Entwicklungslinien in der Heimerziehung nach 1945


Vordiplomarbeit, 2004

38 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Geschichte der Heimerziehung vor 1945

3. Zentrale Entwicklungslinien in der Heimerziehung

4. Die Situation um 1945

5. Reformbestrebungen nach 1945
5.1. Familienerziehung nach Mehringer
5.2. Kritik an Mehringer
5.3. Familienprinzip in Kinderdörfern

6. Probleme der Heimerziehung in den 60er Jahren

7. Die Heimkampagne
7.1. Voraussetzungen für die Entstehung der Heimkampagne
7.2. Reformbedarf in der Heimerziehung
7.3. Aktionen während der Heimkampagne
7.4. Vorwürfe gegen die Heimerziehung
7.5. Die Staffelbergkampagne
7.6. Probleme in Frankfurt und die Jugendwohnkollektiven

8. Von der Heimkampagne zur Reformdiskussion
8.1. Die „sozialistische Aktion“
8.2. Reaktion der Behörden und Verbände
8.3. Empfehlungen zur Heimerziehung des Beirates in Hessen

9. Von der Reformdiskussion zur Wiedereinführung geschlossener Unterbringung
9.1. Voraussetzungen für die Forderung nach geschlossener Unterbringung
9.2. Argumente für und gegen geschlossene Unterbringung
9.3. Alternativen zur geschlossenen Unterbringung

10. Die Hamburger Heimreform
10.1. Gesellschaftlicher Kontext in den 80er Jahren
10.2. Die Leitprinzipien der Heimreform
10.3. Kritik an der Heimreform
10.4. Ergebnisse der Heimreform
10.5. Grenzen (der Reformen) der Heimerziehung

11. Heimerziehung in den 90er Jahren
11.1. Allgemeine Entwicklungen
11.2. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz
11.3. Erziehungshilfen im KJHG
11.4. Heimerziehung in Kontext des KJHG

12. Heimerziehung heute

13. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Wenn wir die Feinheiten und Elaboriertheiten akademischer Sprache beiseite lassen, dann müssen wir feststellen, dass Heimerziehung immer dann, ’wenn es nicht mehr geht’ – dem einen zur Entlastung, dem anderen zur Drohung – zur Verfügung stehen muß [!]. Dies verweist auf die gesellschaftliche Funktion von Heimerziehung und den Beitrag, den sie zur sozialen Kontrolle leistet.“ (Peters 1991, S.1)

Mit diesen Worten leitet Friedhelm Peters sein Buch „Jenseits von Familie und Anstalt“ ein und gibt damit ebenfalls die Meinung einer breiten Öffentlichkeit wieder, wenn es um das Thema der Heimerziehung geht.

In den Köpfen der meisten Menschen gilt die Heimerziehung immer noch als der letzte Ausweg, den man für Kinder und Jugendliche finden kann, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien leben können. Sie wird dabei aber eher als Strafe verstanden und nicht als Chance für ein neues Leben, die den Kindern geboten wird. Dieses Negativbild der Heimerziehung hat sich aus der Realität der Heimerziehung früherer Zeiten entwickelt und hatte zu dieser Zeit auch seine Berechtigung. Nun ist aber zu fragen, ob dieses Negativbild, mit dem auch die heutige Heimerziehung meist noch belastet ist, auch heute noch seine Berechtigung hat oder ob es nur noch ein Überbleibsel aus alten Zeiten ist und mit der aktuellen Heimerziehung nichts mehr zu tun hat.

