Wandel des japanischen Heiratsverhaltens von der Moderne zur Gegenwart

Das feudale Haussystem im Gesellschaftskonflikt mit familiären Individualisierungsprozessen der Moderne


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

38 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung:

1. Die Vorbedingungen: Heirat und Ehe im feudalen Haussystem

2. Der Übergang in die Moderne: Heirat und Ehe im nationalstaatlichen Haussystem

3. Wandel des Heiratsalters und der Heiratshäufigkeit

4. Wandel von Heiratsmotiv und Funktion der Ehe

5. Wandel in der Eheanbahnung

6. Wandel von Heiratsritus und Hochzeitszeremonie

Zusammenfassung und Ausblick:

Tabellen und Grafiken:

Literatur:

Einleitung:

Bis heute bleibt die Ehe die Lebensform der überwältigenden Mehrheit der Japaner. Sie gleicht mittlerweile in wesentlichen Dingen der Ehe in den westlichen Industriestaaten. Sie produziert eine ähnlich rückläufige Kinderzahl und hat eine ähnlich steigende Scheidungsrate. Dieser Trend begann aber erst nach dem Ende Pazifikkrieg und der Abschaffung des Stammfamiliensystems durch die alliierte Besatzungsmacht. In der Moderne 1868-1945, haben sich Heirat und Ehe zunächst antizyklisch entwickelt. Die Familie stand stark im Spannungsfeld zwischen japanischer Tradition und westlicher Moderne, blieb aber stark von traditionellen, konservativen Wertvorstellungen beherrscht. Durch die Restauration des stammfamiliären Familiensystems, wurde die Familie im sich rasant nach westlichem Vorbild modernisierenden Japan, der Hort des Konservatismus. Die historischen Höchststände der Heiratsrate wurden kurz vor und kurz nach dem Pazifikkrieg erreicht. Also in einer Zeit als das Heiraten noch nicht primär ein optionaler Gegenstand der individuellen Lebensplanung war, sondern Eltern und Stammfamilie darüber bestimmten, wann und wie geheiratet wurde. Genauso verhält es sich mit der Geburtenrate, die auch kurz vor und nach dem Krieg ihre historischen Höchststände hatten. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang damit, dass eine kinderlose Ehe im Vorkriegsjapan völlig undenkbar war. Heiraten und Kinderkriegen waren zwei Seiten ein und derselben Medaille. Kinder waren wichtig um die Erblinie der Stammfamilie zu erhalten und durch Verheiratung von Söhnen und Töchtern, soziale Bindungen mit anderen Stammfamilien zu knüpfen. Bei Kinderlosigkeit eines Ehepaares war daher Adoption der übliche und allgemein akzeptierte Ausweg. Natürlich wurde die Bevölkerungsexplosion primär durch die agrarische und industrielle Revolution, sowie die Einführung der westlichen Medizin, ermöglicht. Aber die hohe Korrelation von Heirats- und Geburtenzahl, ist nur durch die soziale Regulation der Stammfamilie zu erklären. Durch diese Korrelation erreichten Heirats- und Geburtenrate synchron ihre Höchststände. Daher setzt sich diese Arbeit primär mit dem Einfluss der Stammfamilie auf die Heirat und Ehe in der japanischen Moderne auseinander. Wichtige Faktoren sind dabei die nationalstaatliche Angleichung des Stammfamiliensystems und deren Folgen für Heirat und Ehe. Außerdem der Konflikt des Stammfamiliensystems, mit den durch die Modernisierung verursachten Individualisierungsprozessen.

Dieser Arbeit stützt sich auf in deutscher und englischer Sprache erschienene Sekundärliteratur aus den Bereichen Geschichts- und Sozialwissenschaft, sowie auf von der japanischen Regierung veröffentliche Statistiken zu Heirat und Geburt. Besonders hilfreich war das schon etwas in die Jahre gekommene Werk von Joy Hendry, „Marriage in Changing Japan“, in dem sie eine durch minutiöse Feldforschung erarbeitete, detaillierte Beschreibung der Heiratsanbahnung und des Hochzeitsritus in Japan abliefert. Weiterhin lieferte mir Margret Neuss-Kanekos Werk, „Familie und Gesellschaft in Japan“, wichtige Informationen zu den Veränderungen die Heirat und Ehe von der Feudalzeit zur Moderne, bis in Gegenwart unterliefen.

