Musiktherapie im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis

Kritische Überlegungen auf der Grundlage des Vergleichs zweier Studien mit verschiedenen Forschungsansätzen


Diplomarbeit, 2009

91 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Musiktherapeutische Studien im Vergleich
2.1 Forschungsmotivation
2.2 Zeitrahmen
2.3 Studiendesign
2.4 Forschungsziele
2.5 Klientel
2.6 Behandlungsansatz
2.7 Rahmenbedingungen
2.8 Musiktherapeutisches Konzept
2.8.1 Erstkontakte
2.8.2 Setting
2.8.3 Therapieziele
2.8.4 Handlungsspektrum
2.8.5 Spezifische musiktherapeutische Wirkfaktoren
2.9 Messinstrumente und Datenanalyseverfahren
2.10 Forschungsergebnisse
2.11 Direkte Auswirkungen auf die musiktherapeutische Praxis
2.12 Weiterführende Forschungsansätze
2.13 Publikation der Studie
2.14 Zusammenfassung

3 Hintergrundmodelle psychotherapeutischer Forschung nach B. E. Wampold
3.1 Medical Model
3.2 Contextual Model
3.2.1 Generelle Wirkfaktoren der Psychotherapie
3.3 Bedeutung des Modellvergleiches für Psychotherapie und psychotherapeutische Forschung

4 Werte psychotherapeutischer Forschungsmethoden
4.1 Der „Goldstandard“ der Forschungsmethoden und seine Bedeutung für die vorgestellten musiktherapeutischen Studien

5 Musiktherapie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftlichkeit und therapeutischer Praxis
5.1 Musiktherapie – eine Berufsfeldbeschreibung
5.2 Musiktherapeutische Forschungsmethoden
5.2.1 Folgen der Forschung zur wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Legitimation von Musiktherapie

6 Plädoyer
6.1 Subjektivität
6.2 Netzwerk
6.2.1 Netzwerkbildung - Möglichkeiten und Blockaden beispielhaft dargestellt

7 Schluss
7.1 Ausblick

8 Quellenverzeichnis

9 Anhang

1 Einleitung

„Wir können zwar die Bewegung der Planeten aufzeichnen, aber wie misst man die Stärke eine Blicks oder das Gewicht eines Lächelns?“ (Broks, 2006, S. 177)

Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit bildeten Gedanken, die sich um jenes Thema dre- hen, das sich in diesem Zitat von Paul Broks widerspiegelt.

Ist die Wirkung einer Therapie messbar?

Es erschien mir absurd, zum Ziel zu haben, Musiktherapie oder Elemente aus der mu- siktherapeutischen Behandlung und ihre spezifischen Wirkung und Wirkweisen erfor- schen und darstellen zu wollen. Sowohl die vielen unterschiedlichen Faktoren, die in jeder individuellen Sitzung, in jeder einzelnen Therapiesekunde beeinflussend wirken, als auch die therapeutInnenabhängigen Denk- und Handlungsweisen – die Subjektivität in jeder Therapie – machen eine verallgemeinernde objektive Darstellung der Musikthe- rapie meiner Meinung nach unmöglich.

Zwar kann beobachtet und Bewegung und Veränderung aufgezeichnet werden, doch was diese für den Einzelnen bedeutet, welche Gefühlszustände sich hinter einem Blick oder einem Lächeln verbergen, kann nie nachempfunden und somit auch nicht objekti- viert werden (vgl. Broks, 2006).

Um mit den Worten Condillacs (1714-1780) zu sprechen (in der Übersetzung von M. Hißmann, 1780): „Wir mögen uns, um metaphorisch von der Sache zu reden, zum Himmel emporschwingen; oder wir mögen in die allerunterirdischsten Gegenden hinab- steigen: so gehen wir doch nie aus uns selbst heraus, und nie nehmen wir etwas andres wahr als unsern eignen Gedanken.“ (aus: Schmitt, 2006, S. 169)

Die Intensität der Wirksamkeit einer Therapie herausfinden zu wollen, würde meiner Meinung nach bedeuten, als Außenstehende(r) die Empfindungen der an der Therapie Beteiligten - herausgelöst aus dem eigenen Gedanken- und Gefühlserleben – verstehen, mitfühlen zu können. Das ist aber nicht möglich. Lediglich durch verändertes Verhal- ten, Gegenübertragungsgefühle der TherapeutInnen oder Aussagen über die Wirksam- keit der Therapie von dem/der KlientIn lässt sich über die Tiefe der Wirkung bei dem/der KlientIn innerhalb der eigenen Erfahrungsbereiche spekulieren.

Doch verschiedene Zeitschriftenartikel und andere Veröffentlichungen zum Thema Wirksamkeitsnachweis in der Psychotherapie oder Musiktherapie erweckten den Ein- druck, als würde angenommen werden, dass die Wirksamkeit einer Therapiemethode objektiv beschreibbar wäre und somit generalisiert dargestellt werden könnte. In Erläu- terungen verschiedener Studiendesigns und Beschreibungen durchgeführter Studien wurde hervorgehoben, dass die Person des/der TherapeutIn und des/der KlientIn, deren Biographien, aktuelle Einflüsse und Rahmenbedingungen in der Erforschung der The- rapie und ihrer Wirkung ignoriert werden müssten. Dieser Versuch einer Verwissen- schaftlichung und sogar auch Manualisierung eines Bereiches, der meines Erachtens nur durch die Akzeptanz und die Arbeit mit der Subjektivität bestehen kann, ließen mich ei- ne kritische Haltung gegenüber dieser Forschungsrichtungen und ihrer Vertreter ein- nehmen.

