Kritik des radikalen Pluralismus

Relativismusproblem in einer "postmodernen Welt"


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2009

17 Seiten


Leseprobe


Ahmet Terkivatan

Kritik des radikalen Pluralismus.
Relativismusproblem in einer „postmodernen Welt“

Der Relativismus ist die Abdankung der Philosophie und ihr Tod. Windelband 1891, S. 579 ff.1

Explikation der Fragestellung und These im Geiste
der kritischen Philosophie

Ernst Cassirer hat sich in seinen Arbeiten als ein vorzüglicher Ideentheoretiker hervorgetan. Zahlreiche Fragen und Probleme hat er in ideengeschichtlicher Hinsicht in systematischer Absicht behandelt. Es ging ihm zwar in systemati-scher Hinsicht primär um einen Aufbau der Ideen, ohne aber dabei zwischen der Welt des Gedankens bzw. der Ideen und der Welt der Tat, zwischen Theo-rie und Praxis bzw. Theorie und Empirie sowie zwischen Sein und Werden, Phi-losophie und Wissenschaft u. dgl. eine unüberbrückbare ontologische Differenz oder Kluft zu unterstellen. Vielmehr ist Cassirer ein prominenter Kritiker des di- chotomischen und metaphysischen Denkens, der sich dabei der kritischen Phi-losophie Kants und der Aufklärung verpflichtet fühlt. Von Kant entnimmt er vor allem das kritische Prinzip, das im Primat der Funktion vor dem Gegen- stand besteht und eine logische Auflösung von vermeintlich metaphysischen Gegen-sätzen zur Folge hat. Die vermeintlichen Gegensätze (z. B. zwischen Sinnlich-keit und Verstand) erweisen sich für die kritische Philosophie als „Schein“ und sind nicht haltbar. In methodologischer Hinsicht besteht wie schon bei Kant die Konsequenz aus dieser logischen, funktionalen Betrachtungsweise in der Ab-lehnung eines „methodologischen Reduktionismus“, den Kant unter Bezugnah-me auf die Philosophiegeschichte dem klassischen „Rationalismus“ und „Empi-rismus“ vorwirft, da sie willkürlich ein Prinzip (Verstand oder Erfahrung) hervor-höben und alles andere aus ihm abzuleiten versuchten. Stattdessen ist der me-thodische Ansatz der kritischen Philosophie versöhnend: Die vermeintlichen Gegensätze sind tatsächlich logische Kategorien – Bedingungen menschlicher Erkenntnis. Zwischen den einzelnen Gliedern oder Erkenntnisstämmen (Sinn-lichkeit und Verstand) und Kategorien (z. B. Sein und Werden) gibt es eine le-bendige Korrelation oder Interdependenz.

Dieser methodische Leitfaden ist allgemein für den Neukantianismus und in concreto für Cassirer wichtig. So geht Cassirer davon aus, dass es zwischen der Ideengeschichte und Realgeschichte, zwischen der Welt des Gedankens und der Tat, zwischen dem Aufbau der Ideen, dem Aufbau der staatlichen und der sozialen Wirklichkeit und der historischen und systematischen Erkenntnis sowie zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eine lebendige Wech-selwirkung gibt. Dieses antimetaphysische Grundcharakteristikum der kritischen Philosophie, das in der Annahme besteht, dass es keine fundamentalen ontolo-gischen Differenzen und Dichotomien gibt, besagt im Hinblick auf die „mensch-liche Wissenschaft“ sowie die menschliche Philosophie der Kultur, dass sie auf Grund von zwei verschiedenen „regulativen Prinzipien“ vorgehen müssen – dem Prinzip der „Gleichartigkeit“ und dem der „Varietät“, der Homogenität und der Heterogenität, der Einheit und der Vielheit, des Einen und des Vielen u. dgl.:

„Für das Funktionieren des menschlichen Verstandes sind beide Maximen in gleicher Weise unentbehrlich.“ (Cassirer 2002, S. 13)

Einheit und Vielheit, Prinzip der „Homogenität“ und der „Spezifikation“ „drücken keine fundamentale ontologische Differenz aus“, sondern „repräsentieren eher ein doppeltes Interesse des menschlichen Verstandes“ (vgl. ebd., S. 12). Das Prinzip der Heterogenität (Vielheit) bedarf des Prinzips der Homogenität (Ein-heit) als seines Komplements und umgekehrt. “Pluralismus“ ohne das Prinzip der Homogenität bzw. Einheit im Sinne Heraklits ist Relativismus. „Monismus“ ohne das Prinzip der Heterogenität ist Absolutismus. Philosophie ist deshalb gut beraten, diese Aspekte (zugleich) in ihrer Wechselwirkung zu denken. Wird aber gemäß des methodologischen Reduktionismus die eine Maxime zuguns-ten der anderen aufgegeben, so kann nach Cassirer der menschliche Verstand nicht funktionieren. Der methodologische Reduktionismus ist offensichtlich ein Ausdruck einer fundamentalen ontologischen Entgegensetzung des dichotomi-schen Denkens.

