraus, dass das Zustandekommen der „Ich-Identität" nur durch die „Arbeit des Ichs" möglich ist. Die Bildung der „Ich-Identität" kann aber, so Erikson, nur dann gelingen, wenn die personalen Bemöhungen um innere Einheitlichkeit und Kontinuität soziale Bekräftigung finden, d.h. wenn auch andere in „strategischen Akten des ,ErkennensS" die Person als solche akzeptieren und ihr „Funktion und Stand" innerhalb der (Sub-)Gesellschaft zuerkennen.22

Goffman fUhrte in den 1960er Jahren im Anschluss an Mead23 und Erikson eine rollentheoretische Diskussion. In seinem Modell, in dem er zwischen persönlicher, sozialer und Ich-Identität unterschiedet, sieht sich das Individuum der Gegenwart in den verschiedenen Lebensbereichen oder -sektoren, mit ihren je unterschiedlichen Bedingungen, gezwungen zu verschiedenen Rollenübernahmen, wobei es, in der Dialektik zwischen Identifikation und Distanzierung mit den einzelnen Lebensbereichen und ihren Rollenanforderungen die einzelnen Bausteine in der Ich-Identität zu synthetisieren versucht. Goffmans Identitätskonzept weist eine sozialdeterministische Tendenz auf,, d.h. die Einzigartigkeit des Individuums ist letztlich vor allem das Produkt sozialer Erwartungen und Zuschreibungen - sie ist die Verinnerlichung und subjektiv wie reflexive (Re-)komination von sozialen Stereotypen.24

In den 1970er Jahren betonten Krappmann25 und Habermas26 im Unterschied zu Goffman die Verantwortung des Individuums am Prozess der Identitätsbildung. Sie richteten das Augenmerk auf die aktive Konstruktionsleistung des Einzelnen bei der Balancierung der sozialen und personalen Identität und wiesen darauf hin, dass Individualität nicht fiber Rollendistanz gegentiber dem sozial Vorgegebenen, sondern erst mittels einer biographischen Dimension möglich werde. In der Rekonstruktion des Lebenslaufes - vor allem durch Sprache bzw. Kommunikation - verschaffe sich das Individuum eine Idee und einen Zugang zu seiner Individualität, personale Identität sei darum letztlich ein kognitives Konstrukt. Geht man aber von einer gelungenen Identitätsbildung aus, so ordnet das Individuum gemachte Erfahrungen mit diversen GesprächspartnerInnen zu einer möglichst konstanten Biographie, die ihm so beständigere Handlungsorientierungen verschafft. Es entwickelt sich eine Identität, die sich von der Identität anderer Menschen unterscheidet. Die Ausbildung einer individuellen Identität ist folglich das Ergebnis vieler Interaktionsprozesse, die miteinander verknilpft wurden und so ein beständiges Bild von Identität vermitteln. Dieses Selbstbild von Identität, das der Mensch durch seine Leistung erworben hat, versucht er nun in den auftretenden Interaktionssituationen aufrecht zu erhalten. Immer neu kombiniert das Individuum die bereits verarbeiteten vorangegangenen Kommunikationssituationen mit den in der momentanen Situation auftretenden Erwartungen und setzt sich zu dem Ganzen in Distanz. Die Autoren bewerteten diese Identitätsarbeit in optimistischer Weise und folgerten fur das Individuum einen Freiheitsgewinn.27

In den 1980er Jahren fand die Trendwende zu individualisierungstheoretischen Modellen vollends statt. Identität wurde vor dem Hintergrund der Individualisierungsthese durch die postmodernen Rekonstruktivisten (Beck28, Beck-Gernsheim29 ) unter den Aspekten von Autonomie und Einmaligkeit (Differenz) diskutiert. Die Frage der Zugehörigkeit wurde ausgeblendet, die Identitätsbildung in der Tradition des liberalistischen Menschenbildes, das den einzelnen Menschen als autonomes, ungebundenes Selbst beschreibt, in optimistischer Weise als ein gelingendes, erfolgreiches Unterfangen des Subjekts verstanden (Gergen30, Giddens31, Schimank32 ).