Gleichzeitig war mir jedoch bewusst, dass sich gerade Musiktherapie als Berufsfeld ge- sundheitspolitische Anerkennung verschaffen muss, um weiterhin bestehen und sich als eigenständige Therapiemethode im Gesundheitssystem etablieren zu können. Dies kann derzeit offensichtlich eben hauptsächlich durch musiktherapeutische Wirksamkeitsfor- schung stattfinden, die an das aktuelle Wissenschaftlichkeitsverständnis angelehnt ist.

Doch die Kluft zwischen den wissenschaftlich anerkannten Forschungsmethoden und Musiktherapie in der Praxis erschien mir zu groß, als dass man eine Brücke zwischen diesen beiden Seiten schlagen könnte - also anerkannt Forschung betreiben und dabei so nah wie möglich an der musiktherapeutischen Praxis bleiben zu können.

Der Eindruck, alle psychotherapeutischen Anschauungen und Prinzipien aufgeben zu müssen um die eigene berufliche Identität als Musiktherapeutin und auch um das ge- samte Berufsfeld gegen medizinisch-wissenschaftliche „Angriffe“ (im Sinne der Auf- forderung zur Rechtfertigung) nach außen verteidigen zu können, erweckte in mir den Wunsch, mich intensiver mit diesem Thema zu befassen. So besteht das Anliegen dieser Arbeit zum einen darin, Möglichkeiten aufzuspüren, die jene Kluft zwischen Forschung und Praxis vielleicht doch überwindbar machen könnten und zum anderen auch darin Tendenzen in beiden Bereichen aufzuzeigen, die die Weiterentwicklung innerhalb des Berufsfeldes zu blockieren scheinen.

Als Ausgangspunkt zur Bearbeitung des Themas wählte ich zwei musiktherapeutische Studien, die etwa im gleichen Zeitraum und mit einer Klientel ähnlicher Altersklasse durchgeführt wurden. Dass sie sich in sonstigen Vergleichspunkten kaum ähneln, sich besonders in Forschungsanliegen und -herangehensweisen sehr unterscheiden, machte mich auf die verschiedenen (Un-)Möglichkeiten musiktherapeutischer Forschung auf- merksam, die durch die Gegenüberstellung dieser Projekte herausgestellt werden soll- ten.

Anhand dieses Vergleichs wird schließlich der Hintergrund für die Kluft zwischen mu- siktherapeutischer Forschung und Praxis beschrieben und es werden Möglichkeiten er- örtert, die einen für beide Seiten akzeptablen Umgang mit dieser Kluft aufzeigen.

2 Musiktherapeutische Studien im Vergleich

2.1 Forschungsmotivation

Initiator des Forschungsprojekts Musiktherapie für sexuell missbrauchte Kinder war der Stern -Redakteur und Gründer der Vereins Dunkelziffer e.V.1 Klaus Meyer-Andersen. Seine Überzeugung, „wie wichtig und voranbringend Musiktherapie für gerade die the- rapeutische Begleitung sexuell missbrauchter Kinder“ sei (Decker-Voigt, 2005, S. 1) und der damit verbundene Wunsch, Musiktherapie in das Angebotsspektrum von Dun- kelziffer e.V. zu integrieren, mobilisierte Hans-Helmut Decker-Voigt, Direktor und Lehrstuhlinhaber des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, und die Mitglieder des Vereins Dunkelziffer das Projekt mit zu organisieren und zu verwirklichen. Diese Arbeit sollte nicht nur eine zusätzliche Möglichkeit bieten, kindliche Opfer sexuellen Missbrauchs helfend zu begleiten, sondern auch durch die Publizierung dieser Studie die Öffentlichkeit auf die Häufigkeit und auf die Schwere der Folgen sexueller Gewalt aufmerksam machen und die besondere Eignung der Musikthe- rapie bei dieser Klientel ergründen und demonstrieren.

Ausgangspunkt für die Durchführung der Studie zum Heidelberger Musiktherapiema- nual: Migräne bei Kindern war die Adaption des bereits empirisch belegten Musikthe- rapie-Konzepts für erwachsene Patienten mit chronischen, nicht-malignen Schmerzen, um ebenso für Kinder und Jugendliche mit Migräne ein Therapiekonzept vorlegen zu können, das „auch den harten Bewertungskriterien der „evidenzbasierten Verfahren“ ge- recht [wird und] eine wirksame Behandlungsperspektive […]“ bietet (Leins, 2006, Vorwort der Herausgeber, ohne Seitennummerierung). Ebenso wie die Untersuchung zu Musiktherapie mit sexuell missbrauchten Kindern war auch diese ein Kooperationspro- jekt mehrerer Einrichtungen: zwischen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Psychosozialen Zentrums des Universitätsklinikums Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. Franz Resch), der Fakultät für Musiktherapie der Fachhochschule Heidelberg (Dekan: Prof. Dr. Hans Volker Bolay) und dem Deutschen Zentrum für Musiktherapie- Forschung (Viktor Dulger Institut) DZM e.V. (Vorstand: H. V. Bolay).

2.2 Zeitrahmen

Die Leitung und Finanzierung des Musiktherapie-Projekts für sexuell missbrauchte Kinder leistete Dunkelziffer e.V. mit Klaus Meyer-Andersen als Vorstand, der auch für die Medienarbeit zuständig war. Die öffentliche Verbreitung des Vorhabens fand über das Netzwerk der Hamburger Beratungsstellen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen statt, es wurden Presseartikel publiziert und Kinderärzte und andere Ein- richtungen für Kinder informiert. Die Präsentation des Konzepts, von der auch die all- gemeinen Medien und die regionale Presse berichteten, konnte schließlich im August 1997 stattfinden. Daran schlossen sich fünf Jahre Therapiezeit an und das Projekt wurde nach weiteren zwei Jahren Dokumentationsarbeit im Dezember 2003 beendet.