1. Die Vorbedingungen: Heirat und Ehe im feudalen Haussystem

Die Modernisierung Japans verlief bekanntlich unter dem „vom Westen lernen“-Motto und stellte eine Beispiellose Absorption westlicher Technik und westlichen Wissens innerhalb kürzester Zeit dar. Das Hauptziel war es, durch die Etablierung westlicher industrieller und staatlicher Standards, die Anerkennung der Ebenbürtigkeit mit den westlichen Industriestaaten zu erreichen und so die Rücknahme der seit der Landesöffnung aufgezwungenen „Ungleichen Verträge“ zu verwirklichen. Sowie einer drohenden informellen Kolonisierung zu entgehen. Das „vom Westen lernen“-Motto war aber nicht das einzige Leitprinzip während der rasanten Modernisierung. Ein anderes von den konservativen Kräften der Gesellschaft vertretende Prinzip war das Motto „westliche Technik und asiatischer Geist.“ Der „asiatische Geist“ bedeutete für die Gelehrten des Schwertadels vor allem, die konfuzianische Morallehre, die das sittliche Zusammenleben der Individuen auf die Grundlage der moralischen Verpflichtungen, gemäß den fünf menschlichen Beziehungen stellte. Das sind die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, zwischen Fürst(Kaiser) und Untertan, zwischen Mann und Frau, zwischen älterem Bruder und jüngerem Bruder, sowie zwischen Freund und Freund. Die Tugenden in der konfuzianischen Lehre sind Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Wohlwollen, Anstand, Sitte, Klugheit und Zuverlässigkeit. Sie werden ergänzt von den sozialen Pflichten, der Loyalität (gegenüber Familie und Lehnsherr), der Pietät (kindliche Gehorsamspflicht gegenüber Eltern und Staat, sowie Pflicht der Ahnenverehrung) und der Etikette und Höflichkeit (Wahrung der Angemessenheit und korrekten Form im sozialen Verhalten). Somit stellt der Konfuzianismus eine areligiöse Sittenlehre und Sozialethik dar, durch die alle sozialen Beziehungen auf rationaler Grundlage geregelt werden sollen. Im kaiserlichen Erziehungsedikt von 1890 fanden diese konfuzianischen Werte ihren Ausdruck, ihre Beherzigung wurde nun zur Untertanenpflicht erhoben. Das Edikt fand seinen Platz in allen Klassenzimmern, es war fester Bestandteil des Lehrkanons aller Schulen und wurde wichtiger Bezugspunkt des kulturellen Nationalismus.[1] Der seit 1868 herrschende kaiserzentrierte Meiji-Staat, orientierte seine Familienpolitik daher nicht nur an der Zivilgesetzgebung westlicher Vorbildindustriestaaten, wie Frankreich und Preußen, sondern vor allem an dem konfuzianisch geprägten, auf der Stammfamilie beruhenden Familiensystem, das in der vorangegangenen Feudalzeit vom Schwertadel geprägt wurde. Aber nicht nur der Schwertadel, sondern auch der Stand der Bauern und der Stand der Stadtleute praktizierten ein strukturell ähnliches Familiensystem, das so genannte Haussystem. Das Wort Haus bedeutet hier, Lebensraum und Produktionsstätte eines Familienverbandes, der primär durch den Hausnamen und die Genealogie der Hausahnen und erst sekundär durch Blutsverwandtschaft zusammengehalten wird. Das Haussystem stellt die japanische Form der Stammfamilie dar. Die soziale Praxis der Heirat und die Ehe standen völlig im Dienst dieses Haussystems. Das Haus in der feudalen Tokugawa-Zeit(1603-1867) war eine hierarchisch gegliederte, patrilineare Organisationsform des Zusammenlebens von Verwandten. Sein Erbfolgesystem war zumeist die Primogenitur, das heißt der älteste Sohn wurde Vorstand des Hauses uns erbte dessen Besitz. Allerdings wurde dieses Erbe immer als Leihgabe der Ahnen verstanden und dem aktuellen Erben oblagen die Verwaltung dieses Erbes und seine Sicherung in die Zukunft, indem er den nächsten Erben zeugte oder adoptierte. Das heißt sein Gestaltungsfreiraum mit dem Hausvermögen und ererbtem Land umzugehen war durch das „Diktat