Ziel meiner Arbeit ist es, die Entwicklung in der Heimerziehung seit 1945 darzustellen. Zuerst werde ich dazu kurz die Geschichte der Heimerziehung von ihrem Beginn an bis zum Ende des 2. Weltkrieges 1945 beschreiben, um somit ein Verständnis für die Lage zu entwickeln, der sich die Heimerziehung nach dem Krieg zu stellen hatte. Danach werde ich kurz die zentralen Entwicklungslinien in der gesamten Heimerziehung nennen, definieren und erklären, um die wichtigsten Begriffe inhaltlich zu klären. Im Anschluss daran folgt eine Darstellung der Situation der Heimerziehung bei Kriegsende, sowie erste Reformbestrebungen nach 1945. Weiterhin werde ich die Heimkampagne der 60er und 70er Jahre ausführlich darstellen, wie auch die daran anschließenden Reformdiskussionen und die Hamburger Heimreform der 80er Jahre. Danach werde ich die neueren Entwicklungen in der Heimerziehung in den 90er Jahren beschreiben, wobei der Schwerpunkt auf dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz liegen wird. Abschließend möchte ich den aktuellen Stand der Entwicklungen der Heimerziehung festhalten und somit zu überprüfen, ob das allgemeine Negativimage der Heimerziehung noch gerechtfertig ist oder ob sich die Heimerziehung nicht inzwischen in eine positive Lebensalternative für Kinder und Jugendliche gewandelt hat, die nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben können.

2. Geschichte der Heimerziehung vor 1945

Das Thema dieser Arbeit lautet „Entwicklungslinien in der Heimerziehung nach 1945“. Um diese Entwicklungen komplett verstehen und nachvollziehen zu können, ist es notwendig, ebenso die Entwicklungen in der Heimerziehung, die vor 1945 stattfanden, im Auge zu haben. Deshalb werde ich nun im voraus die Geschichte der Heimerziehung vor 1945 kurz in ihren zentralen Aspekten und Entwicklungen darstellen und somit versuchen, ein möglichst abgerundetes Bild ihrer Entstehungsgeschichte herzustellen.

Die Entstehungsgeschichte der Heimerziehung geht zurück bis ins Mittelalter, als erstmals organisatorische Differenzierungen für die Versorgung von elternlosen Kindern auftraten. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden solche Kinder nur durch Verwandte versorgt. War keine Verwandtschaft zu finden, mussten sie von der Gemeinde mitversorgt werden, sonst gingen sie zu Grunde. Hospitale galten damals als universelle Fürsorgeeinrichtungen, sowohl für kranke und alte Menschen, als auch für elternlose Kinder. Die zunehmende Ausbreitung von Krankheiten und Epidemien in den Hospitälern machte zum ersten Mal eine spezielle Differenzierung notwendig. Es entstanden Findelhäuser, Klosterschulen und Armenhäuser, welche den Kindern eine anstaltsmäßige Unterbringung boten, die kaum erzieherische Komponenten hatte. Der vorrangige Zweck dieser Unterbringung war es, die Kinder am Leben zu erhalten und sie zu Arbeitsamkeit, Gottesfurcht und Demut hinzuführen (vgl. Günder 2003, S.12).

Die ersten Waisenanstalten in Deutschland entstanden im 16. Jahrhundert in den Reichsstädten, wie zum Beispiel 1546 in Lübeck, 1567 in Hamburg, 1572 in Augsburg und 1698 die Halleschen Anstalten unter August Herrmann Francke. Diese Anstalten verfolgten eine strenge, pietistisch geprägte Erziehung, welche besonderen Wert auf die Strenge und Disziplin des täglichen Lebens legte. Während des 30-jährigen Krieges wurden die Anstalten mit Kindern überflutet, so dass eine Massenunterbringung der Kinder notwendig wurde, welche für die schlechten Zustände in den Anstalten verantwortlich zu machen ist (vgl. ebd., S.13).

Gegen Ende des 18.Jahrhunderts entbrannten Diskussionen darüber, ob Waisenanstalten oder die Unterbringung in den Familien besser sei. Die Unterbringung der elternlosen Kinder in Familien war schlecht für die Kinder, da sie dort als billige Arbeitskräfte in Haus und Hof missbraucht wurden und kaum oder gar keine Bildung und Erziehung erhielten. Die schlechten Zustände in den Anstalten, sowie ökonomische Gründe sprachen allerdings gegen die Waisenanstalten. Die Unterbringung von Kindern in Waisenanstalten war ungefähr dreimal so teuer wie die in Familien. Als Folge davon wurde an verschiedenen Orten die Waisenverteilung eingeführt. Erfolge hiervon waren die dadurch erzielten Ersparnisse und eine geringere Mortalität unter den Kindern, aber es gab nicht genug taugliche Familien für die vielen elternlosen Kinder (vgl. ebd., S.13/14)

