Archaik und Gegenwart in Evgenij Zamjatins "Drakon"

Mythische Darstellung und verschleierte Gesellschaftskritik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

18 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Archaik, Mythos und Ornamentalismus
2.1. Archaische Elemente der Erzählung
2.2. Die mythenhafte Darstellung des Rotgardisten

3. Bezüge zur Gegenwart des Autors
3.1. Zamjatins gesellschaftskritischer Anspruch
3.2. Der Rotgardist als Verkörperung des Unberechenbaren
3.3. Das revolutionäre St. Petersburg
3.4. Die Straßenbahn als Verkörperung von Mechanik und Urbanität

4. Zusammenfassung

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Nachschlagewerke

1. Einleitung

Der ornamentale Stil der Kurzgeschichte Drakon ermöglicht durch die mythische Darstellung des Drachen die kritischen Ansichten des Autors zu verschleiern. Da eine direkte Kritisierung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung fatale Folgen gehabt haben könnte, stellt sich die stilistisch eigensinnige Entwicklung des Autors als vorteilhaft für sein persönliches Schicksal heraus. Im vorliegenden Referat soll somit durch eine Analyse stilistischer und inhaltlicher Auffälligkeiten sowie der politischen und gesellschaftlichen Ansichten des Autors erörtert werden, inwiefern der ornamentale Stil und der gesellschaftskritische Inhalt der Erzählung Drakon miteinander verknüpft sind.

Darüber hinaus bezieht sich der Begriff der Archaik auch auf das von primitiven, ursprünglichen Bedürfnissen geleitete menschliche Handeln und bildet damit eine Opposition zum rationalen Denken und modernen Ideologien der Gegenwart. Dieser Gegensatz wird bereits in der zum früheren Werk Zamjatins zählenden Kurzgeschichte Drakon deutlich, findet allerdings noch stärkeren Ausdruck in späteren Geschichten wie Attila, My oder Peščera.[1] Auch in Ostrovitjane und Lovec čelovekov wird eine archaische, also vorrationale und triebhafte Existenz als eine Art Gegenmodell zur rationalen Welt dargestellt.[2] Die vorliegende Arbeit berücksichtigt diesen Aspekt im Rahmen des für die Kurzgeschichte Drakon relevanten Umfangs. Zur Recherche nach relevanter Sekundärliteratur wurde der Campuskatalog der Universität Hamburg, die online Bibliographie MLA und die im Rahmen des Seminars von Herrn Professor Schmid zur Verfügung gestellte Zamjatin Bibliographie berücksichtigt.

2. Archaik, Mythos und Ornamentalismus

Der Begriff der Archaik steht in engem Zusammenhang mit den mythopoetischen Darstellungsverfahren des Ornamentalismus und ist sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form der Geschichte Drakon anwendbar. Das Verfahren der Ornamentalisierung enthält eine Reaktivierung mythischen Denkens, bei der sich die lineare und zyklische Weltordnung durch Interferenzen überschneiden. Diese mit Filigranarbeit zu vergleichende Technik der ornamentalen Prosa wandte Zamjatin in seinen Erzählungen bis etwa 1918 an. Das Kunststück ergibt sich dabei aus der Komposition einzelner Details, komplizierten Vokabulars, Bildern und Vergleichen, ungewöhnlicher Syntax und besonders strukturierter Wortmusik.[3] Darüber hinaus wird im Gesamtwerk Zamjatins eine Tendenz zum Primitiven und Prärationalen deutlich, eine Vermeidung rationaler Aussagen zugunsten von Eindrücken, Andeutungen und Bildern, die in einer möglichst einfachen Sprache frei von syntaktischer Komplexität übertragen werden.[4] Den Essays Zamjatins ist zu entnehmen, dass in der neuen Epoche auch die Darstellung der Wirklichkeit neu definiert werden müsse. Wirklichkeit sei demnach weder mit dem Realismus eines Tolstoj noch mit der spekulativen Träumerei der Symbolisten zu erfassen. So fordert er den „Neorealismus“ als neuen Stil der Epoche, unter dem er eine Mischung aus Realismus und Phantastik versteht.[5] Im resultierenden Stil des Ornamentalismus unternimmt Zamjatin den Versuch der Darstellung einer "realistischeren" Realität durch Phantasie und Verzerrung, neigt zu einem impressionistischen Stil und dem Gebrauch volksdialektaler Sprache.[6] Letzteres verdeutlicht den Gegenwartsbezug, der trotz des stilistischen Widerspruchs zu ungewohnt poetischen Verfahren des Ornamentalismus erfolgreich in die Geschichten eingebettet wird.