der Ahnen“ äußerst begrenzt und seine Handlungs-möglichkeiten waren in engen Bahnen vorgezeichnet. Das Amt des Hausvorstands war zudem kein Amt auf Lebenszeit, sondern wurde im Alter dem neuen Erben übertragen. Der abgedankte Hausvorstand verblieb danach bis zu seinem Tode im Haus, wurde versorgt und hatte eine privilegierte Position inne. Die religiöse Verehrung der Ahnen am Hausschrein und gegebenenfalls am Dorfschrein, war die Pflicht des Hausherrn und legitimierte ihn als gegenwärtigen Namensträger des Hauses. Die Vergangenheit im Haussystem wurde als die Vorleistung der Ahnen aufgefasst. Diese Vorleistung hatte die Gegenwart hervorgebracht und bestimmte die Zukunft, indem sie die Erben dazu verpflichtete das „Projekt“ der Ahnen weiterzuführen. Die Heirat und die Ehe im Haussystem diente dazu die Erblinie der Ahnen fortzuführen. Eine Heirat von Söhnen und Töchtern des Hauses, bedurfte der Zustimmung des Hausvorstands. Neben dem Hausvorstand als Entscheidungsträger, gab es vor allem in einflussreichen Häusern des Schwertadels, der städtischen und ländlichen Oberschicht (Großbauern/ Händler/ Handwerkerfamilien) einen tradierten Familienrat, bestehend aus älteren Verwandten des Haupt- und der Nebenhäuser, der mit über Erb- und Heiratsfragen entschied. Nebenhäuser wurden gegründet durch Heirat und Haushaltsgründung der Söhne, die nicht erbberechtigt im Haupthaus waren. Diese Zweighäuser hatten kein Recht auf eigene Namensführung und eigene Ahnenverehrung. Sie unterstanden vollständig der Entscheidungsgewalt des Haupthauses, hatten aber auch das Recht auf dessen Fürsorge.[2] Die Heirat im Haussystem war ein Abkommen zwischen zwei Häusern, Haus A gab eine Tochter als Braut zusammen mit einer Mitgift in Haus B. Die Tochter wurde dann Mitglied des Hauses B und unterstand dessen Entscheidungsgewalt. Sie sollte ihren Schwiegereltern nun genauso gehorchen und dienen wie sie es zuvor den leiblichen Eltern gegenüber getan hatte. Es kam nicht selten vor, dass die Braut nach einiger Zeit, wegen nicht zu überwindender Differenzen mit den Schwiegereltern oder ihrem Angetrauten, in ihr Geburtshaus zurückgeschickt wurde. Auf dem Land wurde bei schuldloser Scheidung der Frau, die Mitgift zurückgegeben. Die Mitgift diente also als Pfand, über das der Mann nicht frei verfügen konnte. Offiziell veranlasste der Mann die Scheidung einseitig, auf dem Land reichte dazu ein dreizeiliges Schreiben, das die Frau zur Wiederheirat freigab. Natürlich war tatsächlich nicht der Mann alleiniger Entscheidungsträger, denn er musste Rücksprache mit dem Familienrat, dem Hausvorstand(sofern er das nicht selber war) und dem Haus der Braut halten, bevor er die Scheidung vollzog. Auch die Scheidung war ein Akt der in den meisten Fällen durch (gütliche) Übereinkunft zweier Häuser zustande kam, oft wurde auch eine Entschädigung an die Familie der geschiedenen Braut bezahlt. Die so geschiedene Braut konnte bald wieder in ein anderes Haus verheiratet werden. Wichtige zwingende Scheidungsgründe waren schlimme Krankheiten, Verschwinden eines Ehepartners, Infertilität und unkontrollierte Aus-schweifungen (z.B. Glücksspiel, Alkoholsucht). Beim Schwertadel heiratete die Braut aus Haus A den Erben von Haus B bis zu 20 Jahre vor dessen Einsetzung als Hausvorstand. In dieser Zeit musste die Braut die Regeln und die Familiensitten des Hauses A lernen. Die Heirat der Töchter aus den Häusern des Schwertadels, wurde oft bereits in ihrer Kindheit zeremoniell vollzogen. Im Alter von 14-16 Jahren verließen sie dann ihr Haus und wechselten als Braut in ein anderes Haus. Die einheirateten Töchter standen in der Haushierarchie unter den Schwiegereltern, dem Mann und sogar den eigenen Söhnen, nur das Dienstpersonal und die eigenen Töchter standen unter ihr. Erst