Währenddessen begannen die Vorüberlegungen und die Entwicklung des Konzeptes für die Studie zum Musiktherapie-Manual für Kinder mit Migräne in Heidelberg im No- vember 2000. Nach der Durchführung eines viermonatigen Probelaufs2 im Sommer 2001 konnte die Rekrutierung der PatientInnen über Pressemitteilungen, Aushänge und Versendeaktionen in die Region um Heidelberg stattfinden. Das Projekt lief im August 2001 an, die Therapiekernzeit endete im April 2003 und mit der Katamnese und der an- schließenden Datenanalyse wurde das Projekt nach knapp drei Jahren im Mai 2004 ab- geschlossen.

Die Kernzeit wurde hier zeitlich untergliedert in die Pre-line3, die die Zeit der Auswahl und Einteilung der KlientInnen umfasst, eine achtwöchige Base-line, in der bestimmte Vorarbeiten für die anschließende dreimonatige Therapiezeit geleistet werden mussten und eine Post-line, die den Nachbereitungen für PatientInnen und TherapeutInnen dien- te.

Inwiefern die allgemeine Öffentlichkeit über dieses Forschungsprojekt informiert wur- de, bleibt unklar.

2.3 Studiendesign

Der Zeitplan für den Studienablauf wurde für das Musiktherapie-Manual klar definiert und in Abschnitte untergliedert, während die Arbeit in dem Forschungsprojekt zur Mu- siktherapie für sexuell missbrauchte Kinder einen groben Zeitrahmen von fünf Jahren zur Vorgabe hatte. Die Studienform hier war qualitativ reflektierend und bestand aus Analysen der einzelnen Therapiestunden und -verläufe durch die beiden mitwirkenden Musiktherapeutinnen. Es handelte sich also um Langzeittherapien, die ausführlich re- flektiert und detailreich dokumentiert wurden. Diese Aufzeichnungen wurden auf Ge- meinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Besonderheiten der Klientel, der Musiktherapie als geeignete Behandlungsform und des Therapieverlaufs retrospektiv untersucht.

In der Publikation werden sieben dieser Einzelfallanalysen beschrieben und erläutert, die die Wirkung von Musiktherapie beispielhaft darstellen und zu den formulierten Zie- len der Studie hinführen (vgl. Kapitel 2.4). Dabei wird dem Leser ein konkreter Ein- blick in die Arbeit mit sexuell missbrauchten Kindern verschafft.

Das Projektdesign für die manualisierte Musiktherapie für Migräne-Kinder hingegen ist eine prospektive, placebokontrollierte Vergleichsstudie mit der phytotherapeutischen Behandlung mit Petadolex®. Die Verteilung der KlientInnen auf die drei Behandlungs- gruppen (Musiktherapie, Petadolex® und Placebo) fand durch Randomisierung statt. Während der oben erwähnten Base- und Post-line, die die zwölf Wochen parallel lau- fenden Therapien umrahmten, und in der Katamnese wurden mittels verschiedener Fra- gebögen für die PatientInnen und deren Eltern Daten erhoben, deren Analyse im Gruppenvergleich letztendlich über die Wirksamkeit des entwickelten Musiktherapie- manuals Auskunft geben sollte.

Die Veröffentlichung der Studie erfolgte nicht in Form von beispielhaftem Einblick Schaffen in die durchgeführten Musiktherapiestunden sondern durch die Beschreibung des entwickelten musiktherapeutischen Verfahrens als Konzept und die schrittweise Da- tenanalyse zur Verifizierung der genannten Grundannahmen.

2.4 Forschungsziele

Für das Projekt mit Migränekindern wurden konkrete Hypothesen formuliert, deren Beweisführungen Inhalt der quantitativen Studie waren (zitiert nach Leins, 2006, S. 175):

1. Musiktherapie als prophylaktische Behandlungsmethode für Kinder mit Migräne hat ei- ne signifikante Wirkung auf die Reduktion der Attackenfrequenz im Vergleich zu einer medikamentösen Placebobehandlung.
2. Musiktherapie als prophylaktische Behandlungsmethode für Kinder mit Migräne hat ei- nen stärkeren Effekt auf die Attackenfrequenz als eine Behandlung mit einem pflanzli- chen Medikament Petadolex®.
3. Prophylaktische Effekte der musiktherapeutischen Behandlung sind anhaltend bis zur katamnestischen Messung.
4. Musiktherapie führt zu größerer Therapiezufriedenheit als medikamentöse Therapie

Anhand definierter Zielvariablen konnten diese Hypothesen untersucht und der Thera- pieerfolg beurteilt werden. (vgl. Kapitel 2.9)

Welche spezifischen Perspektiven und therapeutischen Interventionen speziell Musik in der Therapie mit sexuell missbrauchten Kindern ermöglicht, war die zentrale Fragestel- lung des Hamburger Forschungsprojektes. Hier fand die rein qualitative Fallbeschrei- bung und -evaluation unter folgenden Gesichtspunkten statt (zitiert nach Decker-Voigt, 2005, S. 18 f.):