Ein deutliches Charakteristikum der russischen Moderne ist die Abkehr vom Realismus und der damit verbundenen rationalen Erfassung der Realität. Die nachsymbolistische Avantgarde, zu der auch Zamjatin gezählt wird, zeichnet sich dementsprechend durch ein vorrationales, triebhaftes Weltmodell aus, das starke Bezüge zum mythischen Denken deutlich macht: die archaische Existenz des primitiven Menschen, mit all seinen körperlich-triebhaften Bedürfnissen und einem vorzeitlich-naiven Weltbild. Die mythischen Elemente der Avantgarde zielen jedoch nicht auf Heldensagen oder ähnliches, sondern in erster Linie auf eine archaische Bewusstseinsstruktur, die eine Opposition zum rationalen Denken bildet. Eine parallele Erscheinung der Mythifizierung ist die ikonartige Auffassung des Wortes, die völlige Deckungsgleichheit von Wort und Inhalt, die das Wort in der avantgardistischen Wortkunst als "objektive Realität mit selbständigem Eigenwert" (Veselov S. 2) erscheinen lässt. In häufig auftretenden Klangwiederholungen, Rythmisierungen, Leitmotiven, Metaphern und Äquivalenzen findet diese Poetik starken Ausdruck und entspricht der mythischen Vorstellung des magischen Eigenwerts des Wortes. Auch die thematischen und phonetischen Wiederholungsmuster korrespondieren mit dem mythischen Prinzip der Iterativität.[7]

Im nächsten Abschnitt sollen die hier genannten Stilmittel des Ornamentalismus mit Bezug auf die Kurzgeschichte Drakon beispielhaft verdeutlicht werden.

2.1. Archaische Elemente der Erzählung

Obgleich der Schauplatz der Geschichte im ersten Satz als Sankt Petersburg enthüllt und damit in die reale Welt übertragen wird, so werden vom selben Moment an deutliche Bezüge zu einer phantastischen, mythischen Welt deutlich, die sich im Verlauf der Geschichte vermehren. Die beschriebene Synthese unerbittlicher Kälte und fiebriger Hitze betont die mythische Atmosphäre der realen Welt der Gegenwart, die durch die Personifikation der Stadt im Nebelschleier zusätzlich verstärkt wird. Petersburg phantasiert im Fieberwahn, zeigt also Kennzeichen der Wahrnehmung eines Kranken. Wahnsinn und Fieberwahn sind auch in der späteren Geschichte Zamjatins Lovec Čelovekov deutliche Motive archaischen und irrationalen Denkens und Handelns.[8] Die mythische Vorstellung eines feuerspeienden Drachen, jedoch auch die unbegründete Ermordung eines Bourgeois, sind stark mit der Thematik von Wahnsinn und Fieberwahn verwandte Bilder.

Die widersprüchliche Darstellung der Wetterverhältnisse verstärkt den Zusammenhang von Archaik und Mythos und deutet zugleich eine bedeutsame Fusion an, die die Atmosphäre der Skizze ausschlaggebend verändert: der archaische Einfluss des Wetters[9] bewirkt, dass die verwirrende Koexistenz schließlich zum Verschmelzen der irdischen Welt mit der Fieberwelt führt und die Grenzen zwischen Realität und Mythos endgültig verwischt werden. Das Ergebnis ist die vollkommene Substitution der realen Welt durch die entgleiste und mythische Welt.