nach dem Tod der Schwiegermutter, stiegen der häusliche Machtbereich und die Privilegien der eingeheirateten Frau im Haus, auch wenn sie den männlichen Hausmitgliedern unterstellt blieb. Eine andere Form der Diskriminierung der Frau im Haus des Schwertadels, war die wirtschaftliche Abhängigkeit von ihrem Mann, ihr war kein eigenes Vermögen erlaubt. In der damaligen philosophisch-religiösen Kosmologie, war die Frau als von Natur aus sowohl physisch als auch psychisch schwaches Wesen stigmatisiert, das vor allem durch Irrationalität gekennzeichnet war. Der Taoismus wies ihr das Yin, die Erde zu und dem Mann das Yang, den Himmel. Die konfuzianische Lehre beschrieb das korrekte Leben einer Frau, als bestehend aus Dienst und Gehorsam zuerst gegenüber dem Vater und dann dem Ehemann. Die Frau sollte ihre natürliche Schwäche durch harte Arbeit und Gehorsam ausgleichen.[3] Die Stellung der Frau im Haus der Landbevölkerung war allerdings etwas stärker, denn dort war das Leben (noch) nicht von der konfuzianischen Lehre geprägt. Sie durfte eigenen Besitz haben und konnte unter gewissen Bedingungen die Scheidung erzwingen. Auf dem Land erfolgte die Heirat auch erst im Erwachsenenalter, da die Töchter länger als Arbeitskräfte gebraucht wurden. Durch ihre gleichwertige Teilnahme am Arbeitsprozess, war die Position der Frau im ländlichen Haus am ehesten gleichberechtigt. Außerdem war die Welt der Frau und des Mannes, nicht wie beim Schwertadel völlig getrennte und voneinander abgeriegelte Sphären. Die jungen Männer und Frauen der Dorfgemeinschaften organisierten sich in Gruppen und arbeiteten gemeinsam. Daher konnten die Jungmännerbünde auf dem Land einen großen Einfluss auf die Ehepartnerwahl gewinnen. Indem sie schützend die Hand über voreheliche sexuelle Kontakte hielten und ein heiratswilliges Paar gegenüber den Häusern ihrer Eltern unterstützten. Wenn die Zustimmung des Hauses der Frau nicht zu bekommen war, wurde sie kurzerhand (mit ihrer Einwilligung) entführt und versteckt, bis ihr Haus die Zustimmung gab. Die Tugenden einer guten Braut auf dem Land, war neben der Gebärfreudigkeit, vor allem auch die Geschicktheit bei der Arbeit und der Arbeitswille in der Landwirtschaft, bei der Kleiderherstellung und bei der sonstigen Hausarbeit.[4] In den städtischen Händler- und Handwerkerhäusern legte man bei einer Braut auch Wert auf die Geschicktheit im Umgang mit Geld.[5] Die Frauen des Schwertadels hingegen wurden zwar in Dichtung und Literatur ausgebildet, hatten aber kaum die Möglichkeit diese Fähigkeiten in die Gesellschaft zu tragen, sie wurden zu gehorsamen Töchtern ohne individuelle Ansprüche erzogen und mussten sich in allen Dingen den Wünschen des Ehemannes und der Schwiegereltern unterwerfen[6]. Das Gebären eines männlichen Erben als Nachfolger für den Hausvorstand, war ihre wichtigste Aufgabe. Allerdings wurden die Frauen vor allem aus dem niederen Schwertadel, deren Häuser zum Ende der Feudalzeit mehr und mehr verarmten, auch als Ärzte oder Lehrerinnen tätig, um das wirtschaftliche Überleben des Hauses zu gewährleisten. In der Frühindustrialisierung haben einige von ihnen sogar in Manufakturen gearbeitet.[7] In den Häusern aller Stände war die Adoption eines Erben üblich, wenn die Frau keinen männlichen Nachkommen gebar.[8] Der adoptierte Sohn konnte eine Tochter des Hauses zur Braut nehmen und in das Haus einheiraten. Beim Schwertadel gab es darüber hinaus die Sitte, dass der Hausvorstand einen Sohn mit einer Nebenfrau zeugte, falls die eigene Frau keinen gebären konnte. Die Frau des Hausvorstandes musste diesen Sohn trotzdem wie ihren eigenen Sohn aufziehen, der Bauch der Nebenfrau wurde als „Leihgabe“ angesehen, ihr Status blieb der des gewöhnlichen Dienstpersonals.