Da wir uns im Sinne Cassirers und wie überhaupt einer jeden wissenschaftlich orientierten Philosophie über die Voraussetzungen der Gegenwart und die aus der Vergangenheit erwachsenen Beschränkungen im klaren sein müssen und wollen, um überhaupt die Zukunft gestalten zu können, möchte ich im Sinne der kritischen Philosophie und ihres kritischen Ansatzes die Frage nach dem allge-meinen geistesgeschichtlichen und kulturellen Zustand der Gesellschaft sowie der Philosophie überhaupt stellen, um mich sodann dem „Relativismusproblem“ zuzuwenden: Spielen denn gegenwärtig die beiden Maximen des menschlichen Verstandes, also die Maxime der Einheit und die der Vielfalt in ihrer lebendigen Wechselwirkung in Philosophie und Wissenschaften sowie in der menschlichen Kultur eine (entscheidende) Rolle?

Zweifelsohne lässt sich konstatieren, dass die Philosophie der Gegenwart plu-ralistisch ist:

„Die Philosophie der Gegenwart befindet sich in einer Phase des Austausches und der Vielfalt, sie ist offener, in ihren Begründungsansprüchen bescheidener und zugleich selbstbewusster geworden.“ (Eden, Nida-Rümelin 1999, S. XXVIII)

Anders formuliert: Ein grundlegendes Merkmal der Philosophie der Gegenwart besteht in der Annahme, dass es Theorien gibt, die gleich kohärent, aber un-versöhnlich sind, die jedoch gleich gut zu unseren Erfahrungsüberzeugungen passen. Auf der anderen Seite aber verbirgt sich hinter dieser sehr zuversichtli-chen Aussage bzw. Feststellung eine „Gefahr“, die sich als eine „Herausforde-rung des Pluralismus“ begreifen lässt2 und die ich wie folgt beschreiben möch-te: In unserer Gegenwart ist der menschliche Verstand in einer „kümmerlichen“ Situation insofern und insoweit die Maxime der Einheit und die der Vielheit im Sinne von Spezifikation und des Rechts auf Differenz in ihrer lebendigen Wech-selwirkung nicht bzw. bedingt nachzuweisen sind. Mit dem begründeten Ver-zicht auf den Absolutismus und auf den Einheitswahn, praktisch begünstigt durch die Annahme, dass es keine allgemeingültige Religion und Moral gibt, und zwar als Folge des Säkularisationsprozesses und des Endes der Metaphy-sik, wurde aber auch auf die Idee der Einheit verzichtet. Das Prinzip der Hete-rogenität gewinnt mit zunehmendem Verlust der Mitte als Folge des Endes von großen Metaerzählungen und des Abschiedes vom Absoluten zunehmend die Oberhand. In der modernen Gesellschaft wurde der Einheitswahn durch den „postmodernen“ Vielheitwahn ersetzt, also durch eine neue Form des Relati-vismus. Der Relativismus wird zwar durch den Rechtsstaat positiv-rechtlich be-grenzt, aber in philosophischer (erkenntnistheoretischer) und kultureller Hinsicht wird das Prinzip der Vielfalt hypostasiert, so dass die Idee der Einheit zuneh-mend aufgegeben wird und abhanden kommt. Sowohl der Relativismus als auch der Absolutismus (Fundamentalismus) lassen sich als Folge bzw. Aus-druck des dichotomischen Denkens interpretieren: Der Absolutismus hyposta-siert die Maxime der Einheit und gibt so die Vielheit zugunsten der Einheit auf. Der Relativismus hingegen hypostasiert die Maxime der Heterogenität oder der Vielheit und gibt so die Einheit zugunsten der Vielheit auf. Der Absolutismus ist dem Einheitswahn verfallen und der Relativismus dem Vielheitswahn. Der Ab-solutismus (in theoretischer und praktischer Hinsicht) führt zur „ Vernichtung des Pluralismus “ (Feyerabend) und der Relativismus zur „ Vernichtung der Einheit “. Was aber ist unter „Relativismus“ im Unterschied zum Pluralismus genauer zu verstehen? Was sind die Kennzeichen des „postmodernen Relativismus“? Wor-in besteht eigentlich das „Relativismusproblem“?