Die ornamentalistischen Stilmittel Klangwiederholung, Leitmotiv und Metapher entsprechen dem mythenhaften Sprachverständnis und machen auch inhaltlich Zusammenhänge zu archaischem und damit irrationalem Verhalten deutlich. So weist „ljuto“, das erste Wort der Geschichte eine klangliche Nähe zum später erwähnten Begriff „ljudi auf und deutet eine Dichotomie von Menschlichkeit und Grausamkeit an. Besonders im ersten Satz, generell jedoch auch in der gesamten Geschichte fallen eine Vielzahl von l- und r-Lauten auf, die phonetisch beide das Merkmal der Liquidität aufweisen. Diese allgemein auffälligen Laute lassen ein Gefühl stilistischer Geschlossenheit entstehen und unterstreichen den mechanischen Rhythmus der Erzählung. Charakteristisch ist ebenfalls die enorm häufige Wiederholung des Wortes „tuman“, durch die die Allgegenwärtigkeit von Dunst und Nebel, aus dem die Drachenmenschen hervortauchen, betont wird. Die Vorstellung einer glühenden Fieberwelt („gorel i bredil“, „gorjačečnoe“, „iz bredovogo mira“), die der Ursprung der Drachenmenschen zu sein scheint und im starken Kontrast zum Nebel steht, ist ebenso ein wiederkehrendes Motiv der Geschichte. Die variiert wiederholte Beschreibung der Straßenbahn ist ein besonders bedeutungsvolles Leitmotiv der Geschichte und soll daher in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit ausführlicher dargestellt werden. Das Szenario der von Nebel umgebenen Straßenbahnhaltestelle macht ein häufiges Kompositionsprinzip Zamjatins deutlich, das verbesserte Möglichkeiten der Metaphorisierung enthält: die Isolierung des Schauplatzes und Einengung auf einen formelhaften Raum. Erst diese Verschiebung des Schauplatzes ins Phantastische ermöglicht die Verschmelzung der realen Welt mit der mythischen. So vermag auch der im Titel enthaltene Drachen eine Verbindung zwischen mythischem Monster und archaisch-urtümlicher Schreckgestalt und gegenwärtig präsenten Soldaten herzustellen. Das Verhalten des Soldaten wird, seinem metaphorischen Pendant entsprechend, als zerstörerisch, unberechenbar und letztlich als irrational dargestellt. Da die Rolle des Drachen bzw. Rotgardisten im Rahmen der skizzenhaften Kurzgeschichte von zentraler Bedeutung ist, soll auf die Darstellung seiner Figur ebenfalls gesondert eingegangen werden.