[9] Bei der Adoption wurden generell Blutsverwandte aus den Nebenfamilien bevorzugt, aber davon konnte auch abgewichen werden. Das Wichtigste war die Kontinuität der Erblinie des Hauses. Natürlich mussten Heiraten in der Feudalzeit standesgemäß sein, eine Verbindung zweier Häuser aus unterschiedlichem Stand, etwa Schwertadel und Stadtschicht war in der Tokugawa-Zeit ausgeschlossen. Obwohl die Häuser der städtischen Oberschicht durch den sich im 18. Jahrhundert ausbreiteten auf Geld basierenden Warenverkehr, um ein vielfaches reicher waren, als die meisten Häuser des Schwertadels, deren Mitglieder mit Reis-Währung bezahlt wurden, stand der Schwertadel bis zu seiner Auflösung in der Meiji-Restauration (1854-1868), an der Spitze des Gesellschaftssystems. Auch innerhalb der Stände achtete man bei Heiratsallianzen auf das Ansehen des Partnerhauses und war bemüht die eigenen Töchter in gut gestellten Häusern unterzubringen. Allgemein gilt, dass der Mann im Haussystem den dominanten, bestimmenden Part bildete, aber durch die Ahnen und die älteren Hausmitglieder(Familienrat) kontrolliert wurde. Sowie Mann als auch Frau hatten kein Recht individuell ihren Ehepartner auszusuchen, sie konnten gegenüber den Eltern und Hausmitgliedern zwar unverbindliche Präferenzen ausdrücken, aber letztendlich lag die Entscheidung bei Familienrat und Hausvorstand.[10] Je höher der gesellschaftliche Rang und das Vermögen eines Hauses gleich welchen Standes waren, desto mehr war die Heirat hauspolitischen Abwägungen unterworfen. Die Ehe war primär eine Reproduktions- und Wirtschaftsgemeinschaft, die dem Fortbestand des Hauses diente. Liebe und Zuneigung zwischen den Ehepartnern waren keine Heiratsgründe. Daher kam es vor allem im Schwertadel häufig vor, dass Männer Liebesbeziehungen mit inoffiziellen Frauen (auch aus anderen Schichten) unterhielten, trotzdem aber ihre Rolle als Stammhalter des Hauses mit der für sie ausgesuchten Braut erfüllten[11]. Im Volk war das Unterhalten von Nebenfrauen oder inoffiziellen Frauen nicht verbreitet, hauptsächlich wegen der Kosten. Aber wahrscheinlich auch wegen der größeren Möglichkeit der persönlichen Einflussnahme auf die Ehepartnerwahl. Die Chance war auf dem Land höher einen Ehepartner zu bekommen zu dem man auch Zuneigung empfand, weil die Jugend sich in „Jungmännerbünden“ und „Mädchenhäusern“ organisierte und so mehr Mitbestimmung gegenüber ihren Häusern einfordern konnte. In der Stadt gab es in Form von Literatur und Theater viel Befürwortung für offen gezeigte Liebe zwischen den Ehepartnern. Das formalisierte, gefühlskalte Verhältnis zwischen Mann und Frau im Schwertadel erfuhr dort offene Kritik. Auch die Rotlichtviertel und die Bordelle blühten in den Städten, was Ausdruck des Lebensstils der Städter im bewussten Gegensatz zur Moral und Etikette des Schwertadels war.[12] In der Händler- und Handwerkerschicht der Stadt zeigten sich auch bereits am Ende der Tokugawa-Zeit Auflösungserscheinungen des Haussystems. Im städtischen Haussystem konnte zwar nur der älteste Sohn das Geschäft erben und weiterführen, aber alle Söhne und Töchter erhielten ihren finanziellen Anteil wenn sie heirateten. Die jüngeren Söhne begannen nun immer mehr ihren materiellen und wirtschaftlichen Vorteil zu suchen und gründeten eher eigene Haushalte, als sich in Häuser ohne männliche Nachkommen adoptieren zu lassen und den eigenen Namen abzulegen. Dadurch verschwand eine wachsende Zahl von Häusern samt Namen, die keinen Hauserben zeugen oder adoptieren konnten. Anders als auf dem Land war die Jugend der städtischen Oberschicht nicht auf die Produktionsmittel angewiesen die der Stammfamilienverband bereithielt. Im Gegenteil, Haushalte ohne stammfamiliären Anhang waren scheinbar konkurrenzfähiger in der Stadt, sie waren mobil und flexibel.[13]