1. die pragmatischen musiktherapeutischen Handlungsmöglichkeiten sammeln, reflek- tieren und in Bezug setzen zu den verschiedenen Arbeitskontexten wie dem Zeit- rahmen und Zeitbedingungen für therapeutische Begleitungen […]
2. die Reflexion der Begleitung von Klientinnen anstreben, bei denen trotz eindeutiger Vorgabe und Vorarbeit des Dunkelziffer e.V. für die Arbeit mit Kindern, bei denen der Missbrauch aufgedeckt war, im Verlauf der Therapie neue Uneindeutigkeit ent- stand.
3. die Annahmen und tatsächlichen Erfahrungen der Musiktherapeutinnen sammeln im Blick auf die spezifischen musiktherapeutischen Interaktionen und darin liegender Veränderungskräfte für den Neuaufbau gestörter Kommunikation [im Sinne von] ‚Interaktionscharakteristika’.
4. eine erste Systematisierung von musiktherapeutischen Handlungsstrategien reflek- tieren, die als spezifiziert für die Therapie sexuell missbrauchter Kinder angesehen werden könnten […]
5. die posttraumatischen Störungsbilder aus der musiktherapeutischen Perspektive be- trachten und diese reflektieren aus der Sicht anderer Therapien und TherapeutInnen (‚musikalische Hörbarkeit’ posttraumatischer Folgen, [wie könnten diese die] ‚Sichtbarkeit’ von kunsttherapeutischen Bildern und die Spielszenen der gestaltthe- rapeutischen Spieltherapie ergänzen […] - hin zu einer integrativen psychodynami- schen Therapie?).
6. [Prüfen] der Eignung musikalischer Interaktionen für Re-Inszenierungen traumati- schen Materials […]
7. Einzelperspektiven thematisieren, die in der Wechselbeziehung der Musikinstru- mente […] für den prä-, extra- und nonverbalen Ausdruck mit der Wahrnehmungs- rezeption der Klientinnen entstehen (Appellspektrumsanalyse) […]
8. die bisher gelernten theoretischen Konzepte der tiefenpsychologisch phänomenolo- gisch orientierten Musiktherapie überprüfen auf ihr Eignung als Hintergrund für die als nötig erfahrenen Handlungsstrategien und gegebenenfalls zu verbinden mit Nachbarkonzepten […]

Durchgängig interessierte auch (9.) die musikalische Symbolsprache in der Musikthera- pie mit durch sexuellen Missbrauch traumatisierten Kindern, die sowohl auf allgemein kollektiv-archetypischer als auch auf individueller Bedeutungsebene zu verstehen ver- sucht wurde.

In klientenspezifischen Verlaufsprotokollen wurden bestimmte Parameter der Doku- mentationen exzerpiert und quantitativ betrachtet Im Fokus stand hierbei die Art der In- strumentenkontakte (welche Instrumente wurden wie oft ausgewählt) zu verschiedenen Therapiezeitpunkten.

2.5 Klientel

Beiden Studien gemein ist, dass sie sich auf Musiktherapie mit Kindern bezogen, die durch bestimmte Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten Bedarf an Therapie zeigten. Der Leidensdruck der Kinder mit Migräne resultierte aus den schmerzhaften Migräneat- tacken, deren Auftreten sie nicht kontrollieren können. Durch die Therapie erhofften sie sich eine Reduzierung der Migräneattacken und eine damit einhergehende Veränderung der Begleiterscheinungen. Kinder mit Migräne entwickeln häufig eine Erstarrung des motorischen, sensorischen, behavioralen, interpersonellen, kognitiven, emotionalen und/oder motivationalen Bereiches und zeigen ein oft überangepasstes, teilweise ge- hemmt aggressives Verhalten. Auch Ängste, Zwänge und Depressionen können als Komorbiditäten in Erscheinung treten. (vgl. Leins, 2006)

Um an der Studie teilnehmen zu können, mussten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Das Kind sollte zwischen acht und zwölf Jahren alt sein, zwei oder mehr Migräne- attacken monatlich seit mindestens einem Jahr haben und durfte an keiner psychiatri- schen Grunderkrankung leiden.4 Diesen Kriterien entsprachen 66 der 78 rekrutierten KlientInnen, die nun durch Randomisierung auf die verschiedenen Behandlungsverfah- ren verteilt wurden. So waren 24 PatientInnen der Musiktherapie-, 21 der Medikamen- ten- und ebenfalls 21 PatientInnen der Placebogruppe zugeordnet.

Vor der Behandlung wurden soziodemographische Analysen durchgeführt (Alter der Kinder, Geschlechterverteilung, Verteilung der Schulart; Alter, Bildungsniveau und so- ziale Schicht der Mutter und des Vaters), die aber im Gruppenvergleich keine statistisch signifikanten Unterschiede ergaben.

Über die Anzahl und soziodemographischen Daten der musiktherapeutisch behandelten sexuell missbrauchten Kinder in Hamburg gibt die Publikation dieses Forschungspro- jekts keine Auskunft. Es standen acht Einzelmusiktherapieplätze zur Verfügung. Sieben Therapieverläufe wurden anschaulich dargestellt, von denen vier nach circa 100 Sitzun- gen abgeschlossen und zwei nach sieben beziehungsweise 17 Einheiten abgebrochen wurden. Die siebente Analyse beschreibt den besonderen Fall der Therapie mit einem geistig behinderten sexuell missbrauchten Mädchen. Ausschlusskriterium für die Teil- nahme an dieser Studie war eine mit nur unzureichender Sicherheit gestellte Diagnose des vollzogenen sexuellen Missbrauchs. Die Mädchen5 waren zwischen vier und sieb- zehn Jahren und kamen je nach Stand der Aufdeckungsphase des Missbrauchs mit un- terschiedlicher Motivation in die Therapie. Unter anderem weil Kinder Missbrauchssituationen unterschiedlich verarbeiten, wurde auch die Therapie individu- ell auf die jeweilige Klientin abgestimmt. Aber das Ziel jeder Therapie war die Aufde- ckung und Verarbeitung des Traumas und die damit einhergehende Verbesserung der Symptomatik. Sexuell missbrauchte Kinder haben häufig eine gestörte Selbst- und Fremdwahrnehmung, Interaktionsstörungen und zeigen sexualisiertes, manchmal über- angepasstes oder (auto-)aggressives Verhalten. Auch bei dieser Klientel können Ängste, Depressionen und oft auch Scham und Schuldgefühle zentrale Symptome darstellen. (vgl. Decker-Voigt, 2005)