Zeitgleich richtete sich der „Waisenhausstreit“ gegen die unhygienischen und gesundheitsgefährdenden Zustände und gegen die inhumane Behandlung der Kinder in den Anstalten. Es entstanden erste Sonderanstalten für Kinder mit besonderen Erziehungsbedürfnissen und ein allgemeiner Pädagogikanspruch an die besondere Lebens-, Lern- und Entwicklungsphase der Kindheit setzte sich durch (vgl. Hansbauer 1999, S.29/30).

Mit dem Beginn der Aufklärung vollzog sich eine allgemeine Veränderung in der Betrachtung des Wertes der Kindheit und einer kinderorientierten Erziehung, welche besonders von Pestalozzi und Rousseau angeführt wurde. Pädagogische Ideen in Institutionen für elternlose Kinder wurden erstmals in größerem Umfang bedeutsam. 1798 gründete Pestalozzi sein Armen-Erziehungshaus in Stanz, in dem erstmals nicht mehr Strenge, Zucht und Ordnung, sondern die Liebe zu den Kindern grundlegend für den Umgang mit diesen war. Die Prinzipien der Erziehung, die Pestalozzi in seiner Anstalt verfolgte, waren die „Wohnstubenerziehung“ und das Familienprinzip (vgl. Günder 2003, S.15).

Im 19. Jahrhundert zeichnete sich durch die politisch und ökonomisch schlechte Lage in Deutschland nach den Befreiungskriegen ein Rückzug der staatlichen Organe aus der öffentlichen Fürsorge ab, welcher die Verwahrlosung und Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten und besonders der Kinder zur Folge hatte. Als Reaktion darauf nahmen die privaten und religiösen Hilfsorganisationen zu. Im Zuge der „Rettungshausbewegung“ entstanden so viele Rettungshäuser, um die leidenden Kinder aufzunehmen (vgl. Hansbauer 1999, S.33). Diese Rettungshäuser hatten zwei zentrale Zielsetzungen. Zum einen wollten sie das Seelenheil der verwaisten Kinder durch religiöse Bildung und Hinführung zu Gott retten und zum anderen wollten sie die elternlosen Kinder zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft machen. Der bekannteste Vertreter dieser Bewegung war Johann Heinrich Wiechern, der 1833 das „Rauhe Haus“ in Hamburg gründete, welches auf den Prinzipien des christlichen Lebens, der Liebe und der Vergebung beruhte. Weitere Mittel der Rettungshäuser waren eine selbstbestimmte Ordnung und nützliche Beschäftigung, „der fleißige Gebrauch des göttlichen Wortes“ (Günder 2003, S.16), das Bemühen, im Herzen der Kinder Liebe zu entwickeln, sowie ein gemütliches, familiäres Zusammenwohnen (vgl. ebd., S.15/16). Diese Prinzipien setzten sich allerdings nicht durch. Die Erziehung in einem Münchener Waisenhaus 1908 zum Beispiel, war gekennzeichnet durch eine von den Kindern abverlangte ehrerbietige Haltung den Erziehern gegenüber, sowie durch Strenge, Strafen, Schweigen und Briefzensur (vgl. ebd., S.17).

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde erstmalig der Begriff „Heim“ üblich. Vorher sprach man von Institutionen für elternlose Kinder nur als:

- „Besserungs- und Corrigendenanstalt
- Rettungshaus und Rettungsanstalt
- Zwangserziehungsanstalt
- Fürsorgeerziehungsanstalt
- Erziehungsanstalt
- Jugendschutzlager/ Konzentrationslager für Jugendliche/ Arbeitslager für Fürsorgezöglinge“ (Schrapper/ Heckes 1986, S.1f, In: Günder 2003, S.17).