2. Der Übergang in die Moderne: Heirat und Ehe im nationalstaatlichen Haussystem

Auf dieses hier nur grob skizzierte Haussystem der Feudalzeit, griff der Meiji-Staat während der Modernisierung zurück und versuchte so ein in der kulturellen Tradition verankertes Familiensystem zu schaffen. Zur Steuer-, Wehr-, und Schulerfassung war es von großer Bedeutung für den Staat die Hausmitglieder möglichst lückenlos zu erfassen. Das patriarchalische und hierarchisch gegliederte, sich selbst kontrollierende Haussystem eignete sich sehr gut dafür. Zusätzlich wurde das Haussystem nun zu einer nationalen Ideologie erhoben, an der versucht wurde die japanische Identität gegenüber dem Westen festzumachen. Dafür stand den konservativen Intellektuellen das strikt konfuzianische Haussystem, wie es vormals vom Stand des Schwertadels gelebt wurde, Modell. Die lockeren Sitten der ländlichen Familienverbände fielen dagegen der nationalen Standardisierung zum Opfer. Die Zivilgesetzgebung der Meiji-Ära definierte zum ersten Mal die Familie als Hausgemeinschaft, bestehend aus dem Hausvorstand, seiner Frau, den Kindern und den Verwandten der männlichen Seite. Das nach 20-jährigem Entstehungsprozess 1898 endgültig fertig gestellte Bürgerliche Gesetzbuch schuf einen verbindlichen, nationsweit gültigen Rechtsrahmen für diese Form der Stammfamilie. Alle Geburten, Todesfälle, Ab- und Zugänge zum Haus mussten nun offiziell vom Hausvorstand gemeldet werden. Das Familienregister des Hauses wurde nach der männlichen Erblinie geführt. Und der Hausvorstand des Haupthauses hatte die Fürsorge- und Kontrollpflicht für alle Mitglieder des Familienverbandes, inklusive der Nebenhäuser. Der Hausvorstand erhielt so weitgehende Kontrollgewalt über Heirat, Scheidung und Adoption, da nur er diese Vorgänge melden und sie dadurch rechtskräftig machen konnte. Damit hatte er eine gesetzliche Machtfülle die selbst der Hausvorstand des Schwertadels nicht besessen hatte.[14] Allerdings wurde bestimmt, dass ein heiratswilliges Paar primär die Zustimmung der eigenen Eltern benötigte. Der Hausvorstand konnte, sofern er nicht selbst Elternteil war, der Entscheidung der Eltern nicht widersprechen. Und die Zustimmung der Eltern war auch nur noch bis zum 25. Lebensjahr bei der Tochter, bzw. 30. Lebensjahr beim Sohn gesetzlich erforderlich. Unabhängig von der Gesetzeslage, gab es in vielen Familienverbänden immer noch den Familienrat, der sein traditionell