2.6 Behandlungsansatz

Die Musiktherapie mit sexuell missbrauchten Kindern wurde vor dem Hintergrund von Daniel Sterns Entwicklungspsychologie betrachtet. Anhand seiner Theorie könne ge- zeigt werden, dass mit musikalischer Improvisation auf eine Form der Kommunikation zurückgegriffen werden kann, die meist vor der Traumatisierung stattfand und somit als Ressource mit direkten Affektgestaltungen dient. Behutsame Re-Inszenierungen der traumatischen Situation in einer ressourcenträchtigen Frühsprache zeichnet die Klien- tInnen-zentrierte, tiefenpsychologisch-phänomenologische Herangehensweise der Mu- siktherapeutinnen des Hamburger Forschungsprojektes aus.

Da die Angehörigen häufig in irgendeiner Weise in die traumatische Situation involviert und/oder der ständigen Konfrontation mit diesem Thema ausgeliefert waren und somit auch Unterstützung benötigten um zu der Thematik und zum Kind einen adäquaten Zu- gang und Umgang zu finden, wurden parallel zu den Kindertherapien Beratungen und Eltern- und Familiengespräche angeboten.

Das Heidelberger Musiktherapie-Manual setzt an George Engels bio-psycho-sozialem Modell an6. Die Ätiologie der Migräne ist hier ein komplexes Geflecht aus pathophysio- logischen Vorgängen (vermutlich auch hereditär), psychologischen Einflussfaktoren - wie die gehemmte Expressivität, Ängste, Zwanghaftigkeit, starke Außen- und mangeln- de Innenwahrnehmung - und aus sozialen Bedingungen. Da hierbei besonders der fami- liäre Rahmen eine Rolle spielt („Schmerzfamilie“7, Leistungsdruck durch die Eltern, chronischer Schmerz als Funktion der Konfliktvermeidung in der Familie oder die Per- sistenz des Schmerzverhaltens aufgrund positiver oder negativer Verstärkung durch die Bezugspersonen) wurden auch in diesem Behandlungskonzept die Eltern durch regel- mäßige Beratungen und Familiencoaching in den Therapieprozess integriert (vgl. Leins, 2006, S. 137).

Das hier angewandte schulenübergreifende musiktherapeutische Behandlungskonzept wurde von Heidelberger MusiktherapeutInnen, PsychologInnen und ÄrztInnen entwi- ckelt und wird als künstlerische Psychotherapie verstanden.

2.7 Rahmenbedingungen

Die manualisierte Musiktherapie für Kinder mit Migräne wurde in einem ansprechen- den und kindgerecht gestalteten Raum in der musiktherapeutischen Ambulanz der Fachhochschule Heidelberg durchgeführt. Ausgestattet war er mit dem „für die Musik- therapie üblichen Instrumentarium an Melodieinstrumenten (Vibraphon, Klavier, Streichpsalter, Gitarre etc.) und Rhythmusinstrumenten (Konga, Djembe, Gong, Mono- chord, Schlitztrommel, Bassklangstab, Rassel, Tambourin)“ (Leins, 2006, S. 138). Fünf verschiedene TherapeutInnen führten die Behandlungen durch, „um die Variable ‚The- rapeutenpersönlichkeit’ als Einflussgröße kontrollieren zu können“ (Leins, 2006, S. 234). Das Familiencoaching erfolgte ebenfalls in der musiktherapeutischen Ambulanz im Abstand von vier Wochen. Ebenso regelmäßig untersuchten und berieten die am Forschungsprojekt beteiligten Ärzte und Psychologen die PatientInnen und deren Ange- hörigen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Abteilung sorgte außerdem für die körperlichen und psychiatrischen Voruntersuchungen, die Schmerzanamnese, die Betreuung der Medikamenten- und der Placebogruppe während der Therapiephase und für die Datenerhebung, das -management und die -analyse. Für die Qualitätssicherung des Forschungsprojekts (im Sinne von Supervisionen der TherapeutInnen, wöchentli- chen Teamsitzungen der Therapeuten und Ärzte, monatlichen multidisziplinären Patien- tInnen-Besprechungen und der Projektkoordination) war das Deutsche Zentrum für Musiktherapieforschung zuständig.

Die Aufgabenverteilung im Rahmen des Kooperationsprojektes in Hamburg wurde fol- gendermaßen strukturiert: Durch die Mitarbeiter von Dunkelziffer e.V. erfolgten die Vorgespräche, Angehörigenberatung und die Öffentlichkeitsarbeit. In einer Praxis in Hamburg-Altona8 arbeiteten die beiden Diplom-Musiktherapeutinnen Gitta Strehlow und Sabine Mitzlaff - beide ausgebildet an der Hochschule für Musik und Theater Ham- burg9. Die durch Dunkelziffer e.V. gestellte Praxis bestand aus Therapieraum, Warte- zimmer und Büro. Auch hier wurde großer Wert auf eine kindgerechte Gestaltung und ansprechende Einrichtung gelegt. Musikinstrumente verschiedener Größe, Klang- und Spielmöglichkeiten, ein CD-Spieler und ein Aufnahmegerät sowie spieltherapeutische Materialien und Malutensilien sorgten für ein breites Angebotsspektrum.