Dieses Konstrukt einer individualistischen Reduktion des Identitätsbegriffs unter Ausblendung der Notwendigkeit sozialer Einbindung und Zugehörigkeit wurde als zeitdiagnostisch gerechtfertigt verteidigt: Als Modell fur die Erfassung des Ubergangs von modernen zu postmodernen Denk- und Lebensweisen fange es das postmoderne Programm des Nebeneinanders und Gleichzeitigen ein, ohne weiteren Anspruch auf Einheit, Dauerhaftigkeit und Bindung. Die daraus resultierende Zunahme der Beliebigkeit und Belanglosigkeit bzw. Indifferenz werde vom Individuum mittels Design und Selbststilisierung kompensiert. Der Verlust an Orientierung und Sicherheit werde durch eine stärkere Aufladung der „kleinen Erzählungen" ausgeglichen, weil die „grosse Erzählung" mehr und mehr ausbleibe.33 Damit sind Stellenwert und Funktion der Gemeinschaft fur die Identitätsbildung des Individuums auf ein Minimum zusammengeschrumpft und mit dem in der Geschichte einzigartigen Prozess der Modernisierung begriindet: Insbesondere in der postmodernen Gesellschaft, geprägt von Prozessen der Deinstitutionalisierung, Enttraditionalisierung und Privatisierung, sei die soziale Bindungsfähigkeit und dauerhafte Verbindlichkeit des Einzelnen gegentiber der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft einer Freiwilligkeit und Freiheit gewichen. Zugehörigkeit sei eine Sache individueller Präferenzen und Loyalitäten geworden und erfolge nur noch auf Zeit. Die VertreterInnen dieser Identitätstheorie gestehen auch der Religion, insbesondere dem Christentum in seiner institutionalisierten Erscheinungsform, keine bedeutende Funktion mehr zu, denn die Umstände der Einzelnen warden immer differenzierter und unvergleichbarer, so dass die Angebote religiöser Art mit den Problemen der Individuen nicht mehr länger korrespondierten. Zudem nehme die Konkurrenz alternativer Weltdeutungen zu, die traditionelle Religion verliere an Plausibilität und vermöge allenfalls noch die Verlorenheit und Standortlosigkeit angesichts des einst Geltenden zu artikulieren. Eine relevante Möglichkeit zur Anschlussbildung im Alltag könne sie jedoch nicht mehr liefern und könne sich deshalb sogar destabilisierend auf die Identitätsbildung auswirken.34 Diese negative Schau der Dinge erfolgt vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Uberlegungen und nicht wie bei Freud aus psychoanalytischer Perspektive.

Aus diesen Beobachtungen und theoretischen Uberlegungen entstanden die soziologischen Modelle der „Wahlbiographie"35, der „Bastelbiographie"36 und der „Patch-Work-Identität"37, die aus der Perspektive einer „lebenslänglichen Arbeit an der eigenen Biographie und der Suche nach Sinn und Identität" sowie der „wechselnden Stile und Inszenierungsweisen38 heraus zu verstehen sind. 39

Den erwähnten Optimismus, der aus diesen Identitätsmodellen spricht, teilte Hahn40 schon in den 1970er Jahren nicht, sah er doch in der primär funktional differenzierten Gesellschaft grosse Probleme für eine stabile, synthetisierende Identitätskonstruktion. Den postulierten Freiraum für die Eigeninitiative des Individuums, d.h. für seine Selbstbeschreibung und Selbst-Thematisierung sah er in der modernen Gesellschaft nicht gegeben. Im Gegenteil, diese schaffe die ausweglose Identitätskrise geradezu. Hahn und Nunner-Winkler41 zeigten sich angesichts der zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen und der zunehmenden Individualisierung der Biographien bezüglich der Identitätsbalance skeptisch, weil verbindlich gültige Orientierungs- und Deutungsschemata zunehmend fehlten. Auch sie sahen in der „Religion" kein Identitätspotential mehr, da diese von ihrer Natur her, so die Autoren, der modernen Lebensweise zuwider laufe und keine plausiblen und praktikablen Lebensentwürfe mehr zu bieten habe.