legitimiertes Mitspracherecht gegenüber dem Hausvorstand gelten machte. Die Frau erhielt per Gesetz nun auch das Scheidungsrecht, allerdings waren die erforderlichen Scheidungsgründe nicht gleichberechtigt zum Mann. Anders als bei der Frau, waren beim Mann außereheliche Liebesverhältnisse kein ausreichender Scheidungsgrund, außer wenn der Mann damit geltendes Recht brach (Verhältnis mit verheirateter Frau). Noch bis 1908 konnte ein Ehemann seine beim Ehebruch ertappte Frau straflos töten[15]. Und nur die Frau musste beim Verschwinden des Mannes 2 Jahre warten, während der Mann beim Verschwinden der Frau sofort die Scheidung einreichen konnte. Schwere Krankheiten blieben Scheidungsgrund für Mann und Frau. Wollte die Frau eine gerichtliche Scheidung erwirken, so brauchte sie generell den Beistand ihres Vaters, oder Bruders. Scheidungen wurden aber nach wie vor in den meisten Fällen durch die Übereinkunft zweier Häuser gütlich vollzogen. Die Scheidung durch Übereinkunft wurde vom Meiji-BGB genau wie gerichtliche Scheidungen anerkannt. Kinder verblieben nach Meiji-BGB im Haus des Vaters. Die Frau kehrte nach der Scheidung in ihr Elternhaus zurück. Je nachdem wurde sie wiederverheiratet oder etwa bei schlimmer Krankheit verblieb sie dort bis zum Tod.[16] Die gesetzliche Pflicht zur Monogamie (westlichen Wertvorstellungen geschuldet), stärkte die Position der Frau. Sie verlor nun aber per Gesetz nach der Heirat ihre Geschäftsfähigkeit und ihr Vermögen ging in den Besitz des Mannes über, was ihre Position schwächte.[17] Das gesellschaftlich idealisierte Bild der Frau seit der Moderne, war das der „guten Ehefrau und weisen Mutter“. Gemäß diesem sollte die Frau ihre Erfüllung in der Hausarbeit und Kindererziehung suchen. Als ihr angestammter Bereich, wurde das innere des Hauses aufgefasst, während dem Mann die Vertretung des Hauses nach Außen und der Geldverdienst zukam. Dieses Ideal einer dualen Rollenverteilung in der Ehe hat sich bis in die Nachkriegsgesellschaft gehalten, auch wenn das stammfamiliäre Haussystem zu Gunsten der Kernfamilie weichen musste.[18] Auch die Sitte der getrennten Freizeitgestaltung von Männern und Frauen, die wie erwähnt aus dem Haus-System des Schwertadels stammt, wurde in der Moderne zum Lebensstil breiter Bevölkerungsschichten und hat sich bis in die Gegenwart gehalten. Daher nahm das Eheleben seit der Moderne vielfach die Form eines aneinander vorbei Lebens unter einem Dach an.[19]