Während der Zeit des 3. Reiches waren alle Kinder und Jugendlichen massiven ideologischen Erziehungsgewalten außerhalb der eigenen Familie ausgesetzt. Die öffentliche Erziehung wurde statt einer Ersatzerziehung im Notfall zu einer staatspolitischen Pflichtaufgabe. Richtlinien für die Fremdunterbringung von elternlosen Kindern war die Frage nach der voraussichtlichen Nützlichkeit der Hilfe für den Einzelnen für den NS-Staat. Weiterhin wurden die Hilfsbedürftigen nach rassistischen Merkmalen und ihrem Wert für die Volksgemeinschaft aufgeteilt (vgl. Günder 2003, S.17/18).

3. Zentrale Entwicklungslinien in der Heimerziehung

Die gesamte Entwicklung der Heimerziehung nach 1945 ist mehr oder weniger durchgängig gekennzeichnet durch die zentralen Entwicklungslinien der Dezentralisierung, Entinstitutionalisierung, Entspezialisierung, Regionalisierung, Professionalisierung und Individualisierung. In seinem Buch „Entwicklungen in der Heimerziehung“ definiert und beschreibt Klaus Wolf diese Entwicklungslinien sehr ausführlich. Diese Beschreibungen werde ich hier möglichst komprimiert wiedergeben, bevor ich zu den einzelnen und speziellen Entwicklungen und Veränderungen in der Heimerziehung komme, die sich in den Jahren nach 1945 vollzogen haben.

Unter Dezentralisierung versteht man die „Verteilung von (ursprünglich zentralisierten) Funktionen, Autoritäten, Einflüssen, Wohnverhältnissen usw. auf mehrere Zentren“ (Hartfiel 1972, S.125, In: Wolf 1993, S.14). Die Dezentralisierung tritt als organisatorische Veränderung in der Heimerziehung seit Beginn der 70er Jahre auf und umfasst die Verlagerung von Gruppen nach außerhalb, die Auflösung zentraler Versorgungseinrichtungen, sowie die Verlagerung von Kompetenzen auf Mitarbeiter kleinerer Einheiten. Probleme, welche durch die Dezentralisierung gelöst werden sollen, sind Folgen der Anstaltserziehung, wie zum Beispiel Unselbständigkeit, Stigmatisierung, das Abrutschen in Subkultur und Hierarchie (vgl. Wolf 1993, S.16).

„Entinstitutionalisierung wird in unserem Zusammenhang deutlich durch die weitgehende Aufhebung arbeitsteiliger Organisation, durch flexible, von den Pädagogen und den Kindern beeinflusste Regeln und eine flexible Nutzung der Ressourcen.“ (Wolf 1993, S.31) Die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, die in Anstalten leben, sind in sehr hohem Maße durch die Eigenheiten der Großorganisation bestimmt. Diese sind zum Beispiel Anstaltserziehung, hochformalisierte Regelanwendung und komplexe Hierarchien. Hierbei bezieht sich die Arbeitsteilung insbesondere auf die Trennung zwischen hauswirtschaftlichen, therapeutischen und pädagogischen Funktionen, sowie noch auf weiter innere Teilungen. Die strikte Regelanwendung der Mitarbeiter in großen Anstalten wird zum größten Teil verursacht durch die mangelnde Anpassungsfähigkeit und Innovationsschwäche der Erzieher. Die Regeln werden von den Erziehern zum Teil so strikt nach Anweisung und ohne Anpassung an die spezifischen Situationen angewandt, dass dies bis zur Eskalation führen kann und dann neue Regeln entwickelt werden müssen, die dann wieder einfach angewandt werden können (vgl. ebd., S.25/26).

Die Entwicklungslinie der Entspezialisierung ist zu unterscheiden, in die Entspezialisierung innerhalb der Einrichtung, worunter man „...die Reduzierung, letztlich die Abschaffung gruppenergänzender Dienste...“ (Wolf 1993, S.32) (wie zum Beispiel hauswirtschaftlicher oder therapeutischer Dienste) versteht, und die Entspezialisierung zwischen den verschiedenen Einrichtungen, was „...die Abschaffung der Spezialisierung in der Zuständigkeit der Heime für bestimmte Gruppen von Kindern“ (ebd.) meint.