Die Kritik an den optimistischen individualisierungstheoretischen Konzepten wuchs und konzentrierte sich auf die Prämisse, es gebe so etwas wie ein unabhängiges, autonomes Individuum. Diese Annahme bzw. dieses Postulat stellten die Kritiker als eine kognitive Konstruktion bzw. Ideologie in Abrede, denn das Individuum würde in einer radikal relativierten und beliebigen Welt hoffnungslos überfordert sein.42 Die Diskussion löste eine breite Auseinandersetzung mit den der Identitätsdebatte zu Grunde liegenden modernisierungstheoretischen Gesellschaftsmodellen aus. So kritisiert etwa der deutsche Soziologie Richard Münch immer wieder den „Mythos der funktionalen Differenzierung".43 Nicht funktionale Differenzierung und rigorose Separation in verschiedene Teilordnungen mit entsprechenden Leitsätzen sei das grundlegende Strukturmerkmal unserer Gesellschaft, argumentiert Münch in Anlehnung an Talcott Parson, sondern die Interpenetration, die wechselseitige Durchdringung der verschiedenen Lebensbereiche. Interpenetration gilt, so betrachtet, als Voraussetzung und als Folge der funktionalen Differenzierung einer Gesellschaft und liefert, nach Ansicht ihrer Vertreter, ein Modell zur Erklärung von Konsistenz und Stabilität als auch von Unbeständigkeit und Instabilität. Diese Diskussion über die Beschaffenheit und die inneren Strukturen der spätmodernen Gesellschaft ist auch für die Identitätsdebatte relevant, dort, wo es um die Fragen der Beziehung zwischen Gemeinschaft und Individuum oder um das Zusammenspiel der Teilbereiche der Gesellschaft untereinander geht. Die Problematik der Sozialisierung (Tradierung, Individualisierung, Wahlfreiheit etc.) wird dabei ebenso ins Blickfeld gerückt wie die Frage nach der Funktion der „Religion", der von modernisierungstheoretischer Seite her in der (spät-)modernen Gesellschaft höchstens noch ein Nischendasein zugebilligt wird, die aber als Sinn- und Identitätsangebot zunehmend obsolet werde.44

Das interpenetristische Gesellschaftsmodell hat auch der Kommunitarismus aufgenommen, dessen VertreterInnen eine Sozialtheorie45 präsentieren, die Grundlagen auch für identitätstheoretische Uberlegungen liefert: In einer Art Kurskorrektur prangern die Kommunitarier die liberalistische Form des Individualismus an und führen gegen Isolation, Vereinzelung und Konkurrenz das Prinzip der Gemeinschaft und der Solidarität wieder ins Feld. Der Kommunitarismus ist ein idealtypisches Gesellschaftsmodell mit einer überwiegend ethischen und häufig auch normativen Stossrichtung. Das Selbst, das Gute und die Gemeinschaft stehen hier in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis.46 Das Selbst definiert sich in diesem Modell über die Gemeinschaft, ohne aber in der Gemeinschaft unterzugehen oder aufzugehen. Dieses sozial eingebettete Selbst bindet sich, ohne in dieser Verbundenheit und Verbindlichkeit seine Individualität aufzugeben. Die Individualität findet in der Gemeinschaft statt, d.h. Gemeinschaftsbindung und Individualität sind in diesem Modell genuin aufeinander bezogen. Ein atomistischer Individualismus, der die Gemeinschaft nur instrumentalisiert, gefährde im Endeffekt das Individuum und dessen Identität, heisst es etwa bei Taylor.47

[...]


1 Bell, w. und Freemann, W . (Hrsg.) : Ethnicity and Nation-Building. Comparative, International and Historical Perspectives. Beverly Hills, Calif. 1974; Epstein, A.L., Ethnos and Identity. Three Studies in Ethnicity. London 1978.

2 Gellner, E. : Culture, Identity and Politics. Cambridge 1987.

3 Mol, H.: Identity and the Sacred. A sketch for a new social-scientific theory of religion. Oxford 1976 ; ders.: Identity and Religion. International Cross-Cultural Approaches. London 1978.

4 Tatschumrat, C.: Arbeit und Identität. Zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen und weiblicher Identitätsfindung. Frankfurt 1980.

5 Stein, M. u.a. (Hrsg.): Identity and Anxiety. Glencoe 1960

6 Dubiel, H.: Identität und Institution. Studien ilber moderne Sozialphilosophien. Guterloh 1973.

7 Erikson, E.H.: Identität und Lebenszyklus (1959). Frankfurt 1966; ders.: Identity, Youth and Crisis. New York 1968; Leitner, H.: Lebenslauf und Identität. Die kulturelle Konstruktion von Zeit in der Biographie. Frankfurt a. M. / New York 1982.