Die Heirat in der Moderne wurde zwar nicht mehr durch die Standeszugehörigkeit eingeschränkt, wohl aber durch Besitz und gesellschaftlichen Rang. Die reiche Oberschicht heiratete unter sich. Sie bestand aus zu Industrieunternehmern aufgestiegenen Händler- und Handwerkern, sowie aus zu Politikadel und hohen Staatsbeamtentum aufgestiegenem ehemaligen Schwertadel. Alle Anderen bildeten nun das Volk, das sich mehr oder weniger am Heiratsverhalten der Oberschicht orientierte. Am wenigsten konnte zunächst die industrielle Unterschicht traditionelle Familienmuster aufrechterhalten. Dort wurden in der Industrialisierungsphase Ehen und Geburten kaum noch registriert und die Haushalte waren fragile, lockere Bündnisse, unterworfen den harten, industriellen Arbeits- und Lebensbedingungen.[20] Später im Übergang zum 20. Jahrhundert formierte sich eine nicht geringe Zahl von Intellektuellen der Mittel- und Oberschicht, die an den Wertvorstellungen ihrer Eltern zweifelten und das Haussystem offen kritisierten. Sie favorisierten eine idealisierte westliche Form der Ehegemeinschaft, basierend auf Zuneigung und Liebe und getragen von der individuellen Entscheidung der Ehepartner.[21] Allgemein änderte sich in der Moderne aber nur wenig daran, dass die Heirat zwischen zwei Häusern vereinbart wurde, nicht zwischen zwei Individuen. Das traditionelle Haussystem half dabei, in Zeiten von technischem Fortschritt, gestiegener Mobilität und steigenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, althergebrachte soziale Muster aufrecht zu erhalten. Auch wenn das Haussystem in seiner national vereinheitlichten und gesetzlich verankerten Form, viele qualitative Neuerungen brachte (besonders auf dem Land), gelang es dem Staat, ihm den Anstrich einer seit Urzeiten gültigen Tradition zu geben. Die Analyse des Wandels von Heirat und Ehe von der einsetzenden Modernisierung bis 1945, setzt daher die Kenntnis des aus der Feudalzeit stammenden Haussystems voraus. Aber trotz des staatlichen Versuches mit dem Haussystem traditionelle Familienstrukturen in die Moderne zu retten, haben die vielfältigen gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Modernisierung, die Industrialisierung und die Kriege bis zum Ende des Pazifikkrieges 1945, nicht zu vernachlässigende Veränderungen im Heiratsverhalten und der Form der Ehe verursacht.

[...]


[1] Vgl. Florian Coulmas: Die Kultur Japans –Tradition und Moderne, München 2003, 130-138.

[2] Vgl. Margret-Neuss Kaneko: Familie und Gesellschaft in Japan, München 1991, 11-12, 16-23.

[3] Vgl. Ebd. 23-30.

[4] Vgl. Ebd. 37-42.

[5] Ebd. 47.

[6] Ebd. 29.

[7] Ebd. 30, 71.

[8] Ebd. 20.

[9] Ebd. 24-25.

[10] Vgl Ebd. 23, 24, 37, 45.

[11] Ebd. 25.

[12] Vgl. Ebd. 37, 40, 44.

[13] Vgl. Ebd. 48, 49.

[14] Ebd.: 57, 61.

[15] Joy Hendry 1989: Marriage in Changing Japan, Rutland 1989, 19.

[16] Vgl. Ebd. 22. / Neuss-Kaneko 1991: 62, 63.

[17] Vgl. Neuss-Kaneko 1991: 62.

[18] Vgl. Zöllner 2006: 324. / Neuss-Kaneko 1991: 80, 81.

[19] Vgl. Hendry 1989: 89.

[20] Vgl. Neuss-Kaneko 1991: 71, 72.

[21] Vgl. Ebd. 78, 80.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Wandel des japanischen Heiratsverhaltens von der Moderne zur Gegenwart
Untertitel
Das feudale Haussystem im Gesellschaftskonflikt mit familiären Individualisierungsprozessen der Moderne
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Geschichte der Medizin)
Veranstaltung
Hauptseminar Liebe Heirat Sexualität
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
38
Katalognummer
V129522
ISBN (eBook)
9783640425495
ISBN (Buch)
9783640425365
Dateigröße
1204 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heirat Japan, Ehe Japan, Gesellschaftswandel Japan
Arbeit zitieren
Daniel Lachmann (Autor:in), 2009, Wandel des japanischen Heiratsverhaltens von der Moderne zur Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129522

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