Die Regionalisierung setzt darauf, Kinder möglichst in der Nähe ihres bisherigen Lebensortes unterzubringen und ihnen so die Möglichkeit zu bieten, die gewonnenen sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten und ihre Identität weiterhin in der gewohnten Umgebung auszubauen.

Lange Zeit wurden Kinder und Jugendliche gezielt in weit entfernte Heime eingewiesen und somit so weit wie möglich von ihrem bisherigen Umfeld getrennt, damit sie in der neuen Umgebung des neuen Heimes ein völlig neues und unvorbelastetes Leben beginnen konnten. Ihr altes Leben, mit all seinen sozialen Bindungen, galt als schlecht und musste hinter sich gelassen werden. Damit wurde die gesamte bisherige Identität der Kinder zerstört (Wolf 1993, S.39).

Professionalisierung in der Heimerziehung bedeutet eine „Spezialisierung und Verwissenschaftlichung von Berufspositionen [...] verbunden mit einer Höherqualifizierung der Berufsausbildung, der Einrichtung formalisierter Studiengänge, einer Kontrolle der Berufsqualifikation und des Berufszugangs durch Fachprüfungen...“ (Fuchs u.a. 1975, S.523, In: Wolf 1993, S.41).

Die Individualisierung wird bei Wolf in drei Dimensionen aufgeteilt, welche dann noch weiter differenziert werden nach der objektiven Lebenslage und dem subjektiven Bewusstsein der Individuen, beziehungsweise deren Identität. Die drei Dimensionen der Individualisierung sind (1) die Freisetzungsdimension, welche „die Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen“ (Wolf 1993, S.51) meint, (2) die Entzauberungsdimension, worunter man den „Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ (ebd.) versteht und (3) die Kontroll- beziehungsweise Reintegrationsdimension, welche „die neue Art sozialer Einbindung“ (ebd.) beschreibt.

4. Die Situation um 1945

Arendt beschreibt die Situation, der sich die Heimerziehung um 1945 zu stellen hatte, als „Massennot der vagabundierenden, heimatlosen Kinder und Jugendlichen...“ (Arendt 1971, S.18, In: Almstedt 1982, S.13). 5 Millionen Kinder waren nach dem Krieg heimatlos, 250000 wurden Vollwaisen und 1,25 Millionen verloren ihren Vater. Ungefähr 200000 heimatlose Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren zogen durch das Land auf der Suche nach Arbeit (vgl. Almstedt 1982, S.13). Die Arbeitslosigkeit und die Situation der Nachkriegsverhältnisse gefährdete die Jugend in hohem Maße, zum Beispiel durch Schwarzmarkthandel, Prostitution, Schmuggel, etc. Dieser Gefährdung sollte durch die Unterbringung der Jugendlichen in Heimen entgegengewirkt werden (vgl. ebd., S.13).

Für diese Heimunterbringung standen allerdings bei Kriegsende nur wenige Heime mit unausgebildetem Personal, Großgruppen, Strenge, Unterordnung und Disziplin als Erziehungsmittel zu Verfügung (vgl. Günder 2003, S.19). Durch die Kriegsschäden und das Fehlen von Erziehungspersonal waren diese wenigen Heime der Masse von Kindern und Jugendlichen nicht gewachsen. So konnten keine Neuerungen oder strukturellen Veränderungen in der Heimerziehung vorgenommen werden, denn vorrangig war erst mal, den Kindern und Jugendlichen möglichst schnell ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung zu geben. Die alten Anstalten wurden notdürftig restauriert und die zerstörten Einrichtungen neu aufgebaut. Der Mangel an Kleidung, Schuhen, anderen Textilien und sonstigem Inventar konnte nicht behoben werden, da es diese Ressourcen bei Kriegsende nicht gab und es wichtiger war, zuerst einen Heimplatz für jedes Kinder zu beschaffen. Die Schlafsäle in den Heimen waren dadurch völlig überfüllt und vollgestellt mit Betten, oft mussten sich zwei Kinder ein Bett teilen (vgl. Almstedt 1982, S.14).