Die kontinuierlichen fallbezogenen Einzelsupervisionen übernahmen in dieser Zeit ver- schiedene Psychologinnen, PsychotherapeutInnen und MusiktherapeutInnen (teilweise aus der Professorenschaft des Musiktherapie-Institutes). Der Diplom-Kaufmann Khaled Baghban war für die quantitative Erfassung, Analyse und Visualisierung der Therapie- verläufe zuständig. Hans-Helmut Decker-Voigt (Herausgeber der Projektpublikation) übernahm die Projektleitung inklusive Projektsupervision und die Begleitung der schriftlichen Einzelfalldokumentationen.

Zusätzlich fanden im Rahmen dieser Studie für alle Mitarbeiter Reisen zu Fachtagungen und Expertenrunden statt, um eine ständige Reflexion und Weiterentwicklung zu ge- währleisten.

Besonders wichtig bei der Realisierung des Projekts war den Beteiligten, dass die Mu- siktherapie einen Schutzraum für die sexuell missbrauchten Kinder bieten konnte. Des- halb wurde die therapeutische Arbeit von der nichtfachlichen Öffentlichkeit und Presse deutlich abgeschirmt.

2.8 Musiktherapeutisches Konzept

Die musiktherapeutische Arbeit in den Forschungsprojekten verlief nach unterschiedli- chen Konzepten.

Nachdem die Vorgespräche und Voruntersuchungen beziehungsweise die Überprüfung oder Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs durchgeführt wurden, fanden die Erstkon- takte mit den MusiktherapeutInnen statt.

2.8.1 Erstkontakte

Um einen Einblick in das Familiensystem und Hintergründe für die Therapiemotivation zu erhalten, führten die MusiktherapeutInnen beider Projekte zuerst ein Gespräch ge- meinsam mit dem Kind und dessen Begleitern. Daran knüpfte die musiktherapeutische Anamnese, deren Ablauf in der Behandlung der Migräne nicht genauer beschrieben wird.

Während eine der Hamburger Therapeutinnen anschließend ein Elterngespräch zu ge- naueren Hintergründen des Missbrauchs, zu den Therapiezielen und zum Therapiekon- zept durchführte, explorierte die zweite Therapeutin im Nachbarraum zusammen mit der Klientin die Musikinstrumente. Dies mündete meist in eine gemeinsame Improvisa- tion und vermittelte einen ersten Eindruck von dem Umgang des Kindes mit Instrumen- ten und der Musik als Medium. Sprach das Mädchen ausreichend auf Musik an, wurden fünf Probesitzungen vereinbart, auf die der endgültige Entschluss für oder gegen Musik- therapie folgte.

Im Projekt zur Musiktherapie mit Migräne-PatientInnen wurde bereits nach der musik- therapeutischen Anamnese über die Teilnahme an der Behandlung entschieden.

2.8.2 Setting

In beiden Studien fand die Musiktherapie einmal wöchentlich mit jeweils 50 Minuten im Einzelsetting statt. Die Behandlung der Migräne-Kinder folgte einem festen Phasen- verlauf, der sich über zwölf Einheiten erstreckte. Die einzelnen Sitzungen wurden hier auf Video aufgezeichnet und parallel am Monitor verfolgt.10

Die Dauer und der Verlauf der Musiktherapien für sexuell missbrauchte Kinder gestal- teten sich je nach Klientin unterschiedlich. Angestrebt wurden hier Langzeittherapien von etwa 100 Sitzungen, deren Prozess in Tempo und Themen weitgehend das Kind be- stimmte.

2.8.3 Therapieziele

Da es sich bei beiden Studien um Klientel-spezifische Musiktherapieforschung handel- te, konnten entsprechend auch allgemeine Therapieziele formuliert werden.

Klare Intention der Migränetherapie war die Reduzierung der Migräneattacken. Es wird angenommen, dass SchmerzpatientInnen meist einem pain-state (vgl. Leins, 2006, S. 129) verhaftet sind, also in ständigem Schmerzempfinden oder der Antizipation des Schmerzes leben, wodurch die Variabilität in der Aktions- und Reaktionsweise stark eingeschränkt ist. T. K. Hillecke und H. V. Bolay bezeichnen die „musiktherapeutisch bearbeitbaren Einschränkungen“ (Leins, 2006, S. 130) als „erstarrtes Bezugskorrelat“11. Mangelnde Flexibilität in der Selbstwahrnehmung, den sozialen Beziehungen, der Mo- torik und im Zugang zu dem erinnerbaren Wohlbefinden wurde hier als Störungen bei Migränekindern postuliert. Ausgehend davon beschrieb also die Wiederherstellung der Variabilität in diesen Bereichen das zentrale Ziel der Musiktherapie.

Den Musiktherapeutinnen der sexuell missbrauchten Mädchen war lediglich eine Trau- ma auslösende Situation bekannt, mit der jede der Klientinnen mit unterschiedlichen Strategien umgegangen war. So wurden bei diesem Therapiekonzept Symptome weder postuliert noch mit Hilfe eines bestimmten Entstehungsmodells begründet. Vielmehr er- forschten die Musiktherapeutinnen mit jedem Mädchen gemeinsam dessen spezifische Symptomatik. In jeder Therapie stand an erster Stelle, den Klientinnen einen emotiona- len Zugang zu dem abgewehrten Material und einen adäquaten Umgang mit ihrem Trauma zu ermöglichen. Damit gingen gleichzeitig Verbesserungen in der jeweiligen Symptomatik einher, wie beispielsweise die Neugestaltung und Stärkung der Kommu- nikationsstruktur, die Stärkung des Vertrauens in die Erwachsenenwelt, die Förderung der Selbst- und der Fremdwahrnehmung und die Minderung von Schuldgefühlen und Autonomiekonflikten.