8 Angehrn, E.: Geschichte und Identität. New York 1985

9 Thurlings, J.M.G.: Identity and Pluralism: A Case Study. In: Mol, H. (Hrsg.): Identity and Religion. International Cross-Cultural Approaches. London 1978

10 Glasser, W.: Identität und Gesellschaft. Weinheim / Basel 1974.

11 www.lebensberatung-rj.ch

12 http://facts.ch/articles/2262523-position-ist-identitat

13 http://www.archiv3.org/suche_seitenr_39_Identit%E4t.htm

14 http://www.identitaetsforschung-ifi.de/ifiziel.html

15 Vgl. http://www.religionswissenschaft.info/2008/09/18/symposium-religion-und-identitaet-hannover; http://www.socio09.org/CfP_Schule_Bildung.pdf; http://vv.zhdk.ch/veranstaltungs/pdf/6180806; http://www.forschungsportal.ch/unizh/p9517.htm

16 In der Debatte um die personale Identität wird die Frage behandelt, was unsere Identität ausmacht. Das zentrale Problem der Debatte lautet: woran machen wir unsere Identität eigentlich fest? An unserem Gedächtnis? An unserem Bewusstsein? An etwas Sozialem oder schlicht an unserer Biologie? Bei Personaler Identität spricht man von dem Phänomen, dass man sich selbst trotz sich ändernder Lebensbedingungen über die Zeit und in verschiedenen Zusammenhängen und Situationen als der- bzw. dieselbe wahrnimmt. Man betont damit die Einzigartigkeit und die Unterschiedlichkeit der Individuen. Die Personale Identität wird als Eigentum einer Person angesehen. Mitunter wird personale Identität als Summe der Repräsentationen und Beliefs einer Person über ihre Einzigartigkeit als einmaliges Individuum definiert. Dabei gelten die individuelle und die soziale Identität als die beiden Pole der personalen Identität. Die Kulturanthropologie, beeinflusst von der Psychologie und Soziologie16, unterschiedet zwischen vier Aspekten oder Komponenten personaler Identität:

1. Selbst-Identität (self-identity) als den Vorstellungen, welche die Person hinsichtlich ihrer physischen Erscheinung, ihres sozialen Status usw. von sich selbst hat.
2. Persönliche Identität als der Sichtweise einer Person fiber das, was sie gegenfiber anderen einzigartig macht.
3. Soziale Identität als den Vorstellungen einer Person darfiber, wie andere sie sehen und beurteilen.
4. Offentliche Identität als der Art und Weise, wie die Person von anderen tatsächlich wahrgenommen und beurteilt wird. Estel, S. 200

Vgl. Hewitt, John P.: Self and society: A symbolic interactionist social psychology, 9. Auflage. Boston 2002; Hausser K.: „Identität". In: Endruweit, G. und Trommsdorff, G. (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1989, S. 279-281; http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t; http://perso.uni-lueneburg.de/index.php?id=162 (23. 06. 2009).

17 Gebhart, Werner: Religion und Identität. Frankfurt A. M. 1999, S. 233.

18 Gabriel, Karl: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne. Freiburg, 1992.

19 Wagner, Peter: „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion fiber Identität". In: Assmann, Aleida und Heidrun Friese (Hrsg.). Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität. Frankfurt a. M. 1998, S. 44­72, hier: S. 45 und 72. Ebd. Kohl, Karl-Heinz: „Ethnizität und Tradition aus ethnologischer Sicht", S. 269-287; Barth, Fredrik (Hrsg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Difference. Bergen 1969.

20 Bernd, Estel: Identität. In: Canick, H., Gladigow, B. und Kohl, K.-H.: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. III. Stuttgart/Berlin/Köln, 1993, S. 193-210, hier S. 195.

21 Erikson, E.H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1966, S. 107, 138 und 210.

22 Ebd., S. 107, 138 und 210.

23 Mead, G.-H.: Mind, Self, and Society. Edited by Charles W. Morris. Chicago 1934. (Deutsche Ubersetzung: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1968.)

24 Goffman, E.: The Presentation of the Self in Everyday Life, 1959; ders.: Characteristics of Total Insitutions. In: Stein, M. u.a. (Hg.): Identity and Anxiety. Glencoe 1960, S. 449-479; ders.: Stigma. Uber Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Berkeley 1963.

25 Krappmann, L.: Soziologische Dimension der Identität, 1969.

26 Habermas, J., Kultur und Kritik, 1973.

27 Estel, Bernd: „Identität". In: Cancik, Hubert, Gladigow, Burkhard und Kohl, Karl-Heinz (Hrsg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. III. Stuttgart / Berlin / Köln 1993, S. 197ff.; http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t

28 Beck, U., Jenseits von Klasse und Stand?, in: Kreckel, R. (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, 1983, S. 35-74.