Was ist Relativismus? Über die postmoderne Form des Relativismus. Eine problemorientierte Explikation

Grundsätzlich wird gegenwärtig seit Platon und Aristoteles vom „Relativismus“ in negativer Bedeutung gesprochen, wie die folgenden Beispiele zeigen: „be-liebiger Perspektivismus“ (Hassan 1987, S. 177) oder „resignativer Relativis-mus“ (Abel 1997, S. 41) oder „anarchistischer Pluralismus“ (Koslowski 1986, S. 9) oder „radikale erkenntnistheoretische Indifferenz“ (Zizek 1999) oder „unbe-grenzter, schrankenloser Pluralismus“. Im Kern geht es um ein altes Problem. Die hier drohende geistesgeschichtliche Gefahr des zwar rechtlich, aber geis-tesgeschichtlich und kulturell nicht begrenzten Pluralismus, d. i. Relativismus haben bereits Platon und Aristoteles in kritischer Auseinandersetzung mit dem „Homo-mensura-Satz“ von Protagoras im Kern auf den Punkt gebracht. Nach Aristoteles geht ein Relativist davon aus, dass es nichts Sichereres und Wahre-res gebe (vgl. Metaphysik, 1008a). Aber, wenn es nichts Sichereres und Wah-reres geben kann, dann scheint damit die Lehre (z. B. von Protagoras), welche keinen Unterschied zugibt und nichts im Denken fest zu begrenzen erlaubt, legi-timiert zu sein (vgl. ebd., 1008a). Gibt es also etwas „Sichereres“ und „Wahre-res“? Gäbe es tatsächlich keine „objektiven Unterschiede“ (zum Beispiel zwi- schen Meinen und Wissen, Tag und Nacht) und würden bspw. alle auf gleicheWeise irren und die Wahrheit sagen, so könnte jemand, der dieser Ansicht sei,überhaupt gar nichts aussprechen oder sagen. Denn, so die klassische pragmatischeBegründung Aristoteles’, zugleich sage er ja dies und auch nicht dies:

[...]


1 Damit begründet Windelband die philosophische Axiologie (Wertlehre), die in der Folge von Rickert fortgeführt und weiterentwickelt wird. Dabei geht Windelband von der Vielfalt der Werte und Wertungen aus und verzichtet gerade angesichts eines “resignativen Relativismus” und Pes-simismus des Nihilismus als Ausdruck eines extremen Individualismus (Stirner, Nietzsche) den-noch nicht auf die Idee der Möglichkeit und Notwendigkeit von “absoluten” Werten und Wertun-gen. So schreibt er in seinem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1891): „Die Empörung des schrankenlosen Individualismus gipfelt in der Behauptung der Relativität aller Werte. Nur der Machtwille des Übermenschen bleibt als der absolute Wert bestehen und sanktioniert jedes Mittel, das er in seinen Dienst stellt. Es gibt für den ‘höheren’ Menschen keine Norm mehr, weder eine logische noch eine ethische. An die Stelle der Autonomie der Vernunft ist die Willkür des Über-menschen getreten – das war der Weg von Kant zu Nietzsche, den das 19. Jahrhundert be-schrieben hat. Eben damit bestimmt sich die Aufgabe der Zukunft. Der Relativismus ist die Ab-dankung der Philosophie und ihr Tod. Deshalb kann sie nur weiterleben als die Lehre von den allgemein gültigen Werten. Sie wird sich nicht mehr in die Arbeit der besonderen Wissenschaften drängen [...] Sie hat ihr eigenes Feld und ihre eigene Aufgabe an jenen ewigen und an sich gülti-gen Werten, die den Grundriss aller Kulturfunktion und das Rückgrat alles besonderen Wertle-bens bildet. Aber diese wird sie beschreiben und erklären nur, um über ihre Geltung Rechen-schaft zu geben: sie behandelt sie nicht als Tatsachen, sondern als Normen. Auch sie wird des-halb ihre Aufgabe als eine ‘Gesetzgebung’ zu entwickeln haben, aber nicht als das Gesetz der Willkür, das sie diktiert, sondern als das Gesetz der Vernunft, das sie vorfindet und begreift.“ Ebd., S. 579 f. So charakterisiert Windelband im Anschluss an die Transzendentalphilosophie Kants und seiner Lehre von der Autonomie der Vernunft, aber über sie hinausgehend die Philosophie als Axiologie.

2 Vgl. Sandkühler 2009, S. 122: „Sie (schwache Strategie der Anerkennung, A. T.) akzeptiert das Problem, dass der Pluralismus miteinander konkurrierender, jeweils kohärenter und für wahr ge-haltener Überzeugungen Relativismus nach sich ziehen kann.“

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Details

Titel
Kritik des radikalen Pluralismus
Untertitel
Relativismusproblem in einer "postmodernen Welt"
Autor
Jahr
2009
Seiten
17
Katalognummer
V128742
ISBN (eBook)
9783640346929
ISBN (Buch)
9783640346622
Dateigröße
495 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kritik, Pluralismus, Relativismusproblem, Welt
Arbeit zitieren
Dr. phil. Ahmet Terkivatan (Autor:in), 2009, Kritik des radikalen Pluralismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128742

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