2.8.4 Handlungsspektrum

Die Musiktherapie mit sexuell missbrauchten Kindern wurde als offener Prozess ver- standen, in dem jeweils die Klientin Themen und Tempo bestimmte und von der Thera- peutin begleitet wurde. Die größte Rolle spielte hierbei die freie musikalische Improvisation des Mädchens allein oder gemeinsam mit der Therapeutin, da in dieser Interaktion Beziehungsmuster des Kindes deutlich werden. Diese musikalischen Re- Inszenierungen früher Beziehungserfahrungen ermöglichen im therapeutischen Rahmen deren Umgestaltung und schließlich die Erprobung dieser neuen Beziehungserfahrun- gen. Doch auch in Rollenspielen mit der Therapeutin, in Rollenspielen mit Puppen oder Musikinstrumenten als Requisiten bekam die Therapeutin einen Einblick in das Le- bensmuster des Mädchens. Neben weiteren spieltherapeutischen Mitteln wie dem spon- tanen Malen oder Zeichnen, gab es auch die Möglichkeit, CDs zu hören und/oder dazu zu singen oder zu spielen Nach dem Prinzip des szenischen Verstehens (nach Alfred Lorenzer, 1970) vor dem Hintergrund des Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehens wurden diese erlebten Äußerungen und Interaktionen analysiert und versucht, das symbolisierte, aber abge- wehrte Material dem subjektiven Erleben der Klientin behutsam wieder symbolisch o- der verbal zugänglich zu machen. So konnten neue Repräsentanzen gebildet und die Symbolisierungsfähigkeit und somit auch der Handlungsspielraum des Mädchens er- weitert werden.

So spielten also das empathische Sich-Einlassen während der Therapiesituation und die anschließende Dokumentation und Reflexion der Stunde in dieser Behandlungsmethode eine zentrale Rolle, um Zusammenhänge erschließen, das Lebensmuster des Kindes ver- stehen und es beim Umgestalten unterstützen zu können.

Hierbei war die therapeutische Haltung von besonderer Bedeutung und wird in der Pub- likation explizit erwähnt. Das Vermitteln von „Glaub- würdig -keit“ (Decker-Voigt, 2005, S. 28), Wertschätzung, Vertrauen, Autonomie, Initiative und Identität zeichnete die musiktherapeutische Arbeit aus. Realisierbar war dies durch Vermeidung von Über- eifrigkeit, durch Behutsamkeit, Professionalität, Selbstbescheidenheit, Aushalten Kön- nen und „durch das passende Maß, die passende Geduld, den passenden Zeitpunkt und die passende Haltung in der Therapie.“ (Decker-Voigt, 2005, S. 28)

In der Studie mit MigränepatientInnen wurde der Handlungsablauf für die Musikthera- peutInnen durch das schulenübergreifende Phasenmodell von Manfred Lueger (1995) vorgegeben, das bereits umfassend empirisch bestätigt wurde12. Dieses Modell basiert auf der Annahme des „Erstarrten Bezugskorrelats“ und schließt somit auch andere Schmerzursachen und -bewältigungsstrategien aus.

In der ersten Phase (Remoralisierung), für vier Stunden ausgelegt, sollte vor allem Be- ziehungsarbeit, Körperwahrnehmungstraining und auch die Aktivierung von „erinner- tem Wohlbefinden“ (Leins, 2006, S. 142) stattfinden. Durch musikalische Kontaktspiele, Bodypercussion, vibrotaktile Stimulation und rezeptiv-musikalische Klang- und Phantasiereisen mit Entspannungsinduktion war es möglich diese ersten Ziele zu erreichen.

In den folgenden fünf Therapieeinheiten (Remediations-Phase) wurde mit dem Kind am Symptom und an der gehemmten Expressivität gearbeitet. Mittels Symptomimprovisa- tion zur Externalisierung des Schmerzes, musikalischer Flexibilisierung (verschiedene Parameter werden während der freien Improvisationen variiert) und durch Tagtraumim- provisationen oder auch musikalische Familiensymbolisation konnten „neue Spielräume für Erleben, Ausdruck und Selbstregulation […]“ (Leins, 2006, S. 146) geschaffen wer- den.

Die dritte und letzte Phase des verwendeten Modells diente dem Erproben und Imple- mentieren flexibler Erlebens- und Verhaltensweisen. In musikalischen Rollenspielen und Realitätsimprovisationen übte das Kind in drei Therapieeinheiten spielerisch adä- quate Interaktionsformen auf nonverbaler Ebene ein, die ihm in dem abschließenden musikalischen Selbstportrait, neben dem Erkennen und Akzeptieren der eigenen Stärken und Schwächen, bewusst werden konnten (Rehabilitation).

Der Einfluss und die Rolle der individuellen Persönlichkeiten der KlientInnen und der TherapeutInnen gehen aus der Beschreibung dieses musiktherapeutischen Konzepts nicht hervor.

2.8.5 Spezifische musiktherapeutische Wirkfaktoren

„Das Studiendesign erlaubt keine Rückschlüsse über spezifische Wirkfaktoren der Mu- siktherapie. […] Die klinischen Erfahrungen legen jedoch nahe, dass das von Hillecke (2002) entwickelte hypothetische Wirkfaktorenmodell […] ein sinnvolles Erklärungspa- radigma darstellt. Als wesentlichster Wirkfaktor wird hierbei der Zusammenhang von Musik und Emotion angesehen.“ (Leins, 2006, S. 237)

Das Heidelberger Musiktherapiemanual für Kinder mit Migräne beruht demnach auf der Annahme spezifischer Wirkfaktoren der Musiktherapie. Neben kurzfristigen Faktoren beschreibt Hillecke in seinem hypothetischen Wirkmodell folgende längerfristige mu- siktherapeutische Wirkkomponenten bei dieser Klientel (aus: Leins, 2006, S. 136):