Die Erziehungsziele beschränkten sich zu dieser Zeit auf unbedingten Gehorsam und Erziehung zur Gleichförmigkeit. Methoden, die zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt wurden waren zum Beispiel Strafisolierung in Einzelzellen oder dass Ausreißern die Haare geschoren wurden (vgl. ebd., S.14). Somit blieben die traditionellen Erziehungsmethoden und damit auch das traditionelle Selbstverständnis der Erzieher vorhanden. Ihre Methoden begründeten die Erzieher damit, dass so die Willensschwachen gefestigt, die Verhältnisse stabilisiert und die Willensschwachen und Haltlosen zusammengehalten würden. Ebenso blieb der Glaube an erbbiologische Untersuchungen in den Köpfen der Erzieher vorhanden. Die Folge davon war eine Unterteilung der Kinder und Jugendlichen in Erziehbare und Unerziehbare. Die unerziehbaren Kinder brauchten demzufolge nur eine Bewahrung und keine Erziehung, denn diese würde den erziehbaren Kindern besser nützen (vgl. ebd., S.15).

Als Heilmittel gegen die Verwahrlosung der Jugendlichen wurde der Arbeitszwang angesehen. 1947/48 wurde deshalb ein Arbeitserziehungsgesetzt gefordert, um arbeitsscheue Jugendliche zwangsweise zur Arbeit anzuhalten (vgl. ebd., S.16).

5. Reformbestrebungen nach 1945

5.1. Familienerziehung nach Mehringer

Die ersten Reformbestrebungen nach 1945 entstanden aus einem humanitären Selbstverständnis heraus. Hauptvertreter dieser Reformbewegung war Andreas Mehringer. Sein vorrangiger Kritikpunkt waren die schlechten Entwicklungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen in den Heimen. 1949 wies er in Zeitschriften auf die Fehler und Nachteile in den bestehenden Anstalten hin, besonders im Bezug auf deren Ähnlichkeit mit Kasernen, und kristallisierte zwei Grundfehler heraus. Zum einen war das die künstliche Trennung der Kinder nach Altersgruppen und Geschlechtern. Diese Trennung stehe der natürlichen Schöpfungsordnung als künstliche Unordnung entgegen. Kinder bräuchten, laut Mehringer, einen natürlichen Ausgleich und die Bildungsmöglichkeiten durch alters- und geschlechtsgemischte Gruppen. Der zweite grundlegende Fehler in den Anstalten war das Leben der Kinder in zu großen Gruppen, wodurch die persönliche Bindungsfähigkeit der Kinder verhindert würde (vgl. Almstedt 1982, S.18/19).

Weiterhin wurden nach der Misere der nationalistisch geprägten, staatlichen Erziehung im zweiten Weltkrieg die Werte der Familie und der Familienerziehung dermaßen idealisiert, dass sie in den Köpfen vieler Menschen die staatliche Erziehung möglichst ganz ersetzen könnte. Beispiel für diese Idealisierung bietet Trost in seinem Handbuch zur Heimerziehung: „Die Familie umfasst den Menschen in seinem ganzen Sein, mit allen Lebensäußerungen, seinem Eigentum und seiner Ehre. Sie schützt und vertritt ihn. Da im Glied das Ganze und im Ganzen das Glied seine Steigerung oder Schwächung und Minderung findet, entwickelt die Familiensorge eine ständig sich erneuernde Kraft. Sie gibt dem Kinde alles, was es für sein Leben benötigt: die Wärme des Heims, Nahrung, Kraft, Wohnung und körperliche Pflege, Schutz, Zugehörigkeit und Geborgenheit; Beachtung und Anerkennung, Raum zur Entfaltung und Vorbilder für sein soziales Handeln.“ (Trost 1952, S.3, In: Peters 1991, S.22/23).