29 Beck-Gernsheim, E., Vom ,Dasein fur Andere' zum Anspruch auf ein Stck ,eigenes Leben', in: Soziale Welt (1983), S. 307-340.307-340.

30 Gergen, K. J., The saturated self. Dilemmas of identity in contemporary life. New York, 1991; Gergen, K. J. und Gergen, M. M., „Narrative and the self as relationship2: in: Berkowitz, L. (Hrsg.), Addvances in experimental social psychology, New York 1988, S. 17-56.

31 Giddens, A., Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, 1991.

32 Schimank, U., „Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus. Zum Entsprechensverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform", in: Soziale Welt, 36, S. 447-465.

33 Hettlage, Robert und Ludgera Vogt (Hg.): Identitäten in der modernen Welt. Wiesbaden 2000, S. 31.

34 Schimank, U.: „Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus. Zum Entsprechensverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform". In: Soziale Welt, Bd. 36, 1985, S. 447-465, hier S. 460f. Schimank postuliert die personale Selbststeuerungsfähigkeit und Lernbereitschaft anstatt einer ergebenen Gottgefälligkeit.

35 Ley 1992, s. 141

36 Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1994.; Hitzler, Ronald und Anne Honer: „Bastelexistenz". In: Beck, Ulrich und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt a. M. 1994

37 Keupp, H., Ahbe, T., Gmör, W., Höfer, R., Kraus, W., Mitzscherlich, B. und Straus, F: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek 1999.

38 Gabriel, Karl: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne. Freiburg, 1992, S. 141.

39 Vgl. Hitzler, Ronald: „Verführung statt Verpflichtung. Die neuen Gemeinschaften der Existenzbastler". In: Honeggger, Claudia, S. Hradil und F. Traxter (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft?, 29. Kongress der DGS, Bd. 1. Opladen 1999, S. 223-233.

40 Hahn, A.: Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am. M. 1974; Hahn, A. und Willems, H.: „Modernität und Identität", in: Sociologia Internationalis, 34, S. 199-226. Knoblauch, Hubert: „leder sich selbst sein Gott in der Welt". Subjektivierung, Spiritualität und der Markt der Religionen", In: Hettlage, Robert und Ludgera Vogt (Hg.): Identitäten in der modernen Welt. Wiesbaden 2000, S. 201­216.

41 Nummer-Winkler, G.: „Identität und Individualität", in: Soziale Welt, 34, S. 466-482; diess.. „Identitätskrise ohne Lösung: Wiederholungskrisen, Dauerkrise", in: Frey, H.-P. und Hausser, K. (Hg.): Identität: Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung. Stuttgart 1987, S. 165-178. Döbert, R. und Nummer-Winkler, G. (Hg.): Entwicklung des Ichs. Köln 1977.

42 Wippermann, Carsten: Religion, Identität und Lebensführung. Opladen 1998, , S.35

43 Münch, Richard: Dialektik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1991, S. 375

44 Vgl. Wippermann, Carsten: Religion, Identität und Lebensführung. Opladen 1998, S. 19ff, 78.

45 Vgl. Bellah, Robert N. et al.: Habits of the Heart : Individualism and Commitment in American Life, University of California Press 198.5

46 Wippermann, Carsten: Religion, Identität und Lebensführung. Opladen 1998, S. 88.

47 Taylor, Charles: Negative Freiheit, 3. Auflage. Frankfurt a. M. 1999, S. 9-51.

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Details

Titel
Identität und Religion - Aspekte eines Zusammenspiels am Beispiel des Sozialisationsprozesses
Untertitel
Entwurf einer Unterrichtseinheit für die gymnasiale Oberstufe
Hochschule
Universität Zürich
Autor
Jahr
2009
Seiten
39
Katalognummer
V130448
ISBN (eBook)
9783640366965
ISBN (Buch)
9783640366880
Dateigröße
904 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Identität, Religion, Aspekte, Zusammenspiels, Beispiel, Sozialisationsprozesses, Entwurf, Unterrichtseinheit, Oberstufe
Arbeit zitieren
Eva Baumann-Neuhaus (Autor:in), 2009, Identität und Religion - Aspekte eines Zusammenspiels am Beispiel des Sozialisationsprozesses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130448

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