Emotionsinduktion, Musikalisch-emotionale Flexibilisierung, Förderung der Imagination, Unterstützung von Suggestion, kommunikative Erfahrung, kreative und motorische Aktivierung, Aktivierung ästhetischer Erfahrung, projektive Distanzierung und Konditionierung durch Musik

Der Titel der Publikation des Forschungsprojekts mit sexuell missbrauchten Kindern deutet die hier angenommene Ursache der Wirkung von Musiktherapie bereits an: „Der Schrecken wird hörbar“. Die Wirkung musiktherapeutischer Behandlung wurde auf der psychoanalytischen Verständnisebene erklärt: Musiktherapie ermöglicht „die Hörbar- machung von Zusammengebrochenem, von Verlorenem, von Scham und verlorener Scham in der sozialen Interaktion - und die Erarbeitung eines neuen Vertrauens im dia- logischen Prozess der präverbalen Kommunikation und ihrer Ressourcen.“ (Decker- Voigt, 2005, S. 16) Die Musik diente in der Therapie also als präverbale Kraft und als Symbolsprache, die im Gegensatz zur Gestalt- oder Kunsttherapie nicht objektivierbar ist (denn Musik verklingt), somit den geschützten therapeutischen Beziehungsrahmen nicht verlassen und dem Kind zusätzlich Legitimation und Sicherheit vermitteln kann.

„Musik tangiert in den Therapien immer jene intrauterinen vorsprachlichen Ressourcen, die meist vor der Traumatisierung ausreifen konnten.“ (Decker-Voigt, 2005, S. 2)

Diese Annahme bekräftigend und ergänzend beschrieben die beiden Therapeutinnen re- trospektiv die besondere Rolle der Musik mit folgenden Schwerpunkten (Decker-Voigt, S. 204 f.):

Musik als Weg aus der Sprachlosigkeit Musik als Raum für gute Erfahrungen Reinszenierungen von Beziehungsmustern in der musikalischen Interaktion Improvisation als Experimentierfeld für Beziehungsmuster Musik als Abwehr

Auch die Musik in Halt und Struktur gebender Funktion wurde erwähnt.

Neben der Musik und der therapeutischen Beziehung wurde hier ein weiterer Wirkas- pekt bedacht.

[...]


1 Dunkelziffer e.V. – Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder: seit 1993 bundesweit operierender gemein- nütziger Verein mit Sitz in Hamburg, der sich durch Beratung, Prävention, Therapie und Fortbildungen und Enttabuisierung durch Medienarbeit für die Opfer und deren Angehörigen und für Menschen, die privat oder beruflich mit dem Thema in Berührung kommen, einsetzt. (http://www.dunkelziffer.de/start_flash.html)

2 Den Probelauf beschreibende Informationen werden nicht genannt.

3 Die in der Veröffentlichung verwendete Bezeichnung „Prä-line“ (vgl. Leins, 2006) wird hier aufgrund der sprachlichen Einheitlichkeit (Englisch) durch die Autorin in „Pre-line“ geändert.

4 Einschluss- und Ausschlusskriterien im Einzelnen: Leins, 2006, S.101

5 Aufgrund der fehlenden Nachfrage von Jungen konnte die Studie nur mit Mädchen durchgeführt werden

6 Bio-psycho-soziales Modell zur Genese und Persistenz von Migräne: siehe Anhang, Schema 1

7 Schmerzfamilien sind Familien, in denen auch andere chronische Schmerzerkrankungen vorkommen

8 2001 wurden die Praxisräume mit der Beratungs- und Geschäftsstelle zusammengelegt.

9 Die Kenntnis der Hamburger Ausbildung als tiefenpsychologisch-phänomenologisch ausgerichtete künstlerische Psychotherapie-Methode wurde als Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Projekt formuliert.

10 Wer die Sitzungen am Monitor verfolgte (andere TherapeutInnen, ÄrztInnen und/oder weitere Projekt- teilnehmer), wird nicht näher erläutert

11 Das Konzept der „gehemmten Expressivität“ von Harald C. Traue und das „Four-stage model of pain- processing“ (J. B. Wade und D. D. Price, 2000) bildeten mit assoziierten empirisch belegten Konzepten den Ausgangspunkt für das „erstarrte Bezugskorrelat.“ (vgl. Hillecke, 2005)

12 Quellen zu dieser Aussage werden (in Leins, 2006) nicht genannt.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Musiktherapie im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis
Untertitel
Kritische Überlegungen auf der Grundlage des Vergleichs zweier Studien mit verschiedenen Forschungsansätzen
Hochschule
Hochschule Magdeburg-Stendal; Standort Magdeburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
91
Katalognummer
V128857
ISBN (eBook)
9783640346028
ISBN (Buch)
9783640345854
Dateigröße
1250 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auszüge aus dem Gutachten: "Exemplarisch stellt sie zwei [...] Studien gegenüber und zieht Schlüsse über die unmittelbare Relevanz der unterschiedlichen Forschungsansätze für die musiktherapeutische Berufsausübung. [...] Sie schafft die Basis für eine Neu-Justierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Praxis einerseits und unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen andererseits. [Autorin,] die sich einen [...] eigenen Standpunkt erarbeitet und dabei schrittweise und transparent vorgeht, sodass dieser individuelle Prozess gewinnbringend nachvollzogen werden kann."
Schlagworte
Musiktherapie, Spannungsfeld, Forschung, Praxis, Kritische, Grundlage, Vergleichs, Studien, Forschungsansätzen
Arbeit zitieren
Friederike Brückl (Autor:in), 2009, Musiktherapie im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128857

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