Aus seinen Überlegungen, die Anstaltserziehung betreffend und diesem Familienbild in mehr realistischer Weise folgend, bestand für Mehringer die Notwendigkeit einer Reform, deren wesentliches Element das Zusammenleben der Kinder in Familiengruppen mit 10-12 Kindern verschiedenen Alters und Geschlechts sein sollte. Weiterhin forderte er die Auflösung von Säuglings- und Kleinkinderheimen und legte großen Wert auf die äußerste Wichtigkeit einer konstanten weiblichen Bezugsperson für die Kindern, wegen deren Wunsch nach Nestwärme. Seiner Überzeugung nach bräuchten Kinder eine eigene, intime und gemütliche Wohnung. Nach diesen Grundsätzen konzipierte er ein Münchener Waisenhaus und übernahm 1945 die Leitung darüber (vgl. Almstedt 1982, S.19).

5.2. Kritik an Mehringer

Es gab allerdings auch starke Kritik an den Reformbewegungen und speziell gegen Mehringer. Vertreter dieser Kritik behaupteten, Waisenkinder müssten wegen ihrer Veranlagung anders behandelt werden, als „normale“ Kinder, die in Familie leben. Weiterhin könnte man die Waisenkinder nicht einfach in familienähnlichen Gruppen unterbringen, sondern man müsste sie erst langsam wieder an die natürliche Ordnung gewöhnen (vgl. Almstedt 1982, S.19). Ein weiteres Argument der Anstaltsbefürworter baute auf dem Eigenwert der Anstalt auf. Nach dieser Meinung spielt das einzelne Kind in der Familie eine zu wichtige Rolle und entwickelt dadurch unerwünschtes Verhalten. In der Anstalt dagegen ist es nur ein Kind unter vielen und entwickelt deshalb keine Sonderwünsche oder unerfüllbare Ansprüche. Im Gegenteil, durch die Zucht und Ordnung, welche in den Anstalten herrscht, entwickeln die Kinder sogar eine sehr wünschenswerte Willensdisziplin (vgl. ebd., S.20).

5.3. Familienprinzip in Kinderdörfern

Außer Mehringer und dessen Anhängern gab es auch noch andere Versuche, die Anstaltserziehung nach dem Familienprinzip zu verändern. Einer dieser Versuche war die Gründung von Kinderdörfern durch verschiedene Organisationen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Holland. Die Zielgruppen dieser Kinderdörfer waren Kinder, deren Eltern entweder tot oder vermisst waren. Die Prinzipien, nach denen die Kinderdörfer arbeiteten, waren allerdings fraglich. Eine Hausmutter war für 9-14 Kinder verantwortlich. Es gab keine methodisch – fachliche Arbeit und ebenso wenig kamen psychologische, psychodiagnostische oder therapeutische Methoden zur Anwendung. Grundlegend für die Arbeit war der Glaube an einen „natürlichen Muttertyp“, welcher ausreichen sollte, um die Kinder gut zu versorgen und zu erziehen. Dies hatte natürlich eine hoffnungslose Überforderung der Mutter zur Folge. Kritik gab es außerdem besonders an den SOS-Kinderdörfern, welche die leiblichen Eltern aus dem Erziehungsprozess ausschalten wollten (vgl. Almstedt 1982, S.20).

Insgesamt betrachtet kann man sagen, dass die Ansätze der Familienorientierung trotz der Reformbemühungen kaum eine Rolle in der vorherrschenden Praxis der Heimerziehung spielten. Man benutzte lediglich den Begriff der „Familiengruppe“ für die gleich gebliebenen Gruppen in den Anstalten, um diese aufzuwerten. Ansonsten geschah allerdings bis in die 60er Jahre relativ wenig im Bezug auf die Veränderung und Verbesserung der traditionellen Heimerziehung (vgl. ebd., S.21).