2.2. Die mythenhafte Darstellung des Rotgardisten

Die Hauptfigur der Geschichte wird bereits im Titel metaphorisch angedeutet: der Rotgardist wird als Drache bezeichnet, wobei die geteilte Eigenschaft zerstörerischer Unberechenbarkeit die Basis der Metapher bildet. Die Darstellung der Person zeigt somit archaische Strukturen, da durch das Auslassen von Vergleichsworten eine reale Identität entsteht.[10] Diese mythische Metamorphose und archaisierende Identifikation führt zu dem Schluss, dass der Rotgardist nicht wie ein Drache ist, sondern buchstäblich einen Drachen darstellt. Hierin wird die im Ornamentalismus allgemein verbreitete Tendenz der Dehumanisierung deutlich, da der Soldat nicht primär als Mensch, sondern als Tier dargestellt wird. Erst die Erwähnung seines Gewehrs und des Soldatenmantels machen deutlich, inwiefern die Metapher einen Bezug zur Realität hat. Die deutliche Klangwiederholung und Anapher in der Beschreibung der Kleidungsstücke („pustoj kartuz, pustye sapogi, pustaja šinel’“) betont jedoch ausdrücklich die phantomhafte Erscheinung und Identitätslosigkeit des Rotgardisten. Er wird mit einem Drachen gleichgesetzt und hat als Rotgardist keine individuellen Züge. Im Vordergrund liegen demnach die Charakterzüge, die er mit dem Drachen teilt. Das rätselhafteste und bedeutungsvollste Element der Geschichte ist das widersprüchliches Verhalten des Rotgardisten. Im ersten Moment brüstet er sich mit dem kaltblütigen Mord an einem Zivilisten und schützt kurz darauf einen jungen Vogel vor dem Erfrieren.[11] Diese Wandlung vom Mörder zum Tierfreund wird im vierten und fünften Absatz der Geschichte durch eine Metamorphose angedeutet: nachdem er vom Mord am Bourgeois berichtet hat, schließt sich sein Mund und er scheint sich in Luft aufzulösen, da nur die leere Mütze, die leeren Stiefel und der leere Mantel zurückbleiben. Plötzlich sprießen jedoch rote Drachentatzen aus dem Mantel, und aus dem Nebel materialisiert sich ein frierender Spatz in der Hand des Drachen, woraufhin das vermeintliche Ungetüm mit seinem warmen Atem erfolgreich versucht, den Vogel zum Leben zu erwecken. Der nächste Satz erwähnt scheinbar beiläufig, dass das Gewehr des Soldaten, sein modernes, rational zweckbezogenes Werkzeug, auf dem Boden liegt. Die im Gesamtwerk Zamjatins auffällige mythische Gleichsetzung von Menschen und Gegenständen kann bewirken, dass der Verlust eines Gegenstandes zu einer signifikanten Wesensveränderung der Person führt.[12] Ohne sein Gewehr kehrt der Soldat zurück zum Urinstinkt der Nächstenliebe und zeigt ein geradezu kindliches Interesse an einem frierenden Spatzen. Das Gewehr lässt sich somit als eine Verkörperung des ideologisch gefärbten Hasses und der Zerstörungswut des Soldaten verstehen, die ihm fremd werden, sobald sein Tötungswerkzeug nicht mehr an seinem Körper anliegt. Die Metamorphose bringt folglich die zweite, gute Seite des Drachen zum Vorschein und weist auf seine Doppelmoral hin. Sein Handeln macht darüber hinaus eine weitere Tendenz des Ornamentalismus deutlich, die Tendenz des Primitivismus und Vitalismus. Hass und Liebe sind zwei der primitivsten Ureigenschaften des Menschen, die sich als die unterschiedlichen Motive für das widersprüchliche Verhalten des Rotgardisten verstehen lassen. Die Darstellungsweise der Prosa Zamjatins macht deutlich, dass der Fokus nicht auf Erzählung, sondern auf Demonstration liegt. Anstatt einen Charakter durch konventionelle er-sie-es Erzählung zu beschreiben, bevorzugt Zamjatin, Personen durch ihr Handeln darzustellen oder durch eines von drei oft gebrauchten Verfahren: der metaphorische Vergleich (für gewöhnlich mit einem Tier), eine auffällige körperliche Eigenschaft oder ein schmückendes Beiwort („epithetic attributive“).[13] Der metaphorische Vergleich wird im Falle Drakon s bereits im Titel vorweggenommen, und auch ein schmückendes Beiwort lässt sich für die Hauptfigur der Geschichte identifizieren: im vorletzten Absatz wird der Rotgardist als „Begleiter ins Himmelreich“ (provodnik v carstvie nebesnoe) charakterisiert, bezeichnenderweise in exakt dem Moment, in dem er sein Gewehr aufhebt. Dadurch entsteht ein Hinweis zum gegenwärtigen Militarismus durch ein mythisches Vergleichsbild.

[...]


[1] E. Brown, 1963 S.31.

[2] S. Veselov, 1988 S.4.

[3] G. Leech-Anspach, 1976 S.97.

[4] E. Brown, 1963 S.33.

[5] G. Leech-Anspach, 1976 S.32.

[6] E. Brown, 1963 S.32.

[7] S. Veselov, 1988 S.1-3.

[8] S. Veselov, 1988 S.107.

[9] S. Veselov, 1988 S. 86.

[10] S. Veselov, 1988 S.56.

[11] L. Scheffler, 1984 S.210.

[12] S. Veselov, 1988 S.67.

[13] A. Shane, “Zamjatins Prose Fiction.” 1968 S.17.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Archaik und Gegenwart in Evgenij Zamjatins "Drakon"
Untertitel
Mythische Darstellung und verschleierte Gesellschaftskritik
Hochschule
Universität Hamburg
Note
2,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
18
Katalognummer
V128327
ISBN (eBook)
9783640346868
ISBN (Buch)
9783640347070
Dateigröße
495 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Archaik, Gegenwart, Evgenij, Zamjatins, Drakon, Mythische, Darstellung, Gesellschaftskritik
Arbeit zitieren
Jascha Walter (Autor:in), 2008, Archaik und Gegenwart in Evgenij Zamjatins "Drakon", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128327

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