6. Probleme der Heimerziehung in den 60er Jahren

Seit dem Kriegsende 1945 hatte sich zwar die finanzielle Situation der Heime insgesamt verbessert, die Gesamtsituation blieb aber weiterhin unbefriedigend. Die Aus- und Fortbildungen, die Arbeitszeit- und Urlaubsregelung sowie der Bezahlung der Erzieher war ansatzweise verbessert worden. Aber die Situation der Erzieherkräfte blieb trotz allem oft noch beklagenswert. Zum Beispiel war mehr als die Hälfte der gesamten Erzieher nicht ausgebildet und der Bestand an Erziehungspersonal war insgesamt überaltert. Ebenso war die gesellschaftliche Anerkennung des Erzieherberufes sehr gering, wodurch ein chronischer Mangel an ausgebildeten Erziehern bedingt wurde. Die daraus folgende Überforderung des vorhandenen Personals war einer der Gründe für den weiterhin repressiven Erziehungsstil. So gehörten zum Beispiel 1963 immer noch Strafen wie Züchtigung, Kahl-Scheren, Isolation in Einzelzellen oder Strafkleidung zum Alltag in den meisten Heimen (vgl. Almstedt 1982, S.21/22).

Gegen Mitte der 60er Jahre wuchs die Bereitschaft der Fachleute an, Forderungen für die Verbesserung der finanziellen Situation in den Heimen zu stellen und in einigen Bundesländern gab es tatsächlich Finanzspritzen für die Heimerziehung. Aber diese Pläne zur Verbesserung wurden 1966 durch die aufkommende Rezession zunichte gemacht, als eine Einsparungswelle die Heimerziehung erfasste. Erst gegen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre kehrte das Interesse der Öffentlichkeit wieder zu den offensichtlichen Missständen in der Heimerziehung zurück und führte zu zahlreichen Reformüberlegungen und in einigen Bundesländern auch zu Veränderungsbemühungen. Allerdings war das Interesse trotz allem nicht ausreichend für eine grundlegende Reform der gesamten Heimerziehung, wie diese eigentlich notwendig gewesen wäre (vgl. ebd., S.22/23).

7. Die Heimkampagne

7.1. Voraussetzungen für die Entstehung der Heimkampagne

Durch die Vernachlässigung der Bildung und Erziehung der Jugend während der Zeit der Rekonstruktion in den 50er und 60er Jahren, konnte man Ende der 60er Jahre von einer wahren Bildungskrise sprechen. Diese konnte nicht allein durch eine quantitative Ausweitung des Bildungssystems behoben werden, da es inzwischen höhere Ansprüche an die zu vermittelnden Bildungsinhalte gab, denen das zur Verfügung stehende System nicht gerecht werden konnte. Weiterhin gab es zahlreiche Proteste gegen die hierarchischen Strukturen, die zum Beispiel an Universitäten herrschten und auch gegen andere innen- und außenpolitische Themen. Gegen die besonders skandalösen Zustände in der Heimerziehung richtete sich eine breit angelegte Heimkampagne, deren Initiatoren Gruppen der Studentenbewegung waren, sowie Schüler, Studenten, Erzieher, Sozialarbeiter und betroffene Jugendliche, welche die Heimerziehung zu Reformbemühungen zwangen (vgl. Almstedt 1982, S.29/30).

Da die Entwicklungen während der Heimreform im Bundesland Hessen einen exemplarischen Charakter für die Entwicklung in der gesamten BRD haben und die Heimkampagne hier besonders massiv und intensiv war, werde ich mich im folgenden auf dieses Bundesland konzentrieren, um die Entwicklungen und den Verlauf, sowie Ergebnisse der Heimkampagne darzustellen (vgl. Arbeitsgruppe Heimreform, S.16).

[...]

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Entwicklungslinien in der Heimerziehung nach 1945
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
38
Katalognummer
V130392
ISBN (eBook)
9783640362837
ISBN (Buch)
9783640363193
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heimerziehung, Entwicklung
Arbeit zitieren
Diplom Pädagogin Mirjam Günther (Autor:in), 2004, Entwicklungslinien in der Heimerziehung nach 1945, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130392

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